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Die 68er in Luxemburgs Kunstszene: mehr Brise, als Sturm

Die Ausstellung Summer of ’69 in der Villa Vauban stellt künstlerische Werke von Berthe Lutgen und Mich Da Leiden gegenüber und beschwört die Aufbruchstimmung der 68er. Die „große Revolte“ in der Kunst wirkt rückblickend eher wie eine Windbrise.

Die Kulisse ist filmtauglich, die Botschaft universell. Vor dem Hintergrund eines glänzenden Vorhangs mit Blumen und künstlichem Rasen lümmelt sich eine Gruppe von Künstler*innen in Badebekleidung auf Decken – rauchend, chillend. Die Männer zieren Schnäuzer, die einzige Frau im Kreis der Hippies, Berthe Lutgen, trägt einen Bob-Haarschnitt und sitzt aufrecht im Bikini. Mit We call it Arden and we live in it überraschten die Mitglieder der „Arbeitsgruppe Kunst“ 1968 beim jährlich stattfindenden Salon du Cercle Artistique das Publikum, indem sie sich anlässlich der Ausstellungseröffnung selbst ausstellten. In einem 20 m2 großen tableau vivant inszenierten sie sich fast unbekleidet als lebendes Kunstwerk wie Andy Warhol mit seiner Factory.

Dies war nur eine der Handvoll aufsehenerregenden Kunstaktionen, die Ende der 60er Jahre in Luxemburg stattfanden. Im öffentlichen Raum zog die Künstlergruppe (Collignon, Dickes, Kieffer, Lutgen, Reckinger, Weydert, Wiroth) am 8. Juni 1969 eine weiße Zickzacklinie (Ligne brisée) mit Kreide entlang der Ufer der Petruss und wandte sich damit plakativ gegen jede Valorisierung von Kunst, die auf Dauer angelegt ist. 

In dem offenen Kunstwerk Salle électrique in Prüm (Eifel) füllten Künstler*innen aus Luxemburg einen ganzen Raum mit Elektrokabeln. In dem mit Drähten, Kabelrollen, Werkzeugen, Stehleitern und Schildern ausgeschmückten Kellerraum des Regino-Gymnasiums sollten Glühlampen zum Leuchten gebracht werden. Das Publikum wurde dabei explizit zur Interaktion aufgerufen.

Vom 27. September bis 11. Oktober 1969 organisierte die nunmehr unter dem Namen Initiative 69 agierende Künstlergruppe (bestehend aus Carlo, Collignon, Daleiden, Kieffer, Lutgen, Reckinger, Weydert und Wiroth) die Erste nichtaffirmative cooperative Ausstellung aktueller Kunst“, die in ihrer Zerstörungswut und ihrem Happening-Charakter an Fluxus-Events in New York und Wiesbaden erinnerte. Die Initiative 69 bot eine Mixed-media-show in zwei Teilen an: Zerstörungen I (hot) und Zerstörungen II (cool). „Ziel war es, die damals vielerorts ausgebrochene revolutionäre Gewalt in den Bereich der symbolischen Formensprache, also der Kunst zu übertragen, liest man im begleitenden Text. Das Publikum sollte nicht passiv bleiben, die Norm brechen, und der Abend sollte in einem echten Happening mit unkontrollierter Entwicklung enden. 

Die Ausstellung Summer of ’69 in der Villa Vauban rückt das Wirken dieser Künstlergruppe ins Licht, kreist jedoch maßgeblich um die Werke von zwei AkteurInnen: denen der 1935 in Esch-Alzette geborenen Malerin Berthe Lutgen und denen des 1948 in Luxemburg geborenen Malers und Serigrafisten Michel Daleiden, der heute unter dem Künstlernamen Misch Da Leiden in Düsseldorf wirkt und lebt. Daleiden trat Ende der 1960er Jahre der Luxemburger Arbeitsgruppe Kunst bei, deren Mitbegründerin Lutgen war. Bis Anfang der 70er Jahre standen Lutgen und Da Leiden auch über die Groupe de Recherche d’Art Politique (GRAP) in Verbindung.

