Luxemburgs Demokratie in der europäischen Coronakrise
Als die durch das Cornonavirus ausgelöste Pandemie in ihrer ganzen Bedrohlichkeit spürbar wurde, rief die Luxemburger Regierung am 17. März 2020 unter dem Motto „Bleibt zuhause!“ den Notstand aus. Kraft der sich aus diesem Notstand ergebenden sehr weit gehenden Befugnisse der Exekutive, verordnete sie dem Land eine Kontaktreduzierungsstrategie mit dem Ziel, die Seuche einzudämmen. Die damit verbundenen Maßnahmen wurden in einer großherzoglichen Verordnung festgehalten, die am nächsten Tag in Kraft trat.1
Innerhalb von fünf Tagen erhielt die Regierung die Billigung des Staatsrats und die einstimmige Unterstützung der Abgeordnetenkammer für eine gesetzliche Verlängerung dieses Notstands auf drei Monate, also über die von der Verfassung vorgesehenen zehn Tage hinaus. Stellvertretend für alle Abgeordneten brachte es der Berichterstatter, Chamber-Veteran, früherer Minister sowie Kammerpräsident Mars Di Bartolomeo auf den Punkt, als er erklärte, er habe seinen Bericht mit „zitternden Knien“ vorgetragen. Sogar déi Lénk stimmten für das Notstandsgesetz, auch wenn es ihrem Abgeordneten Marc Baum „kalt den Rücken“ hinunterlief. Auch der Regierung war es mulmig, sodass sie dem Parlament Garantien gab, es weiterhin zu Rat zu ziehen. Diese Überschreitung des konstitutionellen Rubikons war aber nur möglich, weil Gesellschaft, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik, zumindest zu Beginn der Krise und in der Not, der Regierung weitreichend vertrauten, obwohl Gambia II lediglich über eine äußerst knappe Mehrheit im Parlament – 31 vs. 29 Sitze – verfügt.
Notstandsmaßnahmen
Die Strategie der Kontaktreduzierung sah vor, dass die Schulen, das Gaststättengewerbe, die kulturellen und sportlichen Einrichtungen sowie alle kommerziellen und handwerklichen Betriebe, die mit Publikumsverkehr verbunden sind, schließen mussten. Ganze Wirtschaftszweige wurden runtergefahren. Nur die lebenswichtigen Gewerbe durften noch weitergeführt werden. Die Bewegungsfreiheit der Bürger wurde auf das Notwendigste beschränkt. Ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung ging ins Homeoffice, ein anderer Teil, in den systemrelevanten Zweigen, deren Liste immer länger wurde, musste weiter auf den Arbeitsplatz, und ein letzter Teil wurde in die Kurzarbeit geschickt, weil keine Arbeit mehr da war.
Die Regierung präsentierte sofort ein breitgefächertes Stabilisierungspaket für die Wirtschaft in Höhe von mindestens 8,8 Milliarden Euro, davon mindestens 1,7 Milliarden Soforthilfen.2 Die markantesten waren: die nicht rückzahlbare und steuerfreie finanzielle Beihilfe für Kleinstbetriebe; rückzahlbare Kapitalzuschüsse, um die Betriebskosten von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), Großbetrieben und Selbstständigen zu decken; ein staatliches Garantiesystem für neue Bankkredite von einer Dauer von maximal sechs Jahren für KMUs, Großbetriebe und Selbstständige, für die der Staat in Höhe von 85 % bei einem Gesamtbudget von 2,5 Milliarden Euro bürgen will; die Finanzierung der durch höhere Gewalt entstandenen Kurzarbeit bis zu 80 %, um Entlassungen zu vermeiden; und auch die Zahlung eines Vorschusses für den außerordentlichen Urlaub aus familiären Gründen, der durch die Schließung der Schulen notwendig wurde und den die Arbeitgeber den betroffenen Eltern weiterhin zahlen müssen. Eine riesige Summe, die zwar nicht nur aus Ausgaben besteht, die aber das Ausmaß des Aufgebots verdeutlichen hilft, wenn man sie in Beziehung zum 2020er Staatshaushalt – 20,9 Milliarden Ausgaben – und zur jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes bringt – 63 Milliarden für das Jahr 2019, aber mehrere Milliarden weniger für 2020. Dieses Paket wurde immer wieder aufgefrischt3, weil immer wieder neue Notlagen erkannt wurden, die durch den von der Regierung ausgerufenen Notstand geschaffen worden waren. Sogar die Verpflegung und die Unterbringung der vielen Obdachlosen wurden in den Plan einbezogen, denn wie sollte man sonst die Maxime „Bleibt zuhause“ nahtlos im Rahmen der Seucheneindämmung durchziehen.
