Marx im Westen
Eine subjektive Bilanz des Trierer Karl Marx-Jahres 2018
Aufgrund meiner Zuständigkeit für die Geschichte des 19. Jahrhunderts bildeten Karl Marx und sein Alter Ego Friedrich Engels in den letzten drei Jahren einen der Schwerpunkte meiner wissenschaftlichen Tätigkeit wie auch meiner universitären Lehre an der Universität Trier. Zusammen mit meinem Kollegen Martin Endreß aus der Soziologie habe ich einen internationalen wissenschaftlichen Kongress und eine universitäre Ringvorlesung organisiert, diverse Seminare zu Leben und Werk des großen Trierers durchgeführt sowie verschiedene Projektseminare, u.a. zur neuen Dauerausstellung des Karl Marx-Hauses, zur Entwicklung von Marketing-Ideen zur Förderung der großen rheinland-pfälzischen Landesausstellung „Karl Marx 1818-1883. Leben. Werk. Zeit“ (eröffnet am 200. Geburtstag, dem 5. Mai, und bis zum 21. Oktober 2018 im Rheinischen Landesmuseum und im Stadtmuseum Simeonsstift) oder zur Erarbeitung einer studentischen Ausstellung „Marx is back. Orte – Ideen – Rezeptionen“, die derzeit (noch bis 12. März 2019) im Foyer der Universitätsbibliothek Trier zu sehen ist. Aus einem Projektseminar sind auch der studentische Blog „Marx is back“ (http://marxisback.hypotheses.org) sowie ein Facebook- und Twitter-Account (@2018KarlMarx bzw. @Mib2018Marx)entstanden. Aus diesen Erfahrungen resultieren die folgenden Überlegungen.
Das zeitaufwendigste und wichtigste dieser Projekte war der internationale Kongress ‚Karl Marx 1818-2018. Konstellationen, Transformationen und Perspektiven‘ (23.-25. Mai 2018). Erstaunlicherweise war er die einzige größere wissenschaftliche Veranstaltung im Jubiläumsjahr. Weder die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) herausgibt und seit vielen Jahrzehnten ein Zentrum der Marx- und Marxismusforschung ist, noch das Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte, wo ein großer Teil des Marx-Engels-Nachlasses die NS-Jahre überlebt hat, noch „Die Linke“ und ihre Rosa Luxemburg-Stiftung, die sich als Sachwalter des Marxismus in der Gegenwart sehen, haben größere Tagungen im Marxjahr realisiert. Wahrscheinlich hat unsere lange Vorbereitung – sie begann im Herbst 2015 – geholfen, mögliche Konkurrenten als Partner zu gewinnen: So hat die Friedrich Ebert-Stiftung, die auch das Trierer Karl Marx-Haus betreibt, den Kongress großzügig finanziell unterstützt, und diverse Mitarbeiter der MEGA bereicherten ihn als Referenten oder Teilnehmer*innen. In den Kongress haben wir auch zwei eigenständige Tagungsideen von Kollegen integriert: des Sozialpädagogen Stefan Köngeter, der den direkten und indirekten Einfluss Marx’ auf die Wohlfahrtspflege und -politik bis heute reflektieren wollte, und des Historikers Lutz Raphael, der mit internationalen Experten die Marx-Rezeption im globalen Süden diskutieren wollte.
Der öffentliche Auftakt des Kongresses fand in der repräsentativen Promotionsaula in der Trierer Altstadt statt, wo Karl Marx 1835 sein Abiturzeugnis überreicht bekommen hatte. Drei einführende Vorträge von international renommierten Marx-Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen – Jonathan Sperber als Historiker und Biograph, Axel Honneth als Philosoph und Heinz Bude als Soziologe – spannten vor gut 100 Teilnehmer*innen aus Politik, Stadtgesellschaft und Universität einen weiten Bogen der Aktualität des Marx’schen Œuvres. Nach einem Empfang hörte das Publikum den Festvortrag von Gareth Stedman Jones. Er hat die gewichtigste wissenschaftliche Marx-Biographie des Jubiläumsjahrs vorgelegt (Karl Marx. Die Biographie, Frankfurt/Main, Fischer, 2017). Leider hat der deutsche Verlag den Untertitel der Originalausgabe “Greatness and Illusion” einfach weggelassen. Dieser Vortrag war zugleich Teil der Ringvorlesung der Universität Trier, die von April bis Dezember 2018 in insgesamt zehn Vorträgen Marx und seine historische wie aktuelle Bedeutung einem breiteren, städtischen wie studentischen Publikum näher bringen wollte. Stedman Jones’ auf Englisch gehaltenen Vortrag über Marx’ sich wandelnde Geschichtsphilosophie moderierte und kommentierte der Berliner Wirtschafts- und Sozialhistoriker Jürgen Kocka.
