- Geschichte, Gesellschaft, Politik
Marx und die Finanzkrise
Ein Krisen-Nostradamus? Nein, Karl Marx hat keinen prophetischen Krisenkalender geschrieben. Er hat auch die zyklischen Krisen nicht erfunden. Er hat sie beobachtet und zu erklären versucht. Und zwar nicht, wie bis dahin üblich, aus externen Faktoren (Missernten und dergleichen), sondern aus der inneren Logik des Kapitals. Allerdings nicht in der Form einer kompakten „Krisentheorie“, sondern anhand von Hinweisen und Analysen, über das ganze Werk verstreut, die vielleicht helfen könnten, heutige Krisen zu verstehen.
Um den Profit zu sichern und in der Konkurrenz zu bestehen, muss der Kapitalbesitzer die Lohnkosten senken und die lebendige Arbeit („variables Kapital“) durch Maschinen („konstantes Kapital“) ersetzen. Mit einer doppelten Konsequenz: der Rückgang der Löhne führt zu einem Rückgang der Nachfrage („Unterkonsumtion“); und da der Mehrwert, folglich der Profit, nur aus der lebendigen Arbeit gepresst werden kann, führt deren Abbau zu einer relativen (nicht absoluten!) Senkung des Profits („tendenzieller Fall der Profitrate“).
Der Zwang zur Akkumulation, der inhärenten Logik des Kapitals, der Konkurrenz und dem technischen Fortschritt geschuldet, führt zu Überakkumulation. Zuviel Kapital im Vergleich zu absetzbaren Waren. Zuviel „konstantes Kapital“ im Vergleich zur Rendite. Das überschüssige Kapital zirkuliert als Geldkapital, in Form von allerlei Finanzprodukten ohne realen Sachwert: in einem Spiel von Prognosen und Wetten auf die Zukunft, unrealistischen bzw. destruktiven Rendite-Erwartungen – bis irgendwo einmal die Blase platzt. Das überakkumulierte Kapital wird vernichtet, Fabriken werden zugemacht, Aktien verlieren ihren Wert, Kredite werden nicht mehr zurückgezahlt. Das Resultat von Pleiten und Aufkäufen ist die Konzentration und Zentralisation des Kapitals auf höherer Ebene. Auf solche Bereinigung folgt dann ein neuer Aufschwung, der Zyklus beginnt von vorn – auf dem Weg zur nächsten Krise.
Um die Akkumulation plus Profitrate zu halten oder zu steigern, müssen immer neue Bedürfnisse geschaffen werden, mehr Bereiche vom Kapital „kolonisiert“ werden. Externe Kolonisierung: geographische Räume, Expansion über die ganze Welt („Globalisierung“), nun auch des Weltalls („Space-mining“!); interne Kolonisierung: Privatisierung der öffentlichen Dienste, der Vorsorgedienste, der Räume, die bisher der Warengesellschaft entzogen waren.
Fetisch Geld
Der Damenschuh ist für den Fetischisten Ersatz und zugleich Verdrängung der lebendigen Frau. Der Fetisch Geld ist Repräsentation und Verhüllung gesellschaftlicher Verhältnisse zugleich. Abhängigkeits-, Unterordnungs-, Ausbeutungsverhältnisse. Das Geld erscheint wie eine übernatürliche Macht, die man anbeten und fürchten kann, obwohl es letztendlich ein Produkt menschlicher Tätigkeit ist. Wir beten die Götzen an, die wir selbst geschaffen haben. Geld ist der verselbstständigte Tauschwert, sagt Marx, in ihm stecken gesellschaftliche Verhältnisse, die man ihm nicht ansieht. Es riecht nicht, auch nicht nach Schweiß und Blut.
