Mensch sein im Anthropozän
Einführung ins Dossier
„There’s no future, we’re the flowers in the dustbin, we’re the poison in your human machine“, grölten die Sex Pistols 1977. Punks von heute haben diese kulturpessimistische No-future-Mentalität abgelegt. Sie schreien, schwänzen, sitzen und blockieren zwar auch, sind aber keine resignierten Neinsager*innen mehr, sind vielmehr zu ambitionierten Jasager*innen geworden. Gruppierungen wie Youth for Climate aber auch Grown-ups for Climate schreien sich für die Einhaltung der Ziele des Pariser Klimaabkommens die Seele aus dem Leib. Extinction Rebellion und Animal Rebellion kämpfen für den Erhalt der Biodiversität. Und sogar das EU-Parlament hat Ende November den Klima- und Umweltnotstand ausgerufen.
Die Spezies Mensch als prägende Kraft für die Veränderung des Planeten
Der Mensch verändert seinen Planeten in der Tat so tiefgreifend, dass eine neue Erdepoche, das Anthropozän (vom altgriechischen anthropos = der Mensch und kainos = neu), das menschengemachte Zeitalter, verkündet wird. Der Begriff Anthropozän wurde im Jahre 2000 geprägt von dem Chemie-Nobelpreisträger Paul J. Crutzen und dem Biologen Eugene Stoermer. Sie argumentieren, dass der Einfluss des Menschen mittlerweile die gesamte Biosphäre betrifft, vom Meeresgrund bis an den Rand der Atmosphäre. Zum ersten Mal tauchte der Begriff 1922 beim russischen Geologen Aleksei Pavlov auf, doch bereits Mitte des 19. Jahrhunderts sprachen Geologen von der Epoche des „Anthropozoic“.
Massives Artensterben, steigende Meeresspiegel, Klimaerwärmung, zerfurchte Meeresböden, der Kohlendioxid-Gehalt in der Atmosphäre, die Allgegenwärtigkeit von Mikroplastik, die Unfruchtbarkeit der Böden, die Überfischung der Meere, die Gilles Hosch (ab S. 49) beschreibt – der Mensch greift derart radikal, global und teilweise unumkehrbar in atmosphärische, biologische und geologische Prozesse ein, dass die Auswirkungen nach heutigem Wissensstand noch in ein paar hunderttausend Jahren präsent sein werden.1
Offiziell wurde der Begriff „Anthropozän“ zur Beschreibung unserer Epoche aber noch nicht angenommen. Den Übergang vom Holozän zum Anthropozän zu bestimmen, ist seit 2009 die Aufgabe einer internationalen Gruppe von Wissenschaftler*innen, die bis 2021 einen Antrag auf Anerkennung des Anthropozän bei der International Union of Geological Sciences (IUGS) stellen wollen. Damit das Anthropozän formell als neues Zeitalter gelten kann, muss bewiesen werden, dass es sich messbar und langfristig von der bisherigen Epoche unterscheidet. Kritiker*innen zweifeln daran, dass das Holozän schon an seinem Ende angelangt ist, weil seine aktuelle Dauer von 11.600 Jahren aus geologischem Blickwinkel eine extrem kurze Zeitspanne darstellt. Im Vergleich: das vorangegangene Pleistozän, die Eiszeit, dauerte zweieinhalb Millionen Jahre.
Umstritten wäre auch der Zeitpunkt des Beginns des Anthropozäns. Die vorgeschlagenen Kippmomente reichen vom Beginn der Landwirtschaft vor 8.000 Jahren, die Jean Stoll (ab S. 19) darstellt, über den Beginn des industriellen Zeitalters vor 200 Jahren bis hin zu den 1940er Jahren und der Freisetzung von Radionukliden durch Atombomben. Der letzte Vorschlag findet momentan den größten Konsens.
Auch der Begriff des „Anthropozän“ selbst wird kontrovers diskutiert. Louise Wagner fragt sich in diesem Heft (ab S. 35), wer eigentlich dieser Anthropos sein soll. Schert der Begriff nicht unfairerweise alle Menschen über einen Kamm? Und verstecken sich die wahren Schuldigen nicht hinter diesem General-Begriff? Verwischt er nicht die Tatsache, dass es vor allem die Menschen in den ärmsten Ländern sind, die am heftigsten unter den Folgen des Klimawandels leiden, obwohl sie am wenigsten an der Emission von Treibhausgasen beteiligt sind? Diese Frage stellt auch Francis Schartz (ab S. 28) in unserem Dossier. Zugespitzt formuliert: Steht der Begriff somit nicht der Bewusstseinsbildung für klimatische Gerechtigkeit im Weg?