Der zweite, an ein Fachpublikum gerichtete Tagungstag fand auf dem Campus der Universität Trier statt. In acht Sektionen wurden sehr unterschiedliche Facetten der Biographie Marx’, seines historischen Kontextes und der Herausforderungen, die sich aus seinen Denkanstößen und Theorien für heute ergeben, interdisziplinär von Fachgelehrten aus verschiedenen Disziplinen und aus verschiedenen europäischen Ländern sowie aus den USA und Israel beleuchtet.
Eine erste Schiene von vier historisch ausgerichteten Sektionen zielte darauf ab, Marx’ Leben und Werk zu entdogmatisieren, zu historisieren und im 19. Jahrhundert zu kontextualisieren. Der Arbeitstitel des Trierer Kongresses lautete „Marx im Westen“ und benannte die gemeinsame Intention der historisch ausgerichteten Vorträge: die Überwindung des Marx-Bildes des 20. Jahrhunderts. Während Lenin, Stalin und Mao und ihre Anhänger Marx und sein Denken aus seinen biografischen und historischen Kontexten lösten, sie dogmatisierten und an die Revolutionen und den „realen Sozialismus“ (sehr unterschiedlicher Spielart) in Russland, Osteuropa, China und Ostasien adaptierten, verorteten die historischen Beiträge auf dem Kongress Marx (und ebenso Engels, dessen 200. Geburtstag im nächsten Jahr in Wuppertal inszeniert wird) in der Tradition des westlichen – französischen, belgischen, rheinischen – Radikalismus und Republikanismus. Trier und der gesamte linksrheinische Raum, wo Marx geboren und sozialisiert wurde, hatten von 1794 bis 1814 zum revolutionierten Frankreich gehört. Dies hatte gravierende Folgen, die Politik, Recht und Gesellschaft vom übrigen Deutschland unterschieden: Gewerbefreiheit, Abschaffung des Adels, Säkularisation der katholischen Kirche und Übernahme des französischen Rechts mit öffentlichen Geschworenengerichten. Die in den ersten beiden Sektionen sprechenden Historiker beleuchteten Marx’ Biografie, die sich (bis auf seine Studienjahre in Berlin) im durch Aufklärung, Industrialisierung, bürgerliche Gesellschaft und Revolution bestimmten Westeuropa (Trier – Köln – Paris – Brüssel – London) abspielte, und sein konkretes politisches Engagement von der Revolution 1848/49 bis zur Ersten Internationale.
Im besten Sinne „revisionistisch“, also Dogmen und Traditionen auf der Basis akribischer empirischer Forschung überwindend, war auch die Sektion zur in besonderem Maße politisierten Editionsgeschichte. Denn von dem inzwischen auf 114 Bände angelegten Gesamtwerk war bei Marx’ Tod 1883 nur ein Bruchteil unter seinem Namen publiziert. Sein Mitstreiter Friedrich Engels edierte in den folgenden zwölf Jahren einige weitere Hauptwerke, danach übernahmen deutsche und später russische „Marxisten“ die Herausgabe. Die frühen Schriften, die für eine undogmatische Lesart und für die Genese des Denkens der beiden Schulhäupter des „Marxismus“ und des „historischen Materialismus“ besonders aufschlussreich sind, gelangten erst im 20. Jahrhundert unter dem Titel Die deutsche Ideologie an die Öffentlichkeit und machten Furore. Nun konnte der Bearbeiter der Neuedition als Band I/5 der MEGA, Ulrich Pagel, dem faszinierten Auditorium in Trier vorführen, dass Vieles in der Erstedition falsch kompiliert war, dass es sich nicht um ein Buchmanuskript, sondern um ein Zeitschriftenprojekt handelte, usw.
