Der EU-Wahlkampf wird oft als Kampf der Pro- gegen die Anti-Europäer geführt. Dabei wird ausgeblendet, dass die Pro-Europäer untereinander höchst uneinig sind. Die Konzentration auf die Meta-Debatte – und der Verzicht auf die eigentlichen politischen Debatten – schwächt die EU statt sie zu stärken.

Genug der schlechten Nachrichten, höchste Zeit für etwas Optimismus im Vorfeld der Europawahlen. Stellen wir uns vor, am Abend des 26. Mai schneiden die rechtsnationalistischen Parteien schlechter ab als erwartet. Im Parlament bildet sich eine „Große Koalition“ der „pro-europäischen Parteien“ – die EU ist gerettet!

Im Detail könnte das so aussehen: Die europakritischen Wahlkampagnen der rechtsnationalistischen Parteien führen dazu, dass ein Großteil ihrer potenziellen Wählerschaft – unzufriedene Bürgerinnen und Bürger – überhaupt nicht an der Wahl teilnimmt. Auch die fortschrittlichen Parteien mit ihren Aufrufen, Europa zu retten, schaffen es nicht, die Unzufriedenen zu überzeugen. Mit einer Mischung aus EU-Bejahung und Konservatismus gelingt es dagegen der EVP, ihre traditionnelle Wählerschaft zu mobilisieren.

Happy End

Was käme danach? Eine eher konservativ und liberal ausgerichtete Mehrheit in Parlament und Kommission, unter Mitwirkung von Teilen der Sozialdemokratie und der Grünen. Die Rechtsnationalen dagegen würden ebenso wie die EU-kritischen Teile der Linken von dieser „Koalition für ein pragmatisches Europa“ ausgeschlossen. Mehr Subsidiarität und Markt, weniger EU-Vorrechte und Bürokratie, so könnte der neue Kurs aussehen, der sich darauf berufen würde, den Wünschen der Völker Europas Rechnung zu tragen. Gewiss, im Bereich der sozialen Rechte und der Umweltnormen würde es dann weniger Europa geben. Doch da, wo ein Konsens möglich ist, wie beim Schutz der Außengrenzen und bei der europäischen Verteidigung, würde die EU gestärkt werden.

Diese „Rettung Europas“ würde manchen fortschrittlichen Befürwortern eines sozialen und zusammenwachsenden Europas wie ein Alptraum vorkommen. Doch sie wäre mehr als das: ein Pyrrhussieg für die europäische Integration. Denn die Rückschritte in Bereichen, in denen die EU Fortschritte ermöglicht hat, zusammen mit dem Fortschreiten auf dem wirtschaftsliberalen Irrweg, würde zu noch mehr Desillusioniertheit und Unzufriedenheit führen. Ganz gleich ob sich das in Bewegungen wie jener der Gelbwesten entladen oder zu einem Erdrutschsieg der Rechtspopulisten 2024 führen würde, es könnte zu einem Zusammenbruch des europäischen Projekts führen.

Pyrrhus-Sieg

Mit anderen Worten: Was in diesem Wahlkampf als Allianz der Mitte gegen die „Feinde“ der EU erscheint, könnte dazu führen, dass die EU mittelfristig an faulen Kompromissen und Immobilismus zugrunde geht. Denn über das Ja zu Europa hinaus gibt es nichts, was die Mitte eint. Verzichten die fortschrittlichen Kräfte im Namen dieser Allianz darauf, die Frage „Welches Europa?“ zu stellen, so verspielen sie die einzige Chance, das Projekt EU neuzubeleben. Ein solches Projekt kann sich nicht auf die Prinzipien Konkurrenz und Leistung stützen, sondern auf Solidarität und sozialen Ausgleich. Unterm Strich ist Europa ein linkes Projekt – rechtslastige Politik kann nur in eine Sackgasse führen.

Die Frage, welches Europa wünschenswert ist, ins Zentrum der Debatte zu rücken, setzt natürlich die Bereitschaft zur Konfrontation mit den rechten und wirtschaftsliberalen Kräften voraus – eine politische Debatte im eigentlichen Sinne des Wortes. Eine Konfrontation, die wesentlich schwieriger und aufwendiger ist als die mit den rechten Euroskeptikern, die sich auf die Frage beschränkt: Europa, ja oder nein? Insbesondere die Sozialdemokratie, die eine große Mitverantwortung an der wirtschaftsliberalen und antisozialen EU-Politik der vergangenen Jahrzehnte trägt, muss endlich Farbe bekennen. Um ihre Glaubwürdigkeit als linke Kraft wiederzuerlangen reicht es nicht, jedes Mal vor den Europawahlen fünf Monate lang für ein „besseres Europa“ einzutreten, und danach 55 Monate lang an dem „schlechteren“ Europa mitzuwirken.

Erneuerung

Klar: Die Bereitschaft zur Konfrontation impliziert auch die Bereitschaft zur Opposition und zum damit einhergehenden zeitweiligen Machtverzicht. Die fortschrittlichen Kräfte müssten wahrscheinlich ein paar Jahre lang aus der Opposition heraus ihre Visionen für ein besseres Europa entwickeln: vielleicht mit der Ernennung einer „Schattenkommission“ und Verhandlungen der linken Fraktionen über ein gemeinsames Projekt, einen europäischen Green New Deal.

Zwar wird die Aussicht, den Konservativen und Liberalen zeitweilig das Ruder zu überlassen, viele verschrecken. Insbesondere die Grünen könnten angesichts des politischen Rückenwinds versucht sein, prinzipielle Fragen auszuklammern, um „mitregieren“ zu können. Doch ein zeitweiliger Machtverzicht ab dem Herbst 2019 ist weniger erschreckend, wenn man sich die andere Perspektive vor Augen hält: Die EU dümpelt weitere fünf Jahre vor sich hin, sie wurde 2019 gerettet und wird 2024 ruiniert sein.

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