Frontaliers, Requirierung und Grenzschließung
Die wesentlichste neu gewonnene Einsicht, die der Premierminister bei seinen ersten Auftritten vor laufenden Kameras den Einwohnern Luxemburgs eindringlich zu erklären versuchte, war, wie sehr das nationale Gesundheitssystem, in dem über 60 Prozent Grenzpendler beschäftigt sind, von den Fachkräften aus den Grenzregionen, den Frontaliers, abhängig ist. Bis dahin hatten die Regierungsparteien seit dem Frühjahr 2018 über diese Menschen kaum ein Wort verloren, und wenn, dann nur mit abschätzigen Sprüchen.
Dieser plötzliche Sinneswandel ging eng mit der Befürchtung einher, dass Frankreich zur Bewältigung der Krise die in der Région Grand Est ansässigen Pflegekräfte auf sein Staatsgebiet requirieren könnte, weil besonders im südlichen Elsass die Pandemie außer Kontrolle geraten war. Hinzu kam, dass Deutschland infolge der Stellungnahme des Robert-Koch-Instituts vom 16. März, das die Région Grand Est zum Krisengebiet erklärt hatte, unilateral, ohne Absprache mit seinen Nachbarn beschloss, seine Grenzen zu Frankreich und Luxemburg zu schließen. Das führte zu einer großen Verunsicherung, wie es mit den Pendlern aus Deutschland, darunter auch vielen Fachkräften aus dem Gesundheits- und Pflegewesen, bestellt sei. Gesundheitsministerin Paulette Lenert wies ganz unpathetisch, aber nachdrücklich auf die Notwendigkeit hin, einer solchen Bedrohung schnell vorzubeugen und die Sache auf diplomatischer Ebene anzugehen, was für Luxemburg in solch expliziter Form, besonders gegenüber den unmittelbaren Nachbarn, ein Novum war.
Während der Videokonferenz der Staats- und Regierungschefs der EU am 17. März muss Xavier Bettel sehr überzeugend gewesen sein. Die Antwort von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die Frage der Grenzschließung zu Frankreich und Luxemburg fiel nach diesem informellen Europäischen Rat sehr explizit aus und fand sogar den Weg in die Prime Time Fernsehnachrichten. Der volle Wortlaut lohnt sich: „Ich habe noch einmal darauf hingewiesen, dass auch die Bewegungsfreiheit für die Arbeitnehmer gewährleistet sein muss, weil wir uns darauf natürlich verlassen. Der luxemburgische Premierminister hat noch einmal darauf hingewiesen, dass 60 Prozent der Angestellten im Krankenhausbereich und im medizinischen Bereich Menschen sind, die pendeln. Er ist quasi darauf angewiesen, wenn die medizinische Versorgung in Luxemburg funktionieren soll. So ist es eben an vielen Stellen, dass es doch eine sehr hohe Abhängigkeit gibt. Auch das Saarland hat beim medizinischen Personal zum Beispiel starke Abhängigkeiten von französischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Deshalb bemühen wir uns ja darum, dass das reibungslos funktioniert.“4 In anderen Worten: Auch das Saarland war und ist weiter auf französische Pflegekräfte angewiesen. Frankreich aber forderte die Requirierung seines Gesundheitspersonals nicht, was sowohl für das Saarland als auch für Luxemburg beruhigend war, und auch die deutschen Pendler durften weiter nach Luxemburg. Eine Katastrophe wurde im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse abgewendet.
Luxemburg im europäischen Rampenlicht
Die luxemburgische Regierung hat es seither verstanden, sich weiterhin positiv ins europäische Rampenlicht zu rücken. Xavier Bettel hat den von Emmanuel Macron initiierten Brief der neun Staats- und Regierungschefs an den Vorsitzenden des Europäischen Rats, Charles Michel, vom 22. März im Namen der Regierung gegengezeichnet. Damit ergreift Luxemburg Partei und verlässt den Boden seiner diplomatischen Grundregel, die da heißt: „Prudence, prudence“. In diesem Brief unterstreichen die Unterzeichner angesichts der schwierigen Lage in Italien und Spanien die Notwendigkeit, ein „common debt instrument issued by a European institution to raise funds on the market on the same basis and to the benefits of all Member States, thus ensuring stable long term financing for the policies required to counter the damages caused by this pandemic“ auszuarbeiten. Darunter konnte man sich vieles vorstellen, u. a. auch die sogenannten „Corona-Bonds“. Diese letzte Idee wurde postwendend von Deutschland, Finnland und besonders vehement vom Benelux-Partner Niederlande verworfen, die jede Form der Vergemeinschaftung von Schulden ablehnen, während die Unterzeichner in einem gemeinsamen Schuldeninstrument einen Weg zu einer politischeren Union sehen.