Ihre Wege sollten sich jedoch nur während eines kurzen Zeitraums (von 1967 bis 1971) kreuzen, in dem auch die Luxemburger Kunstszene damit begann, die Fesseln der bis dahin dominierenden École de Paris abzuschütteln und mit neuen Ausdrucksformen experimentierte. In der Folge der weltweiten Studentenproteste und der Gründung der maoistischen KBL wie der trotzkistischen LCR wurden auch in Luxemburg Vereine gegründet, die den linken Befreiungskämpfen Rechnung trugen, so 1969 die Action Solidarité Tiers Monde (ASTM) oder etwa 1972 das Mouvement de libération des femmes (MLF).

Zwei zentrale Ereignisse des Kunstbetriebs fallen in das Jahr 1968: die vierte Ausgabe der Documenta in Kassel und die 34. Biennale in Venedig. – Letztere wurde seinerzeit von Polizeikräften gestürmt, weil Student*innen mit Fahnen und Transparenten gegen die Show des internationalen Kapitalismus demonstrierten, so Kuratorin Gabriele D. Grawe. Joseph Beuys sorgte für einen Kunstskandal in Trier, als er mit Student*innen ein Loch in die Außenmauer des Städtischen Museums schlug und dort zwei Dutzend „Heilige Röcke“ anbrachte. 

Die Ausstellung Summer of ’69. Werke von Berthe Lutgen und Misch Da Leiden seit den Jahren der Revolte in der Villa Vauban geht von diesem historischen Moment aus – ohne in dieser Zeit stehen zu bleiben. „Unser Ziel ist es nicht, die Entstehung der Protestkunst in Luxemburg Ende der 1960er Jahre zu illustrieren“, so Museumsdirektor Guy Thewes in der Einführung. Dies sei bereits meisterhaft von Edmond Thill in einem 2011 erschienenen Artikel in der Zeitschrift art et lettres beschrieben worden. Unsere Wahl fiel auf zwei Protagonisten der Kunstszene, einen Mann und eine Frau, auf deren kreativen Weg seit den Jahren der Revolte wir uns in der Präsentation fokussiert haben.“ Die Nachverfolgung des künstlerischen Werdegangs von Da Leiden und Lutgen erlaube das Nachdenken über die Rolle des Protests in der zeitgenössischen Kunst. Was bleibt mehr als fünfzig Jahre später von den Jahren der Revolte?, stellt der Museumsdirektor im Katalog die legitimierende Leitfrage.

Ab den 70er Jahren gingen Lutgen und Da Leiden geografisch wie künstlerisch unterschiedliche Wege, sie blieben jedoch in ihrer Kunst mit der subversiven Kraft der 68er Jahre verbunden, betont Kuratorin Gabriele D. Grawe. 

Bei der Schülerin von Joseph Beuys (1972-1976 studierte sie an der Kunstakademie Düsseldorf) heben sich vor allem die frühen Werke vom Mainstream ab. Insbesondere ihre Beinserie Beine statisch, Beine in Bewegung, Beine live (1969) war ein Statement. In der Villa Vauban wirkt die Serie mit den roten Quadraten und dem Frauenhintern in gepunkteter Unterhose jedoch heute eher poppig als provokativ. „Lutgens Werk [könne] als erstes und damit wichtigstes Zeugnis der feministischen Kunst in Luxemburg betrachtet werden“, schreibt Grawe.

