„Macht doch mal selbst etwas!“

Interview mit Emile Eicher, Bürgermeister von Clervaux und Präsident des Syvicol über Regionalentwicklung im Norden

In Luxemburg gibt es verschiedene Regionen, u.a. das Ösling. Kann man jedoch wirklich von einem Ösling sprechen?

Emile Eicher: Geologisch gesehen schon, aber es gibt auch unterschiedliche Regionen im Ösling. Dieses besteht größtenteils aus Naturparks. Der Versuch, aus den Naturparks Our und Obersauer einen gemeinsamem Park zu schaffen, zeigt, dass die einzelnen Regionen eng verbunden sind. Wir haben festgestellt, dass wir, trotz unterschiedlicher Einstellungen, im Wesentlichen die gleiche Philosophie verfolgen.

Die Reform der Gemeindefinanzen ändert die Verteilung der öffentlichen Gelder für Gemeinden. Gehört der Norden zu den Gewinnern?

E.E.: Im Norden gehört etwas mehr als die Hälfte zu den Gewinnern, während die anderen als Verlierer bezeichnet werden könnten. Landgemeinden hatten in der Vergangenheit einen gewissen Vorteil, da die Fläche stärker berücksichtigt wurde. Das hat sich jetzt verändert: Ausschlaggebend ist nun die Bevölkerungszahl. Der Norden leidet in Zukunft darunter, dass dieser Faktor gegenüber der gesamten Fläche stärker berücksichtigt wird. Die dünne Besiedlung hat einen negativen Effekt auf die Berechnung. Die Gemeinde Wintger z.B. muss künftig mit 17%, Weiswampach mit fast 20% weniger Einnahmen rechnen. Das tut weh, denn verschiedene Ausgaben für z.B. Schulen und Sportinfrastruktur sind schon länger geplant.

Wie beeinflusst dies die Regionalentwicklung?

E.E.: Ich hoffe, dass die Regionalentwicklung nicht geschwächt wird, denn das wäre eine falsche Reaktion. Der Weg nach vorne besteht in der Bündelung der Kräfte. Solidarität spielt eine entscheidende Rolle.

Damit sprechen Sie auch Gemeindefusionen an. Was sind die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Fusion?

E.E.: Die Erfahrung mit der Fusion der Gemeinden Clervaux, Heinerscheid und Munshausen kann als eher positiv angesehen werden und doch war auch hier viel Überzeugungsarbeit nötig. Als wichtige Voraussetzung galt in diesem Fall der Bau einer gemeinsamen Schule: Wo Kinder und Eltern zusammenkommen, entstehen neue Aktivitäten. Im Vorfeld haben wir schon die Feuerwehrgruppen zusammengeführt. Vereine sind meiner Meinung nach ganz wichtig, weil diese, anders als in den Städten, das Zusammenleben sehr stark prägen und soziale Kohäsion fördern. Wenn zusätzlich die Vorteile auf administrativer Ebene belegt werden können, dann klappt das. Sobald es eine kritische Masse gibt, springen eigentlich immer Leute auf den Zug.

Die Fusionsgemeinden waren es gewohnt, zusammen zu arbeiten. In Sachen Zusammenarbeit hat der Kanton Clervaux generell eine lange Tradition, die aus der finanziellen Not heraus entstanden ist.

Gibt es Lehren, die Sie aus Ihrer eigenen Erfahrung gezogen haben?

E.E.: Zuerst ist eine tiefgreifende Analyse der Fusionsgemeinden notwendig. Es stellen sich Fragen wie: Wo gibt es Überschneidungen und Gemeinsamkeiten, auf denen man aufbauen kann, wo gibt es Divergenzen? Insbesondere die gemeinsamen Ziele sind von großer Bedeutung. Es sollte jedoch auch nicht alles hochgejubelt werden. Es ist demnach wichtig, vorhandene Schwierigkeiten zu untersuchen und Lösungen anzubieten. Ungefähr acht Jahre vor der Fusion hatten wir schon einmal angesetzt.

