Der organisierte Tierschutz kann bald seinen 200ten Geburtstag feiern. Als dessen Ursprung gilt die Gründung der Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals (RSPCA) 1824 in London – ausgerechnet im Old Slaughters Coffee Shop –, die sich damals für verbesserte Arbeitskonditionen für Kutschpferde einsetzte.

Fast 200 Jahre Aktivismus später sind die Pferde vor den Droschken und Fiakern in New York, Wien und anderen Großstädten immer noch ein Thema von Tierschutzorganisationen. Neue brisante Themen wie die Massentierhaltung und Schlachtung, die nicht tiergerechte Haltung von so genannten Haustieren, Tierexperimente und- transporte sind hinzugekommen.

Der globale Fleischkonsum wächst dabei weiter ungebremst. Aktuell wird geschätzt, dass weltweit über 3000 Tiere1 pro Sekunde geschlachtet werden – das wären 160.000 Lebewesen während der Lektüre dieser Einleitung ins Dossier. Bis 2050 soll diese Zahl noch einmal um 85 Prozent wachsen2.

Auch hierzulande ist die Anzahl der Schlachtungen, „sowohl von Stück Vieh als auch in Tonnen Schlachtgewicht“, nach den Agrarstatistiken des Service d’économie rurale, steigend. Der Prozentsatz der Einwohner*innen, die sich als Vegetarier bezeichnen, ist laut TNS-ILRES von 2017 auf 2018 von drei auf zwei Prozent gesunken. Zudem ist Tierhaltung in großen Beständen kein rein ausländisches Phänomen – so gibt es z.B. auch bei uns drei Betriebe mit mehr als 5001 Legehennen und 28 Betriebe mit mehr als 1000 Schweinen3. Ende 2017 hat ein versteckt aufgenommenes Video in einem luxemburgischen Schlachthof für öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt und Paul McCartneys Zitat „Wenn Schlachthäuser Glaswände hätten, würde niemand mehr Fleisch essen“ in Erinnerung gerufen. Die aktuelle Mensch-Tier-Beziehung führt zu einem extremen Widerspruch zwischen dem Schwein auf dem Teller, mit der körperlichen und psychischen Qual, die damit für das Tier einhergeht, und dem Hund auf dem Sofa, für dessen körperliches Wohlbefinden eine ganze Armada an Dienstleistungen und Produkten bereitsteht. Alle, vorab die Tiere, aber auch das Tier Mensch, leiden an dieser Situation. Menschen in Drittländern müssen infolge der Tierfuttermittelproduktion für den Westen hungern. Osteuropäische Schlachtarbeiter werden elend in Massenhaltung untergebracht und verdienen einen Hungerlohn für ihre abstumpfende Arbeit. Massentierhaltung führt zu katastrophalen Konsequenzen für das Ökosystem und ist für den Klimawandel mitverantwortlich.

In der Theorie müsste sich die Sache anders darstellen. Je weiter die Erkenntnisse der Verhaltensforschung voranschreiten, desto offensichtlicher werden die Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier. Der rechtsphilosophische Diskurs über Tierrechte und Tierwürde ist vor diesem Hintergrund an einem hochinteressanten Punkt angelangt. Das Konstrukt „Tier“ macht zurzeit einen normativen Wandel durch: von einem Objekt, welchem, zumindest manchmal, Mitleid entgegengebracht wird, zu einem mit Eigenwert ausgestatteten komplexen Subjekt mit Individualität, dem Respekt gebührt. Sein gesellschaftlicher Stellenwert ist damit in Frage gestellt.
Im angloamerikanischen Raum ist sowohl in den Geistes- und Sozialwissenschaften als auch in den Naturwissenschaften bereits die Rede von einem „Animal Turn“, einem noch ergebnisoffenen Perspektivenwechsel und einer Neubetrachtung des Tieres jenseits jeglicher Anthropomorphisierung. Neue Begriffe wie „anymal“ oder „non-human animals“ tauchen auf. Weit entfernt von einem Ausdruck wie „Stück Vieh“ stehen sie für eine neue Sichtweise auf das Mensch-Tier-Verhältnis.

Auch außerhalb des akademischen Rahmens wird das Hinwenden zum Tier heute nicht mehr als „Escapism“ oder „das defaitistische Flüchten der Neurotiker, Frustrierten und Lebensunfähigen aus der anspruchsvolleren menschlichen Gesellschaft“ angesehen, wie Nelly Moia 1975 bedauernd feststellte4. Spätestens seit Richard David Precht oder sein französisches Pendant Aymeric Caron sich mit dem Tier beschäftigen, ist das Thema sexy und wirtschaftlich lukrativ. Sogar der entpolitisierte und ethisch meist wenig reflektierte Lifestyle- und Gesundheitsveganismus hat sich zu einem wachsenden Markt entwickelt, an dem sich viele Unternehmen, darunter auch Fleischkonzerne, die nun auch vegane Produkte in ihr Assortiment aufnehmen, bereichern. Im öffentlichen Raum wird zudem Pelzträgerinnen und Foie-Gras-Genießern mit immer größerer Verachtung begegnet. Auf der politischen Ebene formieren sich in den Nachbarländern Luxemburgs politische Parteien, in deren Programm das Mensch-Tier-Verhältnis eine zentrale Rolle einnimmt. Angeführt seien hier die V-Partei³ – Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer in Deutschland, oder Carons Rassemblement des écologistes pour le vivant (REV) in Frankreich.

Die gute Nachricht, die gefeiert werden darf: Der Tierschutzgedanke ist aus der Birkenstock-Fraktion ins Mainstream gerückt. Die schlechte: Er muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er dort zur langfristigen Aufrechterhaltung von strukturellen Missständen und banalisierter Gewalt beiträgt. Diesem Paradoxon wollen wir in diesem forum-Dossier auf den Grund gehen. Wir werden dabei einer pluralistischen sozialen Bewegung begegnen, die momentan zu einer immer ausdifferenzierteren Debatte, mit noch ungewissem Ausgang, beiträgt.

1 Der generalisierte Begriff ‚Tier‘ wird in den HumanAnimal-Studies weitgehend abgelehnt, weil die Darstellung der Tiere als homogene Masse nicht der Realität entspricht und diese Vereinfachung nicht zum weiteren Verständnis der Tier-Mensch-Beziehung beiträgt. Der besseren Lesbarkeit halber wird der Begriff dennoch hier verwendet.

2 Fleischatlas 2018. Dossier und Fakten zu Tieren als Nahrungsmittel. Heinrich-Böll-Stiftung, BUND, Le Monde Diplomatique. Berlin, 2018.

3 Quelle: Administration des services techniques de l’agriculture, Service de la production animale.

4 Nelly Moia, Für die Tiere. Esch-sur-Alzette, 1992.

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