Fünf Wochen vor den Europawahlen trafen wir Victor Weitzel in der forum-Redaktion zum Gespräch über die außen- und europapolitische Ausrichtung der jetzigen und vergangenen luxemburgischen Regierungen. Victor Weitzel war bis 2016 Sonderberater am luxemburgischen Außenministerium und hat dort jahrelang als Chefredakteur die Seite europawww.forum.lu sowie die EU-Ratsvorsitzseiten eu2015.lu und eu2005.lu betreut. Zuvor war er Chefredakteur und Direktor der Tageszeitung Le Quotidien.
Herr Weitzel, Sie beobachten seit vielen Jahren Luxemburgs Außenpolitik. Gibt es in diesem Bereich so etwas wie eine nationale Doktrin?
Victor Weitzel: Es gibt vor allem einen großen Vorsatz. Der heißt Vorsicht, prudence. Das ist ein Begriff, der immer genannt wird. Er meint: Man soll nicht so weit den Kopf rausstrecken, man ist ja das, was man ist, ein kleines Land, und man soll sich natürlich vor allem auf die eigenen Interessen stützen und diese verteidigen. Allerdings hängen die eigenen Interessen eng zusammen mit den großen Freiheiten des Binnenmarktes, also dem freien Personen- und Kapitalverkehr, und Luxemburg ist zuerst einmal sehr stark interessiert am Binnenmarkt. Der Binnenmarkt wird momentan hauptsächlich bestimmt durch Entscheidungen, die mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Was die Steuerproblematik anbelangt, besteht Luxemburg hingegen weiterhin auf dem Prinzip der Einstimmigkeit.
Ein weiterer Punkt der luxemburgischen Doktrin sind sicherlich die Grundrechte. Das sieht man ja sehr stark an den Äußerungen und politischen Aktionen des Außenministers Jean Asselborn hinsichtlich der Entwicklungen in Polen und Ungarn. Im Fall Rumänien sieht das etwas anders aus, wo die rumänischen Sozialdemokraten schwere Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit mitzuverantworten haben. Die meisten der luxemburgischen Sozialisten sind in diesem Fall recht diskret – mit Ausnahme von Marc Angel.
Das ist grosso modo die Doktrin. Früher war in der luxemburgischen Außenpolitik noch ein anderer Aspekt von Bedeutung: Luxemburg hatte sich immer stark eingesetzt, zumindest bei der Ausarbeitung der Verträge für die méthode communautaire. Momentan ist in den Verlautbarungen Luxemburger Politiker allerdings kaum noch mitzubekommen, dass sie sich doktrinär, nachdrücklich und positiv dazu äußern.
Bis wann hat dieses Bekenntnis zur méthode communautaire und zur immer weiteren Vertiefung eine markante Rolle gespielt in der luxemburgischen Außen- und Europapolitik? Wann kam der Bruch?
V.W.: Man hat es bereits gemerkt, als die Aporien in Sachen Steuern ausbrachen. Das geht schon auf die Zeit von Finanzminister Luc Frieden zurück, stillschweigend war das alles mitgetragen durch den damaligen Staatsminister Jean-Claude Juncker. Und seit Gambia schließlich spielt das eigentlich keine Rolle mehr. Erst recht in Steuerfragen will man natürlich keine méthode communautaire, das ist ganz klar, da wird gemauert, und das hat ja auch eine Reihe von Gründen. Seit dem Ende der CSV-LSAP-Koalition 2013 wird auf jeden Fall nicht mehr positiv von der méthode communautaire gesprochen.
Wie erklärt es sich, dass die Vertiefung der europäischen Integration kein Ziel der luxemburgischen Außenpolitik mehr ist?
V.W.: Das erklärt sich dadurch, dass hier ganz vitale, finanzielle, haushaltspolitische Interessen im Spiel sind. Wo die méthode communautaire noch zum Tragen kommt, ist bei den Grundrechten, also etwa in der Flüchtlingspolitik. Aber das verweist auf die doppelte Sprache, die Luxemburg in EU-Angelegenheiten spricht. Luxemburg ist einerseits durchaus ein Land, das sich für die Verteidigung der Grundrechte einsetzt. Und ich glaube auch, dass das ein sympathischer und positiver Zug unserer Europapolitik ist, aber auf der anderen Seite gibt es eben auch diese andere Politik, die mit den Strukturen des Staatseinkommens zu tun hat und natürlich mit den Interessen unserer Wirtschaft.