Die Sektionen der zweiten Schiene des internationalen Trierer Marx-Kongresses beschäftigten sich neben der Bedeutung Marx’ für die Wohlfahrtsstaatlichkeit und seiner Rezeption in Afrika, Lateinamerika und Südasien mit der Aktualität von Marx’ politischer Ökonomie. Einen Höhepunkt der aktualisierenden, soziologisch-politischen Auseinandersetzung mit Marx bildete der zweite große, an ein breiteres Publikum gerichtete Abendvortrag. Der angesehene Soziologe Stephan Lessenich provozierte mit Thesen zur „Dialektik der Demokratie“ eine angeregte Debatte. Seine an den Revolutionär Marx anknüpfende Fundamentalkritik des Kapitalismus und der gegenwärtigen politischen Kultur klang auch in verschiedenen Beiträgen der letzten Sektion am dritten Kongresstag an. Sie thematisierten u.a. soziale Ungleichheit in der Gegenwart und die politische Ökonomie der Globalisierung und mündeten in eine Abschlussdiskussion der beiden Organisatoren des Kongresses mit vier profilierten Teilnehmern aus den vier hauptsächlich auf dem Kongress vertretenen Fächern (Geschichte, Soziologie, Philosophie und Ökonomie).
Die innovativen Ergebnisse der historischen Sektionen des Kongresses – Historisierung, Kontextualisierung und damit „Verwestlichung“ – zeigten nicht nur den Visionär Marx, sondern beschäftigten sich auch mit seiner politischen und journalistischen Alltagsarbeit. Sie verband das Bemühen, Marx vom Sockel eines unerreichbaren Universalgenies zu holen. Eher in die entgegengesetzte Richtung zielt das Marxbild der zum 200. Geburtstag enthüllten Statue auf dem Trierer Simeonsstiftplatz, die trotz erkennbaren Bemühens um Lockerheit ihre Herkunft aus dem „Sozialistischen Realismus“ und aus China nicht verhehlen kann.
Enttäuschend war, dass kein Berichterstatter überregionaler Medien trotz der hochkarätigen Vorträge, die den aktuellen Stand der Marxforschung spiegelten, den Weg nach Trier fand, während sie alle gegen die Statue polemisierten. Letzteres lässt sich eben auch von Frankfurt, München oder Berlin aus machen! Deutlich anders war die Reaktion der Trierer*innen. Sowohl die geringe Teilnehmerzahl der von der AfD initiierten Protestdemonstration zur Denkmalsenthüllung als auch die Tatsache, dass an lauen Abenden junge Leute zu den Füßen von Marx sitzen und trinken, zeigen eine gestiegene Akzeptanz des großen Sohnes der Stadt, auch wenn er, wie auch die Statue andeutet, mit großen Schritten aus ihr herausstrebte und (außer bei Erbschaften) nie wieder etwas von ihr wissen wollte. Darüber hinaus hat das Marxjahr das Verhältnis zumindest der Stadtoberen und der für Kultur- und Tourismus Zuständigen grundlegend verändert: Marx wurde als „Marke“ entdeckt, mit der sich über die obligaten Chinesen hinaus „Qualitätstouristen“ anziehen lassen. In den nächsten Jahren sollen jeweils rund um den Geburtstag (5. Mai) „Marx-Wochen“ veranstaltet werden mit Vorträgen und Kulturprogramm, in deren Mittelpunkt das ästhetisch wie inhaltlich sehr schön neugestaltete Karl Marx-Haus stehen soll. Auch das qualitativ sehr unterschiedliche, aber äußerst vielfältige und insgesamt vom Publikum gut angenommene kulturelle Begleitprogramm des Marxjahrs mit speziellen Stadtführungen, Theater- und Musicalinszenierungen zeigte das entspannte Verhältnis in der Stadt zu Marx.
Jürgen Herres, ein weiterer Mitarbeiter der MEGA und wohl derjenige, der in dem aus mehreren Hundert Veranstaltungen bestehenden Programm des Jubiläumsjahres am häufigsten aufgetreten ist, hat darauf hingewiesen, dass es auf dem Londoner Highgate-Friedhof zwei Marx-Gräber gibt: das bescheidene, in dem der große Denker 1883 zusammen mit drei der wichtigsten Frauen in seinem Leben – seiner Ehefrau Jenny, seiner Tochter Eleanor und der aus dem Saarland stammenden Haushälterin Helena Demuth, Mutter seines unehelichen Sohnes – beerdigt wurde und das monumentale, das die Communist Party of Great Britain ausgerechnet 1956 errichten ließ und das bis heute Pilgerstätte von Anhängern oder Objekt der Schändung durch Gegner ist. Das eine – so Herres, der eines der schönsten Bücher zum Jubiläum vorgelegt hat (Marx und Engels: Porträt einer intellektuellen Freundschaft, Stuttgart, Reclam, 2018) – repräsentiere den historischen Marx des 19. Jahrhunderts, das andere den politisierten des 20. Eine wichtige Frage für historische Forschung und politische Debatten wird sein, wie viel der eine mit dem anderen zu tun hat.
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