Damals ist das Projekt jedoch gescheitert, weil wir uns nicht ausreichend über den Nachbarn und die gemeinsam zu lösenden Probleme informiert haben. Informationen über Langzeiteffekte, also die Steigerung der Qualität und Effizienz der Arbeit, fördern die Akzeptanz. Letzten Endes sind es diese Gründe, die man hervorheben muss. Oft wird einem auch vorgehalten, dass mit zunehmender Größe die Distanz zum Bürger steigt. Dies mag richtig sein, aber eine gute Organisation kann dem entgegenwirken. Die Zusammensetzung des Schöffenrats ist dabei ein Element: Durch eine optimale Delegation entstehen performante Ansprechpartner.

In der letzten Regierung gab es eine Abteilung, welche die Gemeinden, die eine Fusion planten, unterstützt hat. Das hat ganz gut funktioniert, aber diese Anlaufstelle gibt es nicht mehr, was ich sehr schade finde. Wir haben Fehler bei uns in der Fusion gemacht und dieses Wissen kann geteilt werden. Man muss die anderen, die eine Fusion planen dann nicht auch noch ins offene Messer laufen lassen, sondern kann sie vorwarnen.

2011 wurde angekündigt, dass es bis 2017 nur 71 Gemeinden geben sollte. Wie ist aktuell der Stand der Dinge?

E.E.: Im Moment stehen wir auf Standby in puncto Fusionen. Nur die Gemeinden Rosport und Mompach haben die Absicht, zeitnah zu fusionieren.

Clervaux scheint ein Kanton mit einer besonders starken Identität zu sein. Wie erklären Sie sich dies?

E.E.: Dies ist das Resultat einer langen Entwicklung, die ihren Ursprung in den 1970er Jahren hat. Als der Standort Luxemburg geschaffen wurde konzentrierten sich die Arbeitsplätze zunehmend im Zentrum sowie im Süden. In unseren Gegenden fanden viele Jugendliche keine Arbeit mehr. Dann kam die große Debatte um die Nordstrecke, die Eisenbahn sollte zeitweilig geschlossen werden. In dem Moment sind die Menschen aufgewacht und wussten, dass etwas unternommen werden musste. Damals gab es den Verein „Cliärrwer Kanton“, ein Kulturverein, der die Idee etwas zu unternehmen vorangetrieben und Druck auf die Politik ausgeübt hat. Die ursprünglichen Ideen kamen also mehr aus der Bevölkerung als von der Politik. In einer großen Versammlung, an der die ganze Regierung beteiligt war, forderten die Bürgermeister und Vertreter der Cliärrwer Kanton asbl: „Wenn Sie uns nicht total begraben möchten, dann handeln Sie jetzt.“ Die Antwort lautete: „Macht doch mal selbst etwas!“

Da ist ein gemeinsames Interesse, eine Lobby, entstanden und genau diese Challenge wurde angenommen. Zuerst wurden durch eine Industriezone Arbeitsplätze geschaffen, weil der Bedarf hier am größten war. Später sind Musikschulen entstanden, um ein Angebot für die Kinder zu schaffen. Es wurde sich gegen ein Conservatoire entschieden, weil die Mobilität extrem schwierig war. Damals noch viel mehr als heute. Es war einfacher, das Personal lokal zu den Kindern zu bringen, als umgekehrt.

Sie haben von der Fusion der beiden Naturparks gesprochen. Beide haben eine eigene Identität, die z.B. durch die lokalen Produktpaletten gestärkt wird („Nuddelen vum Séi“ versus „Ourdaller Nuddelen“). Besteht tatsächlich ein Konkurrenzdenken? Inwiefern kann dieses die Fusion ver- oder behindern?