Wenig später wurden Patienten aus dem überforderten Grand Est in Intensivstationen in Luxemburg aufgenommen, wofür sich Emmanuel Macron in seiner Rede an die französische Bevölkerung vom 13. April zuerst explizit bei Luxemburg, dann bei Deutschland, der Schweiz und Österreich bedankte. Am selben Tagen schaffte es auch Außenminister Jean Asselborn mit der Überführung und Aufnahme von zwölf unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus den Lagern der griechischen Inseln nicht nur bis in die DLF-Interviews, wo er längst Stammgast ist, sondern mit einem fast vierminütigen Beitrag sogar in die Tagesschau sowie in unzählige Zeitungen. Zuerst belächelt, hatte Luxemburgs Modell europäischer Solidarität plötzlich Vorzeigecharakter.
Auch bei den Rückflugaktionen von EU-Bürgern aus Drittländern zeigte sich die Nützlichkeit einer gut aufgestellten Diplomatie, sowohl was die Zentrale in Luxemburg, ihre Beziehungen zu EU-Partnern als auch die luxemburgischen Botschaften oder Konsulate oder Ehrenkonsulate auf vier Kontinenten vor Ort anbelangte. Dabei galt das Prinzip, dass die eigenen Bürger und die in Luxemburg wohnenden Ausländer gleichbehandelt werden sollten. Über 700 luxemburgische Staatsbürger sowie in Luxemburg ansässige Menschen kamen für Rückflüge in Frage. Das war wegen der Schutzmaßnahmen und Grenzschließungen in den jeweiligen Ländern alles andere als einfach. Die Luxemburger Diplomaten hatten zuweilen den Eindruck, dass man sie und auch die anderen Europäer „wie Aussätzige“ behandelte. Schwierig war es auch, die eigenen und die ausländischen Mitbürger auf einem von anderen EU-Partnern organisierten Rückflug unterzukriegen. Das Luxemburger Außenministerium organisierte zudem einen eigenen großen europäischen Rückflug mit 171 Personen aus den Kapverden, davon 52 Luxemburger oder in Luxemburg ansässige Personen, 52 Deutsche, 42 Belgier, fünf Niederländer, neun Schweizer, vier Österreicher, drei Spanier, drei Franzosen und ein Litauer.5
Nützlich erwies sich die Diplomatie auch bei der Anschaffung von sanitärem Material auf den Weltmärkten. Das Außenministerium beteiligte sich mit Beamten auf höchster Ebene an der vom Gesundheitsministerium dafür eingesetzten Logistik- und Anschaffungszelle und schaltete im „globalen Krieg“ um die Beschaffung seltener Schutzkleidungen, Masken und Beatmungsgeräte auch seine Botschaften ein. Ein außergewöhnlicher Vorgang, wie so vieles in der Krise.
Das Land hält dem Schock stand
Es war aber nicht nur der gut aufgestellte Staat, der sich für Luxemburg in der Krise als vorteilhaft erwies. Auch das Gesundheitswesen hielt den zahlreichen Hospitalisierungen der ersten Welle von COVID-19-Patienten stand. Die Zahl der Intensivbetten war ausreichend. Der Mangel an Schutzmaterial konnte ausgeglichen werden. Die Auslagerung an provisorische Anlaufstellen, die über die Behandlung und/oder (Um)Verteilung von COVID-19-Patienten befinden sollten, erwies sich als eine richtige Entscheidung, die die Krankenhäuser entlastete. Die in Luxemburg beschäftigten Pendler aus dem Gesundheits- und Pflegewesen blieben ihren Teams mit überwältigender Mehrheit treu, sofern ihre Gesundheit oder ihre Familiensituation es ihnen erlaubte. Dasselbe galt für die in der Altenpflege beschäftigten Pendler, die in vielen Fällen schon seit Anfang März unter erhöhten Präventivmaßnahmen in den Alters- und Pflegeheimen arbeiten mussten. Eine große Belastung, denn die verunsicherten alten Menschen waren schon seit Anfang März in ihren Zimmern eingeschlossen und hatten ihre Familien nicht zu Gesicht bekommen.