Bei der Entsenderichtlinie, für die Nicolas Schmit sich sehr stark gemacht hatte, kam die méthode communautaire noch einmal zum Tragen. Nun ist es in der Praxis aber so, dass man bei Entscheidungen, für die im Rat mit qualifizierter Mehrheit gestimmt wird, ein großes Problem bei der Implementierung der entsprechenden Richtlinien in den einzelnen Ländern erleben kann. Und Luxemburg ist ja nicht das einzige Land, dass in dieser Situation eine doppelte Sprache spricht. Wenn man genau hinschaut, sieht man nicht selten ein starkes Autoritätsproblem der EU, wenn es darum geht, europäisches Recht, so wie es eigentlich durch die zwei gesetzgebenden Institutionen konzipiert worden ist, in den Mitgliedsstaaten durchzusetzen.
Sie sprechen von einer doppelten Sprache. Bei den sanften Themen, wie den Grundrechten, sind wir sehr integrationsfreudig, d.h. wir sind für die méthode communautaire. Wenn es jedoch um harte Themen geht, das heißt um wirtschaftliche Interessen, verfolgen wir ganz eigennützig unsere eigenen Ziele. Das ist alles sehr offensichtlich, und man kann kaum von einer hidden agenda sprechen.
V.W.: Also dazu zwei Sachen. Ich glaube, erstens, dass Grundrechte nicht mehr eine sanfte Angelegenheit sind, sondern eine sehr harte Angelegenheit. Die Frage der Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedsstaaten oder der Umgang mit der Migration sind zwei grundsätzliche Elemente, die die nächste Legislatur des Europäischen Parlamentes tiefgehend bestimmen werden. Die Migrationsagenda bestimmt die politische Agenda aller Länder – und polarisiert. Und die traditionellen Parteien, die Liberalen, die Sozialdemokraten, die Christdemokraten, die immerhin auch die Gründerparteien der EU waren und die am besten vernetzten Parteien in der EU sind, haben keine Antworten auf eine ganze Reihe an Problemen, die diese Agenda aufwerfen. Das ist ja der große Grund, weshalb die Rechten, die Identitären und die Faschisten in Europa dermaßen erstarken. Insofern haben wir es mit einem sehr harten Thema zu tun.
Der andere Punkt betrifft die doppelte Sprache. Sie wird zwar schon seit langem, aber nur selten thematisiert, und zumeist von Menschen, die eher einen Gutmenschen-Diskurs führen. Sie ist aber nicht Thema der öffentlichen Abwägung legitimer Interessen, so dass man eben nicht offen sagt, dass wir uns eigentlich in einem System befinden, das für uns eine Reihe struktureller Probleme aufwirft. Dass man das nicht öffentlich zugibt, das ist das Problem. Ich glaube, man kann als kleiner Staat in Steuerfragen nicht einfach so übergehen zur méthode communautaire. Es wurde ja auch schon einiges unternommen, um wenigstens den Finanzplatz ein wenig sauberer zu machen. Wir wissen aber auch, dass die ganze Angelegenheit zum Teil wie der Stall des Augias ist. Immer, wenn ich an den Finanzplatz denke, fällt mir ein Zitat von Balzac aus Le Comte Chabert ein, wo der Rechtsanwalt sagt: « Nos études sont des égoûts qu’on ne peut pas curer ». Nur dass wir eben davon leben, sowie bei Balzac der Rechtsanwalt. Es ist nicht so einfach, vom einen Modell ins andere überzugehen. Es wäre nur schön, wenn man diese doppelte Sprache ehrlicher thematisieren würde. Moralisch hat es momentan gar keinen Sinn, über die doppelte Sprache zu diskutieren, es ist aber wichtig zu wissen, dass es sie gibt. Und man sollte versuchen, eine andere Politik in einer anderen Art und Weise umzusetzen. Sie sollte einen Beitrag leisten zu einer Erneuerung Europas, oder einer Renaissance, wie Präsident Macron formuliert hat. Eine Renaissance brauchen wir, denn eigentlich läuft in Europa momentan vieles auf eine große Gleichgültigkeit hinaus. Das europäische System, wie es sich insbesondere unter der Kommissions-Präsidentschaft von Juncker entwickelt hat, zeigt den Leuten nicht mehr, wie es weitergehen kann, es stagniert, es ist wie ein Fahrrad, das zum Stillstand gekommen ist. Juncker ist natürlich nicht der einzige Urheber dieses Problems, aber, man muss das so sehen, das Projekt steckt momentan in einer sehr großen Krise. Und dennoch ist die aktuelle Wahlkampagne vonseiten der Parteien von einer gewissen Lethargie geprägt. Das öffentliche Interesse und das Interesse in den Parteien sind gering. Ist dies ein Indiz für Gleichgültigkeit gegenüber dem Selbstverständlichen, das so selbstverständlich nicht ist, für politische Blindheit? Oder ein Zeichen für Entfremdung, dass man nicht mehr so richtig daran glaubt und sich kollektiv nicht mehr dazu aufraffen kann, für diese EU politische Konzepte zu entwickeln? Ich glaube, von all dem ist was dran.