Mit der Explosion des Warenhandels wird schließlich alles zu Geld. Das Geld ist zugleich der große Gleichmacher, weil alle qualitativen Unterschiede der Waren in ihm verschwinden, und der große Ungleichmacher, weil mit dem Geld gesellschaftliche Macht privatisiert wird. „Da dem Geld nicht anzusehen ist, was in es verwandelt ist, verwandelt sich alles, Ware oder nicht, in Geld. Die Zirkulation wird die große gesellschaftliche Retorte, worin alles hineinfliegt, um als Geldkristall wieder herauszukommen. (…) Die gesellschaftliche Macht wird so zur Privatmacht der Privatperson.“1
Auf dem Finanzmarkt werden immer neue Formen oder Abbilder von Geld geschaffen. Eigentums- und andere Titel, Aktien und andere „Wertpapiere“ werden „papierne Duplikate des wirklichen Kapitals, wie wenn der Ladungsschein einen Wert erhielte neben der Ladung und gleichzeitig mit ihr. Sie werden zu nominellen Repräsentanten nicht existierenden Kapitals. (…) Aber als Duplikate, die selbst als Ware verhandelbar sind und deshalb selbst als Kapitalwerte zirkulieren, sind sie illusorisch, und ihr Wertbetrag kann fallen und steigen ganz unabhängig von der Wertbewegung des wirklichen Kapitals, auf das sie Titel sind.“2 Sind nicht diese illusorischen Werte, all diese unübersichtlichen virtuellen „Werte“, die heute über die Welt zirkulieren, Objekt aller Spekulationen, die das Vielfache der realen Ökonomie ausmachen, deren Rendite-Erwartungen auf der realen Ökonomie lasten, die Lohnabhängigen unter Druck setzen – und Krisen provozieren?
Aufputschmittel Kredit
Der Kredit ist das Doping des Kapitals. Wie bei anderen Rauschmitteln folgt auf die exzessive Euphorie eine tiefe Depression. Die Sucht aber bleibt. Mit dem Kredit scheint grenzenlose Akkumulation möglich. Der Kreditgeber, der selbst nicht Eigentümer des gesellschaftlichen Kapitals sei, schreibt Marx, könne „ganz anders ins Zeug gehen als der ängstlich die Schranken seines Privatkapitals erwägende Eigentümer, soweit er selbst fungiert.“3 Der Kredit wirkt so gleichzeitig als eine Triebfeder kapitalistischer Produktion und als „Haupthebel für Überproduktion und Überspekulation“.4
Kredit heißt Anspruch auf Werte, die möglicherweise noch gar nicht bestehen. Das Missverhältnis zwischen der Summe der Schuld und der realen produktiven Ökonomie wird, durch jahrzehntelange Deregulierung gefördert, immer größer. „Deswegen gibt es kein irgendwie angemessenes Verhältnis zwischen dem Finanzkapital und einem gleichzeitig irgendwo vorhandenen Warenwert, den man für adäquat halten könnte. Im Gegenteil: Es ist die Emanzipation von jeglicher Gegenwart oder Realität, die das Wesen des Finanzkapitals ausmacht. Es existiert nur in dieser Verselbständigung“.5 Im 20. Jahrhundert wird auch der Massenkonsum, also die Nachfrage, zunehmend kreditfinanziert. Dies kann man als Versuch deuten, der krisenträchtigen Unterkonsumtion entgegenzuwirken. Auch da scheinen die Schranken unsichtbar geworden zu sein. Wenn sich herausstellt, dass die Nachfrage nur auf Pump beruht, der vielleicht nicht mehr abbezahlt werden kann, dann gerät das Kreditgeschäft in Krise – wie 2008 in den USA.
Der Kapitalismus ist per se eine Risikogesellschaft. Nicht nur für die, denen er ein unsicheres Lohnverhältnis beschert, auch für das Kapital selbst. Ungewiss ist, ob die produzierten Waren auch Abnehmer finden, ob die Aktien an der Börse steigen oder fallen, ob die Darlehen zurückgezahlt werden. Um das Risiko einzuhegen, wurden nach dem Krach von 1929 daher der unternehmerischen Freiheit Regeln und Grenzen gesetzt, die mit der neoliberalen Restauration wieder abgebaut werden. Hohe Risiken werden wieder in Kauf genommen, um hohe Renditen zu erzielen, vor allem auf den Finanzmärkten. Ein Großteil der Finanzinnovationen zielt daher auf die Verminderung dieser Risiken über den Finanzmarkt selbst. Durch Streuung, durch allerlei Rückversicherungen. Unsichere verbriefte Schulden werden mit anderen Wertpapieren wie im Kartenspiel gemischt und über die ganze Welt in Banken und Investmentfonds verteilt. Wie die Krise von 2008 wiederum gezeigt hat, haben die verschachtelten Innovationen das Risiko nicht wirklich gemindert. Im Gegenteil: Der Einbruch an einem Ort löst einen weltweiten Domino-Effekt aus. Wer weiß noch, wo welche Giftfässer gelagert sind? Der Staat muss einspringen, um die systemrelevanten Finanzinstitute zu retten. Selbst die liberalsten Ökonomen und Politiker verlangen dann nach der Intervention des Staates. Die Verluste werden auf die Steuerzahler verlagert, dank Austeritäts-Politik bezahlen die Lohnabhängigen den Preis für die Deregulierung.
