Mehr Stadt wagen
Wie das Kirchberg-Plateau den Ruf des Büro-Trabanten abstreifen soll
Der Fonds Kirchberg gestaltet die Zukunft eines Stadtteils, der bis heute vor allem als Standort der europäischen Institutionen bekannt ist. Doch seit den 1990er Jahren verwandelt sich das Kirchberg-Plateau schrittweise in ein Viertel mit zunehmender Nutzungsmischung, in dem die Menschen nicht nur arbeiten, sondern auch wohnen und ihre Freizeit verbringen. Die Vision der Planer: ein Kirchberg der kurzen Wege, lebenswert, nachhaltig und für jeden erschwinglich.
Wer die städtebauliche Geschichte des Kirchberg-Plateaus verstehen möchte, sollte zunächst die Entwicklung der Avenue J.F. Kennedy seit ihrer Entstehung als Schnellstraße Anfang der 1960er betrachten. Diktierte damals das Auto den Städtebau, sind es heute die Fußgänger und Radfahrer, die dabei sind, den öffentlich Raum zurückzuerobern. Die Tram verbindet zudem als umweltfreundliches Verkehrsmittel den Kirchberg mit dem Rest der Stadt Luxemburg. Die Beliebigkeit bei der Ansiedlung geradezu majestätischer Verwaltungssitze inmitten großzügiger Grünanlagen ist einer konsequenten Blockrandbebauung gewichen. All dies dank einer Rückbesinnung auf die „europäische Stadt“ als generelles Leitbild mit ihren Merkmalen der Dichte, der Mischung und des menschlichen Maßstabs, gepaart mit einem zeitgenössischen Begriff der Nachhaltigkeit und einem hohen Anspruch der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen.
Nicht nur die Idee der autogerechten Stadt ist Vergangenheit und wurde ersetzt durch die Vision eines Straßenraums, der von allen Verkehrsteilnehmern gleichberechtigt genutzt wird. Auch die damit verbundene Doktrin der getrennten Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit ist nun obsolet. Dies gilt insbesondere für aktuelle und zukünftige Projekte des Fonds Kirchberg, dessen Hauptaufgabe in den kommenden Jahren die Planung lebendiger Siedlungen sein wird, mit einer guten Nahversorgungsinfrastruktur, mit der Möglichkeit, im Alltag auf das private Auto zu verzichten und einem hohen Anteil an erschwinglichem Wohnraum.
Wohnungen für Durchschnittsverdiener
In Abstimmung mit der Regierung hat der Fonds Kirchberg 2015 ein Programm ins Leben gerufen, das Wohnen auf dem Kirchberg für jede Einkommensschicht bezahlbar macht. Neben den Sozialwohnungen, die in Zusammenarbeit mit der Société Nationale des Habitations à Bon Marché (SNHBM) entstehen, will der Fonds Kirchberg in den kommenden Jahren viele tausende neue Wohnungen schaffen, die zu gedeckelten Preisen (40 Prozent unter dem Marktpreis) verkauft werden, um so Durchschnittsverdienern die Möglichkeit zu geben, Wohnraum zu erwerben. Im Rahmen dieses Programms bleibt der Fonds Eigentümer von rund zehn Prozent aller neu geschaffenen Wohnungen, die zu ebenfalls fairen Preisen vermietet werden. Erwerb und Vermietung sind an gewisse Bedingungen geknüpft. Zum Beispiel kann in die Wohnungen nur einziehen, wer in der Stadt Luxemburg oder in bestimmten Teilen angrenzender Gemeinden arbeitet. Um der Immobilienspekulation auf dem Kirchberg-Plateau Herr zu werden, findet seit geraumer Zeit bei allen Neubau-Projekten das Erbbaurecht Anwendung – ein wichtiges Instrument, das der öffentlichen Hand ermöglicht, durch Flächen, die nach Ablauf der Fristen an den Staat zurückfallen, steuernd auf den Städtebau einzuwirken.
In einem gewissen Umfang wird der Fonds auch in Zukunft Flächen für den Bau mittlerer bis großer Büroeinheiten vorhalten müssen, dies besonders im Hinblick auf Erweiterungen der EU-Institutionen. Durch Optimierung der Bauvolumen und die Ansiedlung öffentlicher Funktionen in den Erdgeschossen können große Einheiten verträglich in ein kleinteiligeres Stadtgefüge eingebunden werden.