Entgleitet Europa den großen Parteienfamilien, die dieses Projekt aufgebaut haben, d.h. den Christdemokraten, den Sozialdemokraten, den Liberalen, und auch den Grünen?
V.W.: Nicht nur das. Es ist auch so, dass die Parteienfamilien ganz stark zerstritten sind. Denken Sie an die CSV. Ihr Präsident sagt, man könnte sich sogar überlegen, ob man überhaupt weiterhin Mitglied der EVP bleiben wolle. Ein solcher Schritt würde für die CSV natürlich bedeuten, nicht mehr europäisch vernetzt zu sein. Das muss man sich mal vorstellen. Das hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass diese Partei die Reflexe einer staatstragenden und europapolitisch stark engagierten Partei im Laufe dieser Kampagne irgendwie verloren hat. Die luxemburgischen Kandidaten einer nicht mehr in der EVP vertretenen CSV wären nicht mehr in der Lage, europäische Themen anzugehen. Ein schlimmes Szenario für die zutiefst europäisch engagierten Kandidaten, die es in dieser Partei ja gibt. Wir haben aber auch ein Problem, wenn die Sozialisten so große Schwierigkeiten haben, in ihrem eigenen Stall mal nach dem Rechten zu schauen, bei den rumänischen Sozialisten beispielsweise. Oder die Grünen, die in ihrer Fraktion der N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie) bis 2014 ein Asyl geboten haben, und das sind Leute, mit denen man eigentlich nichts zu tun haben sollte.
Würde Luxemburg angesichts seiner sehr interessenbezogenen Europapolitik heute noch ein Kandidat für den Karlspreis sein, den es 1986 erhalten hat? Käme heute noch jemand auf diese Idee?
V.W.: Ich finde es sowieso problematisch, den Karlspreis einem Kollektiv zuzusprechen. Ich habe das schon damals eher so hingenommen. Wenn man sich allerdings die Euro-Barometer anschaut, dann sind wir natürlich oberste Spitze, was die Zustimmung zur EU anbelangt. Es ist interessant, sich einmal anzusehen, wo sich die luxemburgischen Umfragewerte stark von denen der anderen Mitgliedsstaaten unterscheiden: Die Wohnungsproblematik steht für die Luxemburger mit 56 Prozent ganz oben auf der Sorgenliste im Eurobarometer. Der EU-Durchschnitt für dieses Thema liegt lediglich bei 11 Prozent. Auch Arbeitslosigkeit und Migration stellen sich laut EU-Barometer als eher geringe Probleme für die Luxemburger dar. Diese Themen sind momentan ausgeklammert aus dem öffentlichen Diskurs. Aber um auf ihre Frage zurückzukommen: Ich glaube nicht, dass es die derzeit wichtigste Frage ist, ob Luxemburg noch den Karlspreis bekommen sollte. So wie es keine kollektive Schuld gibt, gibt es auch keine kollektiven Verdienste.
Wir haben ja auch einen einzelnen Karlspreisträger, das ist Jean-Claude Juncker, wobei ich nicht die Frage stellen möchte, ob er 2006 den Preis verdient hat oder heute noch verdient hätte angesichts der Tatsache, dass er ja auch diese doppelte Schiene verkörpert hat, so wie er seine Politik betrieben oder dem Finanzministerium unter Luc Frieden Rückendeckung gegeben hat. Meine Frage ist eher die: Hat es seit 2013, als Juncker dann nicht mehr Staatsminister war und dann ja ein Jahr später nach Brüssel gegangen ist und wir die neue Regierung unter Bettel bekommen haben, inhaltliche und stilistische Veränderungen gegeben in Hinblick auf die Europapolitik? Hat sich etwas verändert und wenn ja, was?