In der Folge gründete Lutgen 1972 das MLF. Sie lässt bis heute keinen Zweifel an ihrem Selbstverständnis: „Mein Schaffen wird durch zwei Aspekte bestimmt. Es ist realistisch, insofern es sich auf die Darstellung der Frau bezieht, der Frau in der Gesellschaft und der Frau in der Kunst. Dieses Grundanliegen gilt für mich unverändert seit Ende der sechziger Jahre. Was den Einsatz der künstlerischen Mittel – den Stil – betrifft, so erlaube ich mir jegliche Freiheit“, liest man auf ihrer Webseite. 

Progressiv nicht nur im Sinne der Bildästhetik stechen vor allem Lutgens Serigrafien hervor. Ihre Collage Leben verläuft nun mal in Kurven, auf der sie eine sexistische Anzeige für Aktien, die einen lasziven Frauenhintern zeigt, der Darstellung einer am Boden putzenden „Hausfrau“ gegenüberstellt, zeigt patriarchale Muster und Sexismus in der Werbung. In der Serigrafie Wer hat Verantwortung? stellt sie eine Werbeanzeige aus dem Spiegel mit nackten Frauen dem Seriendruck (mit Siebdrucktechnik im Stile von Andy Warhols Campbell Soup Cans) von Frauen in Nähfabriken gegenüber und inszeniert sich im Porträt am rechten Bildrand. Ihre Serigrafie Faszination zeige, so die Kunsthistorikerin Stefanie Zutter, dass Lutgen nicht bloß die dargestellten Themen zur Diskussion stellte, sondern das Darstellungsverfahren selbst reflektierte. Zutters Aufsatz zur konzeptuell-realistischen Bildsprache Lutgens im begleitenden Katalog ist in vielfacher Hinsicht erhellend. Darin kontextualisiert sie nicht nur das Werk der Frauenrechtlerin, sondern wirft auch die Frage auf, ob die Rezeption die Einordnung von Lutgen in die Pop Art vernachlässigte, weil sie diese von vorne­herein und an erster Stelle als feministische Künstlerin einordnete. 

Die Schau in der Villa Vauban illustriert die Entwicklung einer Künstlerin, die mit den Jahren in ihren Darstellungen zunehmend figurativer wird. So darf auch das Gemälde La marche des femmes (2017/18) nicht fehlen – ein Protestzug von Frauen aus Luxemburger Politik und Gesellschaft, darunter die Direktorin des Planning Familial Ainhoa Achutegui, die einstige Kulturjournalistin Josée Hansen und die Journalistin Janina Strötgen sowie die Frauenrechtlerin Paca Hernandez. Lutgens Kunst stehe exemplarisch für weibliche Strategien der Selbstermächtigung im Zeitalter der Pop Art, so Zutter. Vergleichbar mit ihren Zeitgenossinnen dauerte es fast ein halbes Jahrhundert, bis die Kunstgeschichte das Werk von Berthe Lutgen nach mehreren Wellen feministischer Kunst in ihrer progressiven Durchschlagkraft und stilistischen Vielfalt gewürdigt hat.

Mich Da Leidens Bilder fallen in der Ausstellung in der Villa Vauban vor allem durch das Verweben von Marken und ihrem grellen collagenhaften Charakter ins Auge. Bedient sich der Künstler in Fließband (1971) noch einer seriellen Technik – dem Geist eines kritischen Realismus folgend, die wie bei einer Dia-Filmrolle Momente der industriellen Arbeit und den monotonen Charakter der Fließbandarbeit einfängt, so werden seine späten Werke exzessiver. Der collagenhafte Charakter ist geblieben. Auf dem Tableau Berlin, neue Mitte (2007) inszeniert sich der Künstler (selbst?) inmitten der gentrifizierten Großstadt, in New York war gestern, Shanghai ist heute (2008) stellt er Impressionen der beiden Metropolen gegenüber, wobei die Stadtikonen in ihrer Ortlosigkeit trostlos wirken. Während er in Autobahn Notturno (2009) eine nächtlich befahrene Autobahn aus der Perspektive des Fahrers zeigt, ragen im Bildhintergrund die Symbole internationaler Großfirmen – wie Shell oder IKEA – hervor. Auch hier ist es eine Passage durch einen wirklich-unwirtlichen Gesellschafts-Raum. Erinnern seine früheren Arbeiten noch an Pop Art, so lässt einen sein Tanz auf dem Vulkan (2020) eher an dadaistische Bildcollagen denken. 