Über 11.000 Bewohner des Landes haben sich freiwillig gemeldet, um die Behörden auf allen Ebenen zu unterstützen, ein Zeichen, dass die äußerst vielfältige Gesellschaft nicht nur dem Druck der Pandemie standhielt, sondern ihr etwas entgegensetzen konnte und wollte. Dass der chinesische Tischtennistrainer Cheng Xia, wie es das Luxemburger Wort vom 15. April berichtete, mit seinen Sprachkenntnissen und seinem vertrauensbildenden Verhandlungstalent als Freiwilliger im Rahmen des Gesundheitsministeriums durchaus viel bei der Anschaffung von Beatmungsgeräten und anderen Medizinprodukten auf dem hart umkämpften chinesischen Markt erreichen konnte, ist mehr als eine Anekdote.6 Cheng Xias Geschichte, eine von vielen, zeugt von der Vitalität und dem Zusammenhalt nicht ausreichend geförderter Kräfte in einer oft puzzlehaft wahrgenommenen äußerst vielfältigen Gesellschaft.
Trotz des weitreichenden staatlichen Schutzschirms waren und sind Teile dieser Gesellschaft großen Belastungen ausgesetzt in Bereichen, die außerhalb dessen Perimeters liegen. Der Lockdown erwies sich für Familien, besonders für jene mit beschränktem Wohnraum, als schwierig, für Arme und nicht ausreichend mit IT-Material Ausgerüstete sowie insbesondere für eingeschulte Kinder als verheerend. Auf der anderen Seite erwiesen sich die Familienverbände, die Gambia II mit ihren Plänen zur Individualisierung der Steuer de facto negieren will, als die Grundzellen, in denen die Auswirkungen der Krise tagtäglich abgefangen wurden.
Negative Auswirkungen der Abschottung wurden ziemlich schnell öffentlich diskutiert. Häusliche Gewalt, die Gefahr, dass Kinder aus benachteiligten Haushalten schulisch abgehängt werden könnten, mögliche Kündigungen und Arbeitslosigkeit, die Existenzängste vieler kleiner Unternehmen, denen zu Beginn der Krise wenig Rechnung getragen wurde, die Angst vieler Haushalte bis hin in den oberen Mittelstand, bei Einkommenseinbußen die Konsum- und Hypothekarschulden oder schlicht die Miete nicht mehr bezahlen zu können, wurden thematisiert. Nützliche Informationen wurden ebenso schnell verbreitet, damit die Betroffenen eine auf sie zugeschnittene Beratung oder Hilfeleistung suchen könnten.
Der generelle Eindruck des in der Luxemburger Gesellschaft seit Beginn der Krise vorherrschenden Wohlwollens und der Hilfsbereitschaft wurde gerade von Georges Krieger, dem Vorsitzenden der Union des propriétaires, getrübt, als ihm am 24. März von radio 100,7 die Frage gestellt wurde, ob auch sein Verband, einige Gemeinden nachahmend, seine Mitglieder dazu aufrufen würde, während der Krise auf Mieten von stillgelegten Gewerben zu verzichten.7 Seine Antwort war ablehnend, paragraphenreitend. Nur bei andauernder Krise sollten sich seine Mitglieder flexibel zeigen und die ganze Zahlung über mehrere Monate verteilen. Die ganze Verbissenheit der Grund- und Bodenrentiers, deren Haltung – hohe Mieten und Zurückhalten von Bauland, die letztes Jahr zu elf Prozent Wohnpreissteigerungen geführt haben – Luxemburg einen großen Teil seiner Wohnmisere und versteckten Armut verdankt, kam in den schroffen Worten dieses Interessenvertreters, gesetzlich abgesichert, rein rechnerisch und ohne jegliche Empathie, zu Wort, sozusagen als Vorgeschmack auf das, was die Befürworter eines Status quo ante für die Krisenversehrten bereithalten.
Gewiss: Eine Krise zeigt an, was nicht mehr haltbar ist. Aber eine Krise verschärft auch die offenen gesellschaftlichen Konflikte und befördert die latenten zutage. Ungleichheiten und Sackgassen werden sichtbar, aber auch die Solidaritäten, das zivile Kapital, mit dem ein Prozess der Resilienz eingeleitet werden könnte. Sie wirft Fragen über eine eventuelle Neuorientierung einer Gesellschaft auf, deren Beantwortung nicht eine wissenschaftliche ist, sondern aus den politischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnissen hergeleitet wird.