Verfechter*innen des Begriffes „Kapitalozän“ argumentieren, dass unsere Umwelt nicht eigentlich durch menschliche, sondern durch wirtschaftliche Tätigkeit geprägt ist, dass die Verantwortung eher in strukturellen Ursachen als in individuellen Konsumentscheidungen zu suchen ist, und dass daher nicht jeder Einzelne die Bürde der Schuld zu tragen brauche. „Climate change is global-scale violence against places and species, as well as against human beings“, so Rebecca Solnit.2 Es wird voraussichtlich noch Jahre dauern, bis die Frage auf wissenschaftlicher Ebene hinreichend geklärt ist. Der Vorschlag, das Anthropozän als neues Zeitalter einzuordnen, muss noch zahlreiche Gremien durchlaufen, um gegebenenfalls in letzter Instanz von dem Exekutivkomitee der IUGS bestätigt zu werden.
Zeitalter des Menschen vs. Dekonstruktion der menschlichen Spezifität
Wie unser Zeitalter einmal heißen wird, ist eigentlich auch nebensächlich. Alleine die Beschäftigung mit dieser Frage hat das Bewusstsein für die menschengemachte Zerstörung geschärft. Durch die zunehmenden Erkenntnisse über den systemischen Zusammenhang von Klimawandel und menschlicher Aktivität sowie durch das sinnliche Erleben der Klimaerwärmung wandelt sich scheinbar die Beziehung zwischen Mensch und Natur, sodass das anthropozentrische Machtgefüge verstärkt wahrgenommen wird. Beispielhaft hierfür weist Edgard Arendt (ab S. 24) auf den anthropozentrischen Charakter des Begriffes „environnement“ hin – mit seiner Fokussierung auf den von Welt umgebenen Menschen im Zentrum. In die Sprache finden vereinzelt Ausdrücke wie „nicht-menschliche Tiere“ und „anymal“ [sic!] hinein, welche die Gemeinsamkeiten hervorheben. „Tierschutz ist Menschenschutz“, unterstreicht Alain Frantz in unserem Interview (ab S. 41). Flüsse beispielsweise werden zu juristischen Personen erklärt. Auch der überraschende Erfolg von Büchern wie Das geheime Leben der Bäume: Was sie fühlen, wie sie kommunizieren oder Trends wie „Waldbaden“ zeugen von dem Bedürfnis nach Verbindung, statt Trennung und Erhebung. „If humans actually share a condition of precariousness, not only just with one another, but also with animals, and with the environment, then this constitutive feature of who we ,are‘ undoes the very conceit of anthropocentrism“, schreibt Judith Butler.3
Neue Emotionen und psychische Bewältigungsmechanismen
Mit der Abschiedszeremonie für den Tod des Gletschers Okjökull auf Island (siehe auch den Beitrag des isländischen Autors Andri Snær Magnason ab S. 47), aber auch mit den Fridays for Future-Demonstrationen oder Tierrechtsmärschen, entstehen neue gemeinschaftliche Erfahrungsräume und Trauerrituale, für die es bislang weder einen sozialen und linguistischen Ausdruck noch eine allgemein anerkannte Legitimation gab. Sie erinnern in ihrer Zielsetzung entfernt an „Die-Ins“ und die öffentlichen Trauerrituale um AIDS-Tote zu Anfang der 90er Jahre, bei denen Asche der Verstorbenen vor dem Weißen Haus verstreut wurde, wodurch die Aufmerksamkeit auf eine gesellschaftlich ignorierte und tabuisierte Wirklichkeit gelenkt werden sollte. Auch die Kunst schafft neue Erlebnisräume für die schmerzlichen Verlusterfahrungen, wie die Ausstellung Störende Wahrheiten in Lorentzweiler in diesem Herbst zum Thema Anthropozän, die Henning Marmulla besucht hat (ab S. 53).
Es ist eine Frage von ethischen und sozialpolitischen Bedingungen, welches Leben sozial wertgeschätzt und somit der Trauer würdig ist und welche kulturellen Konventionen dafür bereitstehen. Öffentlich Trauer zu bekennen für den Verlust eines Familienmitglieds ist vergleichsweise einfach, bei dem Verlust eines Haustieres wird es schon schwieriger. Kaum denkbar schien bis vor kurzem jedoch ein Betrauern von Naturphänomenen – jedenfalls nicht, ohne ein Stirnrunzeln des Gegenübers zu riskieren.