Aus der Sicht des Fußgängers und Radfahrers planen
Die in den ersten drei Jahrzehnten der Kirchberg-Urbanisierung vorherrschenden Solitärbauten und hermetischen Verwaltungseinheiten entsprechen nicht dem menschlichen Maßstabsempfinden. Der öffentliche Raum gerät bei dieser Art der Bebauung oft arm an visuellen Reizen, die gefühlte Distanz wirkt abschreckend auf den Fußgänger. Alleinstehende Hochhäuser lassen Windschneisen und verschattete Plätze entstehen, die in vielen Fällen nur eine geringe Aufenthaltsqualität bieten. Historisch bedingt haben sich die Planer zwischen den 1960er und 90er Jahren zunächst auf die europäischen Institutionen und den Bankensektor konzentriert und dadurch die programmatische und maßstäbliche Durchmischung vernachlässigt. Auch heute noch fehlt es dem Kirchberg abends und an den Wochenenden an Leben, wenn die Arbeitnehmer das Plateau verlassen haben.
Das Ungleichgewicht zwischen Einwohnerzahl und Arbeitsplätzen soll in den kommenden zehn bis 20 Jahren verringert werden. Derzeit arbeiten rund 41.300 Personen auf Kirchberg, 3.800 wohnen dort. Auf einen Einwohner kommen also ungefähr zehn Berufstätige. Durch eine Förderung des Wohnungsbaus strebt der Fonds ein Verhältnis von 1 zu 2,6 an. Langfristig sollen 25.800 Menschen auf dem Kirchberg leben, die nach Möglichkeit auch in der Nähe arbeiten oder zur Schule gehen sollen. Damit leistet der Fonds Kirchberg seinen Beitrag zur Verbesserung der prekären Verkehrssituation in Luxemburg. Was städtische Ballungsräume brauchen, sind Quartiere, in denen Zufußgehen oder Fahrradfahren zum Vergnügen werden, in denen der Einwohner eigentlich kein Auto mehr braucht. Für längere Fahrten außerhalb der Stadt stehen PKWs an Car-Sharing-Stationen zur Verfügung.
Alle an einem Tisch
Der Fonds sieht den Kirchberg daher auch als urbanes Versuchslabor, in dem neue Designkonzepte und innovative Wohnformen erprobt werden. Dafür entwickelt er neue Formen der Zusammenarbeit, die einen schnelleren Wissenstransfer und eine größere Potentialentfaltung erlauben. Die Überzeugung ist, dass auf diese Weise, nämlich in sogenannter Ko-Kreation, die Herausforderungen gemeistert werden können, vor denen wir individuell und als Gesellschaft stehen. Für die Arbeit des Fonds Kirchberg bedeutet dies, dass die klassischen Architekturwettbewerbe durch einen kollaborativen Prozess ersetzt werden, bei dem ein multidisziplinäres Team von Architekten, Ingenieuren, Landschaftsarchitekten, aber auch Experten anderer Bereiche wie zum Beispiel Umwelt, Energie, Handel und Wirtschaft von Anfang an zusammen an einem Tisch sitzen. Verfahren der Bürgerbeteiligung wie das Modell der „Quartierstuff“, das der Fonds Kirchberg im Quartier Grünewald erstmals als Instrument der Partizipation einsetzte, um mit den Einwohnern Ideen zur Zwischennutzung eines brachliegenden Grundstücks zu sammeln, geben den Planern und Gestaltern außerdem eine Rückmeldung über die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen vor Ort.
Mit Hilfe des Luxemburger Büros +ImpaKT und des US-amerikanischen Architekten und Mitbegründers der Cradle-to-Cradle-Philosophie (C2C) William McDonough hat der Fonds Kirchberg ein Leitbild entwickelt, das die Werte, Prinzipien und Ziele zukünftiger Stadtplanungs- und Bauprojekte vorgibt. Um diese umzusetzen, inspiriert sich der Fonds Kirchberg an den Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft. Das Grundprinzip lautet „Nährstoff bleibt Nährstoff“, das bedeutet, dass die Materialien, die verwendet werden, fortwährend in Kreisläufen zirkulieren können. Produkte werden schon im Entstehungsprozess so konzipiert, dass sie niemals zu Müll werden. Nichts muss nach Ende seiner Nutzung entsorgt oder energieaufwändig recycelt werden. Im Unterschied zum klassischen Recycling büßen die Materialien von Produkten, die nach dem C2C-Prinzip designt sind, bei der Wiederverwertung nicht an Qualität ein.