Die Versuchungen des Notstands
Auf einige Fragen, wie es weitergehen soll, versuchte die Regierung schon unter den Bedingungen einer heruntergefahrenen Demokratie zu antworten. So hat sie sich gegenüber der Einführung einer „Corona-App“, die einerseits die Zurückverfolgung von Kontaktpersonen und somit die Unterbrechung von Infektionsketten ermöglichen, durch die Kontaktkontrolle andererseits aber eine Vorbedingung für die Reisefreiheit darstellen könnte, sehr zurückhaltend gezeigt. Die Regierung ist skeptisch, nicht weil sie das Prinzip einer derartigen App als solches ablehnt, sondern weil sie weiß, dass das Know-how beim Staat im Umgang mit einem solchen Instrument unzureichend ist und sie dem Umgang der verschiedenen Anbieter mit den gesammelten Daten nicht ganz traut. Es geht der Regierung nicht nur um die Grundrechte der Bürger, sondern auch um den möglichen Kontrollverlust und den damit verbundenen politischen Bumerangeffekt.
In anderen Fragen hat sich die Regierung aber durchaus von ihrer autoritären Seite gezeigt, was ab dem 20. April immer öfter in der Presse thematisiert wurde. „Autoritarismus“ lautete bezeichnenderweise der Titel des Tageblatt-Leitartikels vom 24. April. Sie hat eine Exit-Strategie angeleiert, ohne die Bevölkerung über die Erkenntnisse zu informieren, auf die sie ihre Entscheidungen stützt, ohne zuerst mitzuteilen, welche Experten in den Task-Forces mitwirken, die jene weitreichenden Maßnahmen entwickeln, die während des Notstands und für die Exit-Zeit verhängt werden. Konsultiert hat sie seit der Ausrufung des Notstands das Parlament nur in den Ausschusssitzungen. Die CSV, größte Oppositionspartei, die immerhin über ein Drittel der Abgeordneten stellt, ging, was direkte Konsultationen anbelangt, ganz leer aus. Der Notstand erweist sich auch als eine Versuchung, seine politischen Gegner aufzureiben. Allerdings hat die Regierung in Sachen Task-Forces am 28. April unter dem Druck von Parteien und Presse eingelenkt.
Aber die Sache geht viel weiter. So wurden die Abgeordneten erst bei der Abstimmung am 18. April von Finanzminister Pierre Gramegna über den gesetzlichen Rahmen für die staatlichen Bankkreditgarantien und Anleihen in Höhe von insgesamt 3 Milliarden Euro für Betriebe unterrichtet, nachdem die Banken, i.e. BIL, Banque de Luxembourg, ING Luxembourg, BGL BNP Paribas, Raiffeisen und Spuerkeess, die damit verbundene Konvention mit der Staatskasse schon am Vortag unterschrieben hatten. Sie erfuhren dann noch, zu ihrem größten Erstaunen, dass zwei chinesische Banken – Bank of China und ICBC – mitmachen wollten. „Bank of China, Bank of China“, raunte es durch die Reihen, und die Blicke richteten sich alle auf Laurent Mosar von der CSV, Mitglied des Verwaltungsrats dieser Bank, der auch für die Gesetzesvorlage stimmen sollte. Mit diesem Überrumpelungsmanöver war die Regierung ganz klar zu einer Politik der vollendeten Tatsachen übergegangen. Die war allerdings auch dadurch möglich, dass man elegant Interessenkonflikte bei einigen Abgeordneten aus der Mehrheit und der Opposition überspielte, ganz in der alten Luxemburger Tradition des institutionellen Inzests. Hinzu kommt, dass Finanzminister Pierre Gramegna, als großer Befürworter des Finanzplatzes Luxemburg als Einfallstor der chinesischen Währung auf die europäischen Finanzmärkte, neuen Abhängigkeiten Tür und Tor öffnet, während ganz Europa sich Gedanken macht, wie es wieder mehr Souveränität gegenüber China in strategischen Bereichen wie Industrie, Technologie und Pharmazeutik zurückerlangen könnte.