Mittlerweile setzt sich jedoch die Wissenschaft mit der Verlusterfahrung auseinander. Die natürliche und legitime psychische Reaktion auf den zurzeit erlebten oder erwarteten Verlust von Landschaften, Ökosystemen, Arten und der damit verbundene Identitäts- und Heimatverlust wird in der anglophonen Literatur als ecological grief bezeichnet. Depression, Suizidtendenz, posttraumatische Belastungsstörung, Hilflosigkeit, Wut, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zählen zu den möglichen Symptomen. Stellenweise wird die ökologische Trauer als die fundamentale menschliche Erfahrung im Anthropozän beschrieben. Die Hoffnung liegt jetzt darin, dass aus dieser gemeinsamen Trauer Kraft und Fantasie für neue Umgangsweisen mit unserer Umwelt entstehen. Norry Schneider berichtet in seinem Beitrag (ab S. 31) etwa über gemeinschaftliche Resilienz und die Notwendigkeit, kollektiv nach neuen Wegen zu suchen.
Angst und Hoffnung im Anthropozän
Zwischen Dystopie, dem ins Bewusstsein gerückten aktuellen und noch weiter zu erwartenden Verlust, und Utopie, der Hoffnung auf eine harmonischere Welt durch den Wandel unserer Lebens- und Wirtschaftsweise, zwischen der Rolle als Sünder und Retter, versucht der Mensch im Anthropozän sich zu erden, sucht sich selbst und einen Zugang zu anderen Lebewesen.
Man wird aufgrund dieser emotional-spirituellen Komponente den Eindruck einer neuen Sehnsucht nach Gaia nicht los. Es geht heute jedoch nicht mehr um Eskapismus, sondern um die individuelle und kollektive Suche nach einer neuen Harmonie im Hier und Jetzt. Dem Anthropozän kann man eh nicht entfliehen. Goa als Sehnsuchtsort hat daher ausgedient; Greta Thunberg bahnt sich ihren Weg nach New York vor die UN-Vollversammlung. Im Zuge der Transformation, deren Zeug*innen und Akteur*innen wir sind, kann es sicherlich zu mehr oder weniger hilf- und sinnlosen Aktionen kommen, aber auch zu solchen mit großer politischer Gestaltungskraft. Die eher nach innen gerichteten und spirituell angehauchten Ansätze haben immer noch den Verdienst, dass sie auf Prinzipien von Empathie, Gleichheit und Interdependenz beruhen und sich so implizit gegen ein System stellen, das auf Ausbeutung und exponentiellem Wachstum fußt. Neue emergency practices wie die von Samuel Hamen vorgeschlagene Verweigerung des Produktionsparadigmas im anthropozänen Literaturbetrieb zeigen, wie die Idee der Nachhaltigkeit konsequent durch alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche hindurch dekliniert werden könnte. Und auch über die immensen Folgen unseres Datenverbrauchs, darauf weist Niklas Jordan (ab S. 43) hin, sollten wir uns Gedanken machen.
„Verhaltensänderung oder Systemänderung?“, fragt Francis Schartz in seinem bereits angesprochenen Beitrag. Es ist in der Tat nicht damit getan, dass das Individuum oder das Kollektiv schuldbewusst Zeit- und Energieressourcen in neue emergency practices, meditative Naturerfahrungen oder Demonstrationen steckt, dass Notstände ausgerufen werden, ohne dass wirkliche strukturelle Veränderungen stattfinden mit dem Ziel, die Lebensqualität aller Lebewesen, statt die Lebensstandards für wenige, zu verbessern.
Doch wer sind wir eigentlich, fragt sich Hans Ulrich Gumbrecht in diesem Dossier (ab S. 39), die vorherigen Generationen für die Umweltzerstörung implizit zur Verantwortung zu ziehen und unsere Mitmenschen und die nächsten Generationen zu einer anderen, weniger bequemen, Lebensweise anzuhalten? Aber wer sind wir denn, könnte man auch entgegnen, den noch ungeborenen Menschen ihre Lebensgrundlage zu zerstören? Wenn wir Ihnen mit diesem Dossier Informationen an die Hand geben, um zu eigenen Antworten zu gelangen, haben wir ein wichtiges Ziel schon erreicht.
- Colin N. Waters et al., „The Anthropocene is functionally and stratigraphically distinct from the Holocene“, in: Science 351 (2016), 6269, S. 137.
- https://www.commondreams.org/views/2015/11/20/climate-change-violence (letzter Aufruf: 30. November 2019).
- James Stanescu, „Species Trouble: Judith Butler, Mourning, and the Precarious Lives of Animals“, in: Hypatia 27 (2012), 3, S. 567-582.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