Mehr und mehr trat aber durch die Wahl der technischen Mittel die soziale Anteil- und Parteinahme des Künstlers in den Hintergrund und verlor zugunsten von Distanziertheit und scheinbarer Neutralität ihren deklamatorischen oder polemischen Ausdruck. Waren seine Arbeiten früher kalkuliert, so sind sie heute sowohl kalkuliert als auch konstruiert, so Kuratorin Grawe, die sein Montageverfahren als das Charakteristikum hervorhebt und die These vertritt, dass man Da Leidens Kunst als „typisch luxemburgische“ apostrophieren könnte, da er eine Bildsprache entwickelt habe, die ebenso vielsprachig wie durch ein métissage culturel gekennzeichnet sei. 

In den 80er Jahren werde erkennbar, dass Da Leiden die Bildwelt der Kunstgeschichte auf Formen, Methoden und Techniken hin erforschte, um sich daraus zu bedienen und Elemente für seine Kompositionen zu gewinnen. Besonders interessierten ihn die massenmedial gefilterten Realitätssplitter, die er in seinen Werken kontrastierend und verdichtend zusammenfügt so Grawe. Verglichen etwa mit den zeitgenössischen Werken des Künstlers Filip Markiewicz, der ebenfalls Motive aus der Kunstgeschichte popkulturell verfremdet, wirken Da Leidens Werke jedoch weniger originell. 

Die Bilder von Lutgen und Da Leiden in Summer of ’69 wirken in den Räumlichkeiten der ehrwürdigen Villa Vauban etwas aseptisch und vermitteln nicht wirklich revolutionären Geist oder gar Aufbruchsstimmung. Da hilft auch eine Playlist mit Liedern von The Rolling Stones, The Who oder Janis Joplin auf der Webseite des Museums nicht. Die Wahl der ProtagonistInnen erscheint zudem etwas willkürlich, da ihr Zusammenhang nur lose bestand. Dass diese in ihrer Kunst durch die subversive Kraft der 68er Jahre miteinander verflochten blieben, wirkt eher wie eine markige Beschwörungsformel. Dennoch sind insbesondere die frühen Werke von Berthe Lutgen eine Entdeckung wert.

Als Manko erscheint, dass in die Ausstellungskonzeption offenbar kaum Zeitzeug*innen und Protagonist*innen der damaligen Kunstszene eingebunden wurden. Der Zeitgeist ist nicht anwesend, sodass der Sommer 1969 trotz des Titels nicht magisch erscheint. So lässt einen der Gang durch die Ausstellung merkwürdig unbeteiligt zurück. Aber fairerweise: Luxemburg war in den Kunstrevolten weltweit ja auch nur ein Nebenschauplatz. 

Mit Blick auf die jüngsten Werke von Berthe Lutgen und Misch da Leiden fällt die Antwort auf die Frage, was von der Aufbruchsstimmung geblieben ist, eher ernüchternd aus, scheinen die jüngsten Werke doch erstaunlich harmlos. Das plakative Aufmacher-Motiv des Happenings im Salon du Cercle Artistique im Oktober 1968 wirkt in der Retrospektive geradezu exotisch, ein bisschen so, als hätte es in den 60er Jahren in Luxemburg tatsächlich eine breite Hippie-Szene gegeben.

 

„Summer of ’69“ – Werke von Berthe Lutgen und Misch Da Leiden seit den Jahren der Revolte“ ist noch bis zum 22. Mai 2022 in der Villa Vauban – Musée d’Art de la Ville de Luxembourg zu sehen.

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