Ein anderes Beispiel dieser Überrumpelungspolitik ist die Art und Weise, wie Pierre Gramegna die Anleihen zur Finanzierung der staatlichen Bankkreditgarantien in die Wege leitete. Während CSV-Präsident Frank Engel noch am Morgen des 20. April bei RTL8 für eine Staatsanleihe eintrat, die auch den Bürgern die Möglichkeit geben könnte, ihre Guthaben produktiv und solidarisch in die Krise einbringen zu können, fädelte Pierre Gramegna mit Spuerkeess, BIL, BGL BNP Paribas, Société Générale und Deutsche Bank „joint lead managers“ eine Anleihe von über 2,5 Milliarden Euro zu einem negativen Zinssatz von -0,035 Prozent ein. Als Geldgeber wurden im Communiqué Luxemburger Investoren, vor allem aus der Versicherungsbranche, sowie Investoren aus der Eurozone, Großbritannien und der Schweiz genannt.9
Dass Pierre Gramegna die Bürger mitten in der Krise aus einer Staatsanleihe ausgeschaltet hat, ist keine Bagatelle. Es geht um mehr als einen Ausläufer der Obsession „Finanzplatz first“. Pierre Gramegna führt ungebrochen die Tradition der ordoliberalen Vorstellung seines Vorgängers Luc Frieden fort, der sich Luxemburg eher als eine AG und dessen Gesellschaft als eine im Einklang mit der Wirtschaft verwaltete und mit Zuwendungen befriedete Gemeinschaft von stillen Teilhabern vorstellt. Mit Zuwendungen an die Haushalte mit Kindern, bei denen inzwischen immer häufiger zwei Löhne nicht mehr ausreichen, um Wohnung und Unterhalt ganz zu finanzieren, hat besonders Gambia seit 2016 nicht gegeizt, um diese zu befrieden, aber auch von staatlichen Geldern abhängig zu machen. Man darf sich daher schon ernsthaft die Frage stellen, ob es nicht eine Beziehung zwischen der hohen Frequenz vielfältiger Suchtkrankheiten in Luxemburg und der Vorstellung des Bürgers am Tropf gibt, die in der Not der Coronakrise nochmals ganz neue Dimensionen erreicht.
Wer zahlt die Rechnung?
Wenn die Rezession zuschlägt, muss zuerst die Rechnung der sanitären Krise bezahlt werden. Die versprochenen Steuersenkungen dürften Geschichte sein. Wie und wo Steuererhöhungen vorgenommen werden müssen, wird eine der großen Debatten bei den zu erwartenden unausweichlichen Umverteilungskämpfen sein, in denen Steueroptimierung und Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes immer noch wichtige Parameter bleiben. Luc Caregari warf diesen Sachverhalt schon am 27. März in der Wochenzeitschrift woxx auf: „La classe moyenne ne paiera pas cette nouvelle crise, rasée comme elle l’est depuis celle d’il y a 12 ans. Ce sera donc l’occasion de repenser notre système fiscal, de le rendre plus juste et de faire passer à la caisse les ‚high-net-worth individuals‘(HNWI, der Verf.), qui comme tout le monde profitent aussi de notre système de santé.“10 Gerecht wäre es auf jeden Fall, den Hebel der bestehenden Solidaritätssteuer ab einer gewissen Höhe des Einkommens neu anzusetzen und ebenso eine neu einzuführende, u. U. einmalige oder zeitlich begrenzte Vermögensabgabe auf nicht bewirtschaftete oder direkt persönlich genutzte Aktiva ins Auge zu fassen, die u. a. auch die HNWI erreichen könnte. Horcht man aber ins Umfeld des Finanzministeriums hinein, klingt die Antwort anders: „Wenn wir das tun, sind die morgen weg!“
Hüten sollte die Regierung sich allerdings davor, die individualisierte Einkommensteuer einzuführen. Diese Maßnahme hätte einen verheerenden Effekt auf die zivile Ehe und die eingetragenen Partnerschaften, deren vertragliche Dimension einen rechtlich klar abgesteckten Rahmen für weit über 80 Prozent der Paare bietet, die in Luxemburg zusammenleben und gerade eben von der Krise stark gebeutelt wurden. Anders als Pierre Gramegna zu glauben vorgibt, sind Menschen, die zusammenleben, nicht einfach steuerlich neutral, unabhängig und ganz voneinander getrennt zu betrachten. Dass die Gesellschaft der Krise bis jetzt Stand hielt, hängt auch mit rechtlichen Strukturen zusammen, die Gemeinschaften wie die zivile Ehe und eingetragene Partnerschaften absichern. Niemand sollte allerdings die Regierung davon abhalten, schnell alleinerziehende Eltern zu entlasten, die vor, ganz besonders während und immer noch nach der Krise hart mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, die durch ihre steuerliche Belastung zusätzlich verstärkt werden.
Zwischen Deutschland und Frankreich
Spannend wird nach der Krise auch die Diskussion über die „andere Abhängigkeit“ Luxemburgs sein, nämlich die von den Grenzpendlern. Trotz unkoordinierter Abschottungsmaßnahmen und Grenzschließungen ist Luxemburg dank der Überzeugungskraft des Premiers und der überwiegend guten Beziehungen zu Frankreich und Deutschland noch mit einem blauen Auge davongekommen.