V.W.: Zuerst einmal muss man die zu Beginn sehr geringe europäische Vernetzung u.a. des Staatsministers ansprechen. Zweitens, auch wenn seine Vernetzung sich natürlich über die Jahre verbessert hat, ist es ein Problem, dass es nicht zu Bettels Stärken zählt, sich in die Dossiers zu vertiefen. Er glänzt durch eine Reihe von Sprüchen, vor und nach dem Rat, aber er ist kein Macher in der europäischen Politik. Er geht manchmal Allianzen ein, und auch er hat so eine doppelte Sprache. Einerseits unterstützt er Macron recht häufig im Europäischen Rat, hat ihn aber andererseits bei seinen großen Reformvorschlägen 2017 nicht so besonders unterstützt. Und er ist sehr beliebt bei den Medien.
Juncker war das auch.
V.W.: Aber der Unterschied ist: Juncker war einer, der Politik auch machte. Er konnte Kompromisse schmieden, weil er die Dossiers aus dem Effeff kannte. Das ist einfach nicht der Fall mit den heute amtierenden Politikern. Das ist ein großer Unterschied.
Gilt das generell für unsere Regierungsvertreter?
V.W.: Man hört ja nichts von ihnen in der europäischen Politik. Wir haben noch etwas gehört von Nicolas Schmit, als er Arbeitsminister war, zum Beispiel bei der Einigung der Benelux-Länder hinsichtlich der Entsenderichtlinie. Er hat sehr viel in dem Bereich Arbeitspolitik getan. Er hatte und hat eine Reihe von Vorstellungen auch als Macher unter den Europapolitikern, eine Reihe von Visionen, was die soziale Dimension in Europa sein könnte. Das ist in ihren spezifischen Bereichen bei den anderen, auch bei Jean Asselborn, der zuweilen sehr laut ist, aber kein Macher ist, einfach nicht mehr der Fall. Ansonsten ist Stille.
Was verstehen Sie unter einem „Macher“? Meinen Sie damit einen Impulsgeber?
V.W.: Ein maker, policy maker. Nicht Macher im deutschen Sinn.
In Europa bedeutet das, Kompromisse zu schmieden.
V.W.: Ja, aber auch, diese moralische und politische Autorität zu haben unter seinesgleichen, auch wenn da natürlich die Dimension unseres Staates mitspielt. Juncker hat nicht nur mit den Großen verhandelt – er war einer der Großen. Das kann man einfach nicht anders sagen. Weil er den anderen Großen etwas vorzuschlagen hatte. Ich denke etwa an den Stabilitätspakt in Dublin. Man hat ja immer gespottet, er wäre der „Held von Dublin“. Aber er war der Held von Dublin! Das muss man auch einmal klar sagen. Und er konnte auf Leute zurückgreifen in seinem Team, die ihm gerne zulieferten, weil es ja auch einen Euro-Enthusiasmus gab. Dieser Enthusiasmus fehlt heute.
Kann man sagen, dass Juncker für das kleine Luxemburg eine Nummer zu groß war? Und dass wir mit der jetzigen Regierung bei normalen Dimensionen angelangt, also in die Wirklichkeit zurückgekehrt sind?
V.W.: Juncker war nicht eine Nummer zu groß für Luxemburg. Er war genau das, was Luxemburg in dem neuen Aufbau von Europa nach dem Vertrag von Maastricht brauchte, um unter den Großen mitzumischen. Er hat ja nicht nur mitgemischt, er hat mitgemacht. Das ist ein großer Unterschied.
Dann anders gefragt: Entspricht nicht das Auftreten von Bettel genau dieser Vorsicht, die Sie ganz am Anfang des Gespräches angemahnt hatten?
V.W.: Das ist eine interessante Frage. Man kann auch vorsichtig sein, indem man „macht“. Und es ist sehr unvorsichtig, als Staatsminister eines kleinen Landes nicht richtig mitzumachen, mitmachen zu können. Denn das schmälert die Fähigkeit eines solchen kleinen Landes, seine Interessen und die von Europa in Einklang zu bringen.
Das Interview wurde am 18. Mai geführt. (JST/lop)
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