Teilen statt besitzen
Mit dem Ziel, Ressourcen zu schonen, wird die Art und Weise, wie wir im Alltag konsumieren, überdacht. Der Einzelne besitzt weniger, dafür zahlt er dafür, bestimmte Geräte, Maschinen, Gegenstände oder auch Räume zu nutzen, indem er sie mit anderen Personen in der Nachbarschaft teilt. Bauen nach dem C2C-Prinzip bedeutet auch, dass sämtliche Materialien gesundheitsverträglich sind, weder Mensch noch Umwelt schaden, idealerweise sogar das Wohlbefinden signifikant steigern. Außerdem werden architektonische Lösungen bevorzugt, die eine Langlebigkeit und somit auch Nachhaltigkeit versprechen, indem zum Beispiel offene Strukturen und flexible Grundrisse beim Wohnungsbau zum Einsatz kommen. So kann das Gebäude an sich verändernde Bedürfnisse der Bewohner angepasst werden.
Die Sonne wird zur Hauptenergiequelle. Die Ingenieure im Team arbeiten an ausgeklügelten Kreislauflösungen zur Versorgung der Stadtteile, durch deren Einsatz die Bewohner mit der Ressourcenknappheit umgehen können, ohne bewusst Verzicht üben zu müssen. Smarte Technik hilft Wärme und Strom selbst herzustellen und automatisiert das Sparen von Energie und Wasser.
Natur und Urbanität
Die Förderung der Biodiversität ist zudem integraler Bestandteil der einzelnen Projekte. Trotz hoher Bebauungsdichte soll der Kirchberg ein Naturraum mit großer Artenvielfalt bleiben. In Parks, auf Grünflächen im Straßenraum, in Gärten und an Fassaden gibt es Nischen, in denen sich Pflanzen und Tiere entfalten können. Die Grenze zwischen Natur und Architektur verwischt. Der Mensch findet dadurch ein angenehmes Mikroklima vor, in dem er durchatmen, entspannen und zur Ruhe kommen kann. Obst und Gemüse sollen künftig auf dem Kirchberg lokal angebaut, verarbeitet, verkauft und gegessen werden. So etwa auf dem Stadtbauernhof Kuebebierg, den der Fonds Kirchberg im Zuge der Urbanisierung der im Norden des Plateaus gelegenen Ländereien ansiedeln möchte. Von den Einwohnern gepflegte Gemeinschaftsgärten ergänzen das erwerbsmäßige Angebot dieser städtischen Landwirtschaft.
Der C2C-Ansatz geht nämlich noch einen Schritt weiter als die meisten Modelle der Kreislaufwirtschaft, indem er den Menschen ganzheitlich im Wechselspiel mit dessen Umwelt betrachtet: der Mensch in seiner Beziehung zur Natur und im Austausch mit seinem sozialen Umfeld. Eine Frage, der die Architekten nachgehen, lautet daher: Wie können Baulösungen die soziale Kohäsion fördern? In einem multikulturellen Umfeld wie dem Kirchberg-Plateau sind diese Überlegungen von zentraler Bedeutung für ein gutes Zusammenleben, das den Vierteln erst ihre eigene Identität verleiht. Mit den Erfahrungen, die der Fonds Kirchberg nun in einer Pilot-Phase an drei Standorten macht (JFK Sud entlang der Avenue Kennedy, am Boulevard Pierre Frieden im letzten Realisierungsabschnitt des PAP Kiem West und auf der derzeit brachliegenden Fläche im Herzen des Quartier Grünewald), dürfte er gewappnet sein, um erfolgreich mit den Herausforderungen umzugehen, die in den kommenden Jahrzehnten mit der Entwicklung neuer Stadtteile auf ihn zukommen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Revue Technique Luxembourgeoise 2/2019.
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