Kommenden Bedrohungen dieser Art muss strategisch vorgebeugt werden, indem sich Luxemburg finanziell, politisch und strategisch stärker in die grenzübergreifende regionale Entwicklung einbringt als bisher. Selbst mit dem besten Willen kann es Luxemburg nicht gelingen, die über 200.000 Pendler auf seinem Staatsgebiet anzusiedeln. Luxemburg muss auch die Loyalität jener Pendler, die in der Krisenzeit der Ansteckungsgefahr am meisten ausgesetzt waren, anerkennen und honorieren. Das sagt viel aus über die Bande, die über die Jahre zwischen den Leuten hüben und drüben entstanden sind. Anstatt von „Abhängigkeit“ zu reden, sollte von einer vertieften Kooperation zwischen Territorien gesprochen werden, die längst wirtschaftlich und in steigendem Maße gesellschaftlich und menschlich zusammengewachsen sind.
Das wird allerdings nicht ohne zielorientierte und konsequente Steuerrückführungen in die Nachbarterritorien gehen. In einem Interview im Lëtzebuerger Land am 24. April deutete die für die Grande Région zuständige Ministerin Corinne Cahen eine noch recht vage, aber von Einsichten gespickte Öffnung an: „Ce qui est certain, c’est que le monde ne sera plus le même après la crise que ce qu’il fut avant. Dans la région, nous avons une conscience beaucoup plus développée de ce que nous partageons et qui dépasse l’idée de l’État-nation. Nous devrons interroger tous les domaines politiques et leur priorité après cette crise, dont nous ignorons toujours combien de temps elle va durer et s’il y aura une deuxième vague. Pour cela, nous allons soumettre tout l’accord de coalition à une analyse approfondie, et j’ai comme l’impression que la Grande Région en sortira grandie.“ Vor über zehn Jahren hatte ihr voraussehender Parteikollege Paul Helminger eine solche strategische Aufwertung der Regionalpolitik auf einen treffenden Begriff gebracht: „Il faut réinventer le territoire.“
Die grenzübergreifende Regionalpolitik spielt sich im Wesentlichen in demselben Raum ab wie die luxemburgische Europapolitik: zwischen Deutschland und Frankreich. Luxemburg ist sehr abhängig von dem, was sich zwischen den großen Nachbarn zuträgt und von ihnen zuweilen unilateral entschieden wird, wie z. B. die rezenten Grenzschließungen und die nicht koordinierten Abschottungsmaßnahmen. Die Zeiten, in denen der luxemburgische Premierminister Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich war, sind längst vorbei. Dass der aktuelle Premier sich im März in lebenswichtigen Angelegenheiten Gehör verschaffen konnte, ist kein Präzedenzfall, auf den das Land strategisch bauen könnte.
Komplexer noch: Die beiden Nachbarn driften immer weiter auseinander. Die Rezession wird Frankreich doppelt so stark treffen wie Deutschland. Die Schere der Staatsschulden geht auseinander. Die erste Welle der Pandemie hat Frankreich stärker in Mitleidenschaft gezogen als Deutschland. Während die Deutschen die Arbeit ihrer Regierung während der Krise mit einer überwältigenden Mehrheit billigen, schmilzt das Vertrauen in die Regierung Macron-Philippe, und das Land destabilisiert sich zusehends. In der EU setzt sich Frankreich für eine Politik der Zuschüsse und wenn möglich der Schulden-Vergemeinschaftung zugunsten der von der Pandemie gebeutelten Mitgliedstaaten ein. Deutschland dagegen ist zwar bereit, das EU-Budget aufzustocken und daraus z. T. zu verteilen und Kredite abzuleiten, lehnt aber bis jetzt jede Form der Schulden-Vergemeinschaftung ab. Deutschland entfernt sich trotz gegenteiliger Behauptungen von einer politischen Union, während die aktuelle französische Regierung die politische Dimension der EU immer stärker unterstreicht. Deutschland versteht sich nur als „soft power“ und neigt immer mehr zu eigenwilligen Entscheidungen, u. a. zum militärischen Rückzug aus den großen strategischen Auseinandersetzungen, die jetzt laufen oder sich ankündigen, während Frankreich in viele tief verstrickt ist, die seine Kräfte übersteigen. Beide Länder sind die Hauptachsen einer gemeinsamen Währung, ohne die Luxemburg als Finanzplatz nicht bestehen könnte. Die erkennbaren Divergenzen zwischen den beiden Großen der EU aber können auf die Dauer den Euro erschüttern.