E.E.: Ich denke, dass überhaupt kein Konkurrenzdenken vorhanden ist. Da sich beide spezialisiert haben, kommt es nicht zu Problemen. Ganz im Gegenteil, wir denken sogar darüber nach, den Naturpark Müllertal mit an Bord zu nehmen und arbeiten an einer Strategie, um regionale Produkte gemeinsam zu vermarkten. Ähnlich wie die Österreicher, die uns dies schon vor 20 Jahren mit den sogenannten Genussregionen vorgemacht haben. Deshalb streben wir eine Kooperation mit Kärnten (Bundesland in Österreich) im Bereich der Slowfood-Bewegung an. Ich kann mir gut vorstellen, dass die drei Naturparks zu einer Slowfood-Region verschmelzen können. Aber das ist Zukunftsmusik, da muss noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, um gemeinsam nach außen ein Image einer Region zu schaffen, die sich abgrenzt von dem, was sie umgibt.

Wäre das dann auch Teil einer neuen Tourismusstrategie?

E.E.: Ja. Wir können nicht mit günstigem Urlaub punkten. Fahrradtourismus ist momentan aber sehr beliebt. Um diesen weiter auszubauen, müssen die Fahrradwege unbedingt besser vernetzt werden. Zudem haben wir in Clervaux das rent a city-Konzept eingeführt. Dabei wird ein Teil der Stadt abgeriegelt und für eine Straßenparty genutzt. Der ganze Eventtourismus nimmt dramatisch zu. Es ist ein super Geschäft das sich ganz schnell entwickelt. Besonders Unternehmen zeigen Interesse daran.

Ziehen die Einwohner auf dieser Partytourismusschiene mit?

E.E.: Immer mehr. Ich möchte jedoch nicht leugnen, dass es für die einheimische Bevölkerung, der es manchmal etwas zu schnell geht, durchaus noch problematisch sein kann. Was sie manchmal, und zu Recht, stört, sind die Dauer und der Geräuschpegel dieser Partys.

Das Ösling hat wie andere Regionen auch mit leeren Geschäftsstraßen zu kämpfen. In Clervaux werden teilweise Strategien des Stadtmarketings genutzt, um dagegen anzukämpfen. Worin bestehen diese? Welche Alternative hat man, wenn man wieder Leben in die Städte bringen möchte?

E.E.: Das Hauptproblem besteht darin, dass die Besitzer der jeweiligen Gebäude nicht unbedingt die Betreiber der Geschäfte sind. Alternative Modelle, die den Start neuer Betriebe erleichtern, sind also notwendig. Eine Idee wäre, anfangs eine geringere Miete zu veranschlagen. Wenn die Entwicklung stimmt, kann die Miete nach ein paar Jahren angepasst werden. So kommen nicht alle zwei Jahre neue Betreiber.

Kann man das Profil der Besitzer generalisieren?

E.E.: Nein, diese sind ganz unterschiedlich. Ein weiteres Problem sind die Räumlichkeiten, die letzten Endes doch begrenzt sind. Aktuell sitzen wir zwischen zwei Stühlen. Es gibt einige Betriebe, die gut überleben. Andere sind dabei, aufzuhören oder werden demnächst aufhören. Zudem lehnen die Geschäftsleute Angebote ab, da die Räumlichkeiten nicht groß genug sind. Es ist zu viel und nicht genug. Die Ortschaft ist schön, aber das genügt nicht.

Obwohl 2/3 der Bevölkerung laut einer Studie von Elect (2013) für einen nationalen Wahlbezirk in Luxemburg sind, sprechen sich die Vertreter von Norden und Osten größtenteils dagegen aus. Welches System befürworten Sie?