Charaktermasken & Algorithmen
„Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen.“6 So wie die Masken der Schauspieler im antiken Theater einen Status darstellen (König oder Dienerin), so sind Unternehmer wie Spekulanten nur „Charaktermasken“, Funktionsträger des kapitalistischen Systems. Daher nützen weder Appelle noch Drohungen – es geht um systemische Fragen. Heute sind es weitgehend nicht einmal mehr identifizierbare „Personen“, es sind allerlei Investment-, Hedge- und Pensionsfonds, die wohl von Personen verwaltet werden, aber immer nur als Funktionsträger von „Klassenverhältnissen und Interessen“. Und es sind sogenannte Algorithmen, die zwar von Personen programmiert werden, aber wieder nur als Funktionsträger von Rendite-Erwartungen.
Dies bedeutet nicht, dass es keine Verantwortung gibt. Personale Verantwortung für Gier, Lug und Betrug, schamlose Ausbeutung gibt es schon und wurde von Marx auch angeprangert. Vor allem aber stellt sich die Frage, wer die Verantwortung für die Rahmenbedingungen, die Spielregeln der sozialen und ökonomischen Beziehungen trägt. Es geht also um die Frage der politischen Verantwortung. Die von Marx übernommene und vereinfachte These, dass die Politik nur Überbau sei, ist dabei wenig hilfreich, weil sie die Politik eigentlich entlastet und politisches Eingreifen entwertet.
Hier geht es um mehr als um Ökonomie, es geht um das Menschenbild, um ein anderes Verständnis des Verhältnisses zwischen individueller (instrumenteller) und gesellschaftlicher Vernunft. Auf der einen Seite das rational kalkulierende Individuum, dessen Eigeninteresse dank der „unsichtbaren Hand“ des Marktes zu Gemeinwohl und gesellschaftlicher Harmonie führt. Die individuelle Rationalität fällt mit der gesellschaftlichen Rationalität zusammen. Daher kann es weder Krisen noch Zusammenbruch geben. Auf der anderen Seite der Widerspruch zwischen dem individuellen Kalkül (dem Akkumulationsdrang des Kapitals) und der gesamtgesellschaftlichen Rationalität. Was für kapitalistische Individuen oder Institutionen rational erscheint, ist höchst irrational für die Gesellschaft als Ganzes. Den Widerspruch hebt der „freie Markt“ eben nicht auf. Wie Marx formuliert: Der Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der privaten Aneignung ist der eigentliche Skandal des Kapitalismus und Ursache der Krisen. Nicht nur die Finanzkrise, der gesamte Zustand der Welt (inklusive Klimakrise) ist geprägt von diesem Widerspruch zwischen partikularer und gesellschaftlicher Rationalität.
Dieser Marx’sche Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der privaten Aneignung ist auch der eigentliche Widerspruch zwischen dem Anspruch der Demokratie und der gesellschaftlichen Realität. Das demokratische Defizit ist zugleich eine Ursache und erneute Wirkung der Krise. Ursache, weil die Krise(n) letztlich zurückzuführen sind auf Entscheidungen und Verhalten von dominanten Minoritäten. Wirkung, weil die Konsequenzen der Krise, bzw. die Art, wie sie gehandhabt werden, wiederum zu einer Einschränkung demokratischer Verfahren führt: siehe nicht nur Griechenland!
Historische Notwendigkeit?