Luxemburg steckt daher in einer strategischen Zwickmühle. Es ist wie die aktuelle französische Regierung für eine politischere und solidarischere Union, investiert sogar in „hard power“ mit dem strategischen Militärtransporter A400M. Aber wirtschaftlich läuft nichts ohne Deutschland. Ein Weg aus dieser Sackgasse: Da Luxemburg kein Vermittler mehr zwischen Deutschland und Frankreich sein kann, müsste es sich als unumgängliche grenzübergreifende treibende Kraft – Kraft, denn Macht liegt nicht in seiner Macht – in den strukturschwachen Gegenden der angrenzenden Départements Moselle und Meurthe-et-Moselle, des Saarlandes und von Rheinland-Pfalz etablieren. Es müsste mit neuen fiskalischen und sozialen Modellen dazu beitragen, dass das, was regional zusammengehört, im Rahmen der territorialen Integrität der jeweilig implizierten Staaten nachhaltig zusammenwächst, sodass es u. a. nicht mehr zu den befürchteten Grenzschließungen kommen kann.
In Zeiten des Klimawandels, der einen nachhaltigeren Umgang mit den Ressourcen eines gegebenen Territoriums notwendig macht, werden Regionalisierung und Provinzialisierung11, also eine Politik der kleineren Räume, die Sinn ergeben, sowieso eine größere Rolle spielen. Für Luxemburg, dessen Wirtschafts- und Mobilitätsmodell alles andere als nachhaltig ist – zur Erinnerung: Luxemburg hatte den Overshoot Day schon am 16. Februar 2020 erreicht –, tut sich nach der Krise ein Fenster für die Entwicklung einer solchen Strategie auf. Dazu bräuchte es viel Mut, Vorstellungskraft, Zukunftsvertrauen, wohl verstandenen und daher teilbaren Eigennutz, und vor allem: null Überheblichkeit.
Gegen Ende des zweiten Monats der Pandemie und der Ausrufung des Notstandes in Luxemburg besteht das Risiko, dass die eingefrorene Demokratie die starken Kräfte, die nur noch auf eine Wiederherstellung des Status quo ante hinzielen, die Oberhand gewinnen lässt. Die Bankenlobbys fordern ein Moratorium der Steuertransparenz, Industrielle ein Moratorium der Umweltauflagen, verschiedene Bauunternehmen die Neuauslegung vor der Krise abgeschlossener Verträge zu ihren Gunsten. Politische Amtsinhaber lassen sich nicht mehr gerne in die Karten schauen und möchten die Bürger lieber verwalten als mitreden und handeln lassen. Während die Politik institutionell und exekutiv funktioniert, die Lobbys intervenieren, können die Bürger sich nicht mehr versammeln, beraten, geschlossen zur öffentlichen und strukturierten Meinungsbildung und zur Verbreitung neuer Ideen für die Zeit nach der Krise beitragen. Darin liegt eine potenzielle Gefahr für die Zukunft, die auch einige Mitglieder einer durchaus nicht so geeinten Regierung erkannt haben. Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian fand zu diesem Wunsch nach Status quo ante in einem Interview vom 20. April beeindruckend warnende Worte: „Je lis et j’entends que le monde d’après n’aurait rien à voir avec le monde d’avant. Je partage ce vœu, mais c’est de l’ordre de la prédiction. Ma crainte, c’est que le monde d’après ressemble furieusement au monde d’avant, mais en pire.“12 Solch eine Perspektive kann man Luxemburg nicht wünschen.
- http://www.legilux.lu/eli/etat/leg/rgd/2020/03/18/a165/jo (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 26. April 2020 aufgerufen).
- https://tinyurl.com/y9t2l4gc
- https://tinyurl.com/y8asvlcf
- https://tinyurl.com/yaekvxms
- https://twitter.com/MFA_Lu/status/1243203683250208770
- https://tinyurl.com/ycz5dchg
- https://tinyurl.com/ybzgbteq
- https://www.rtl.lu/radio/invite-vun-der-redaktioun/a/1504247.html
- https://tinyurl.com/y7mnm649
- https://tinyurl.com/ycl3emj2
- Siehe dazu Pierre Charbonnier, Abondance et liberté. Une histoire environnementale des idées politiques, Paris, La Découverte, 2019.
- https://tinyurl.com/ycvwsk5t
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