E.E.: Ich bin dafür, es so zu lassen wie es jetzt ist. Es bestehen große Unterschiede in Bezug auf die Lösungsfindung bei Alltagsproblemen. Wir sehen auf dem Land manches anders als vielleicht jemand aus der Stadt oder dem urbanen Raum. Zudem sind Gemeinden oft der verlängerte Arm der Regierung, beziehungsweise der öffentlichen Administrationen. Es ist wichtig, dass das Sprachrohr der Gemeinde bestehen bleibt. Wir hatten einmal vorgeschlagen, den Gemeinden durch eine Struktur, ähnlich wie die der Regionen im französischen Senat, mehr Mitspracherecht zu geben. Dies bleibt aber weiterhin umstritten. Es sind zu viele Gemeinden. In Luxemburg wurde bis jetzt immer ein sogenanntes „Luxemburger Modell“ gefunden. Ich bin sicher, dass wir auch in diesem Fall einen Weg finden werden.

Insbesondere Bewohner des Nordens sind der Ansicht, dass neun Abgeordnete nicht ausreichen, um gegenüber den anderen Regionen für die Belange des Nordens einzustehen…

E.E.: Das ist relativ. Wie in jedem Verein oder jeder Partei schälen sich immer Leader heraus, die mehr Einfluss haben als andere. Es gibt Politiker aus dem Norden, die sich gut durchsetzen können, genau so wie manche aus dem Osten oder aus dem Süden. Die Herausforderung besteht eher darin, überhaupt bis ins Parlament zu kommen.

Welches sind die großen Herausforderungen des Nordens? Wie stellen Sie sich das Ösling in 20 Jahren vor und wo muss die Politik heute ansetzen, um dies zu verwirklichen?

E.E.: Ich glaube das größte Problem ist der Wohnungsbau. Eine ganze Generation fragt: „Wou solle mir hin?“ Ich kann nicht akzeptieren, dass ich antworten muss: „Setz dich ins Auto und fahre 10km nach Deutschland oder 15 nach Belgien.“ Arbeitsplätze sind eine weitere Herausforderung. Da die Gesellschaft sich rasant verändert, müssen die Politik und die Arbeitswelt sich heute schnell anpassen und flexibel sein. Die Politik muss die Akzente setzen und Strukturen aufbauen, sobald eine neue Entwicklung statt findet.

Möchte der Norden überhaupt wachsen und geht der eigentliche Charakter des Öslings durch das Wachstum nicht verloren?

E.E.: Das hängt davon ab. Die Landbesitzer wollen möglichst viel und möglichst schnell verkaufen und bauen. Meine Kinder sagen jedoch: „Papa, es ist schön so wie es ist, warum möchtest du alles verändern?“ (lacht). Ich denke wir brauchen ein gesundes Wachstum.

Gesund?

E.E.: Gesund. Der Norden hatte jetzt ein Wachstum von 2%. Es ist genug Kapazität zum Wachsen da, ohne enorm expandieren zu müssen. Wachsen um jeden Preis ist aber sicherlich keine Lösung.

Eine letzte Frage: Wo fängt denn für Sie das Ösling an?

E.E.: Das ist eher eine Mentalitätsgrenze. Es gibt einen Unterschied zwischen ländlichen und städtischen Gemeinden. Es würde mich aber freuen, wenn wir nicht so überlegen würden. Wir sind ein ganz kleines Ländchen. Ich habe ein Jahr in Australien gearbeitet, deswegen habe ich eine andere Vision von Distanzen. (lacht) So unterschiedlich sind wir gar nicht. Ich denke, eine Challenge der Zukunft wird sein, nicht eine Region zu definieren, sondern sich auf den kulturell gesehen starken Mix, den es auch in den Dörfern gibt, zu konzentrieren. Das ist wichtiger als zu sagen: „Ich bin Öslinger, Gutländer oder Mouseler“. Es ist gut, wenn man in einer Region zusammenarbeitet. Ich bin froh, dass wir eine multikulturelle Gesellschaft haben und es ist mir wichtig, diese zu stärken. In dieser Gesellschaft soll jeder und jede Region ihren Platz haben.

Danke für das Gespräch!

Das Gespräch wurde am 4.10.2016 geführt. (BM/KN)

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