Da Marx die Krisen aus der inneren Logik des Kapitals ableitet, hält er sie für unvermeidlich. Und genauso unausweichlich würden die Krisen schließlich zur sozialen Revolution und zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen. Der Revolution von 1848 in Frankreich war in der Tat eine ökonomische Krise vorausgegangen, aber der Arbeiteraufstand im Juni 1848 wurde blutig niedergeschlagen. Dazu schrieb Marx in Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850: „Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.“7 Diese Gewissheit wird in späteren Schriften von Marx dann von Engels abgemildert. Es bleibt aber eine eigentümliche Spannung zwischen einer deterministischen und einer voluntaristischen Lesart der gesellschaftlichen Entwicklung: Der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems ist in seiner eigenen Logik festgeschrieben, oder das Proletariat und seine Verbündeten müssen den Umsturz aktiv betreiben – oder eben beides… Diese Spannung gab in der Folge Anlass zu allerhand interpretatorischen Auseinandersetzungen. Nach anderthalb Jahrhunderten haben wir gelernt: Der Kapitalismus ist noch anpassungsfähiger, als Marx selbst das schon erkannt hatte, es gibt keine strikte Notwendigkeit in der historischen Entwicklung. Wir wissen aber auch: Die voluntaristische Variante, die der Geschichte allzu schnell auf die Sprünge helfen soll, kann tragisch enden. Die Spannung zwischen Determinismus und Freiheit durchzieht übrigens in der einen oder anderen Form immer die Sozial- oder Humanwissenschaften allgemein.
Heute hat sich eine neue vulgäre Version des gesellschaftlichen Determinismus installiert: der Glaube an die unausweichliche Kraft und Herrlichkeit des Marktes, die alternativlose Dominanz des Wirtschaftsliberalismus, die Verherrlichung des unüberwindlichen Privateigentums.
Einen endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus gab es jedenfalls bisher nicht, auch keine proletarische Weltrevolution. Daraus lernen wir eine gewisse Vorsicht mit heutigen Zusammenbruchstheorien, Vorsicht auch mit revolutionären Prophezeiungen. Die entgegengesetzten Wahrsagereien von einer harmonischen, krisenfreien Entwicklung haben sich allerdings nicht weniger blamiert.
Aber warum eigentlich ist der Kapitalismus nicht zusammengebrochen? War die Marx’sche Analyse einfach falsch? Oder hat sich die Gesellschaft mit einer anderen Logik als der der ungebremsten Akkumulation vor sich selber geschützt – wie der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi bereits 1944 schrieb? Hat die allmähliche (von brutalen Verwirrungen unterbrochene) Entwicklung des Sozialstaats die Krisenanfälligkeit des Systems abgemildert?
Der Sozialstaat (im weiten Sinn) hat mit Gesetzen zum Mindestlohn, Kollektivverträgen, Arbeitszeit und Kündigungsschutz der Überausbeutung, damit der Überakkumulation, aber auch der Unterkonsumtion Grenzen gesetzt. Mit der Entwicklung der sozialen Versicherungen und der öffentlichen Dienste haben sich neue Formen kollektiven Eigentums entwickelt. Der von Marx untersuchte Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der privaten Aneignung wurde damit zwar nicht aufgehoben, aber abgeschwächt.
Wie so vieles in der Welt ist auch der Sozialstaat kein eindeutiges Ding. Man kann ihn verstehen als Rettungsinstrument des Kapitals, als „Einbürgerung“ und Verbürgerlichung der vormals revolutionären Arbeiterklasse, ihre Korruption durch Konsum und vermeintliche Einbindung in politische Prozesse, also Verhinderung der Revolution. Man kann ihn aber auch verstehen als das Eindringen einer nichtkapitalistischen, einer gesellschaftlichen Logik in den Kapitalismus – gegen deren Schwächung zu kämpfen sich lohnt.
1) Das Kapital, Bd. I, 1973, S. 146 (MEW, Bd. 23)
2) Das Kapital, Bd. III, 1973, S. 494 (MEW Bd. 25)
3) Das Kapital, Bd. III, 1973, S. 457 (MEW, Bd. 25)
4) Ib.
5) Thomas Steinfeld, Der Herr der Gespenster, München, Carl Hanser Verlag, 2017, S. 101.
6) Das Kapital, Bd. I, 1973, S. 16 (MEW, Bd. 23)
7) MEW, Bd. 7, S. 98
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