Mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen unter dem Corona-Regiment

Wer mit Kindern, Jugendlichen oder Heranwachsenden zusammen unter einem Dach lebt, in welcher Familiensituation auch immer, für den waren die letzten 15 Monate unter den Anti-Pandemie-Regulierungen eine sich stetig steigernde Quälerei, deren Ende noch offen ist. Über die äußeren Belastungen und Einschränkungen hat man noch recht oft gesprochen. An Appellen, Empfehlungen, Anordnungen und Maßregelungen fehlte es nicht; eher zu viel von allem. Die Kinder und Jugendlichen sind als Gesellschaftsgruppe in meinen Augen jedoch mit der größten Wucht getroffen worden: Einschränkungs- und Leidensfähigkeit sowie Geduld, alles wurde einfach so – verlangt. Dann ließ man sie allein.

Der emotionale Hebel, an dem die Gesellschaft ansetzte, um das verlangte, gefahrenabwehrende Verhalten zu erreichen, lautete: Wenn du nicht brav bist, sterben deine Großeltern oder die deiner Freunde… Das ist unglaublich brutal, nicht? Denn es schrieb vorauseilend eine Kollektiv-Schuld ins Stammbuch aller Familien, für einen Vorgang, den sie mitnichten zu verantworten hatten. Die Volllast der Bürde, auch als Konsequenz leichtfertigen politischen, wirtschaftspolitischen Handelns, die hatten Familien, Kinder und Jugendliche klaglos, kommentarlos und nahezu unbeachtet zu ertragen. Anfangs hatte der Lockdown noch eine surreale, abenteuerliche, ferienähnliche Anmutung. Man musste noch improvisieren, sich organisieren, die Möglichkeiten eruieren, Kommunikations- und Informationstechnik aktualisieren; der Kampf hatte noch den Reiz des Neuen, man „freute“ sich über jeden gelungenen Coup. Die Kids freuten sich über mehr Digitales, neue Handys, Computer, aber auch über mehr Kernfamilie, zumindest meistens, und sie gaben ihr Bestes. 

Aber dann stellte sich heraus, dass die Plage und die mit ihr verbundene Plackerei nicht in zwei Wochen vorbei sein würden. Und dass jeder Trugschluss, der dem Schwarmsehnen nach Normalität und Reset entsprang, einen hohen Blutzoll abverlangte. Und als das (viel zu) langsam ins allgemeine und individuelle Bewusstsein vordrang, wurde es für Familien mit Kindern und die Heranwachsenden und Jugendlichen richtig schwierig, immer schwerer erträglich. So viele Monate Ausnahmezustand in jeder nur denkbaren Hinsicht und Lebensebene, der Entzug sämtlicher Freiheiten, die man eben noch ja gar nicht als „Freiheit“ definiert hatte, das völlige Zurückwerfen auf den kleinstmöglichen Bewegungsradius, auf die kleinstmögliche Keimzelle allen Lebens, die Familie und sich selbst, bar jeder Routine mit derartigem Selbstbezug und Selbstmanagement, gar Selbstdisziplin. Das innere Erleben bestimmt mehr und mehr Kopf, Körper und Herz, aber es wird so wenig darüber gesprochen. Mit wem auch?

Heranwachsen in Isolationshaft

Was bedeutet es, wenn man drei Jahre alt ist und die Hälfte seiner Lebenszeit im Corona-Abwehr-Modus verbracht hat? Wie lernt man, in den Gesichtern von maskenbedeckten Menschen zu lesen? Wie lernt man Menschen kennen, wie, Vertrauen aufzubauen, gesundes Misstrauen zu entwickeln? Kann man eineinhalb Jahre Ausfallzeit in der körperlichen, körpersprachlichen, sprachlichen, geistigen, emotionalen Entwicklung nachholen? 

Was bedeutet es, wenn man sieben oder acht Jahre alt ist und die ersten beiden Schuljahre à distance, im Homeschooling, mit Zettelwirtschaft und einer rudimentären Online-Simulation von Schule verbringen musste? Wie wirkt sich das auf die kognitiven Entwicklungen aus? Das Lesen, Rechnen, räumliche Denken, kann man das im Alleingang unter erschreckend schlechter Computerstimulanz erlernen? Welche Defizite erwachsen aus dieser harten Unterbrechung?

Was bedeutet es, wenn man 12 Jahre alt ist, gerade auf die weiterführende Schule gehen sollte, sich auf Expansion und Erweiterung des Erfahrungshorizonts, erste Ablösung vom Elternhaus, mehr Gestaltungspielraum und mehr Eigenverantwortlichkeit gefreut hatte, und zack, völlig unvermittelt und unvorbereitet und unbegleitet in den „Einsam ist das neue Gemeinsam-Modus“ gebeamt wurde? 

Was bedeutet es, wenn man kurz vor seinem Schulabschluss stand, und keine Berufsmesse, keine Praktika, keine Fahrstunden, keine Diskussionsrunden im Freundes- und Bekanntenkreis oder gar in der Öffentlichkeit miterleben konnte? Wie trifft man eine Berufsentscheidung? Wie mutig ist man dann noch, menschenbezogene oder risikobehaftete, freie, künstlerische Berufe zu ergreifen? Und wie sehr trauert man seinen Träumen und Begabungen nach? Wie kann man sich artikulieren?

Auch für die Studienanfänger war es Isolationshaft, keine Kommilitonen oder nur als Blackboxes auf dem Schirm, mit den digitalen Formaten kämpfende Professoren in Briefmarkengröße. Studieren im Alleingang vor dem Bildschirm, kommunizieren mit Freunden vor und mit dem Bildschirm, entspannen vor dem Bildschirm, alles im zweidimensionalen Kistchen-Format. Was macht das mit dem im Kinder- und Jugendzeitalter äußerst volatilen Gehirn, wie reagiert es auf diese Rund-um-die-Uhr-Wirklichkeitssimulation, die nichts aber gar nichts mit Wirklichkeit zu tun hat? Meine Eltern, die ihre Kindheiten im Zweiten Weltkrieg durchmachen mussten, konnten bestimmte dadurch formatierte Reflexe bis ans Ende ihres Lebens nicht mehr ablegen – doppelte Wurstscheiben aufs Brot, dickfett Butter drunter, immer ein bisschen zu viel Vorrat von allem im Keller und im Kühlschrank: Weißt du Kind, im Krieg, da hatten wir nichts zu essen. Dieser Satz blieb und die Dominanz der Mangelerfahrung auch.

Spätfolgen

Ich kann nur mit großem inneren Erstaunen und Respekt feststellen, dass meine Kinder und viele andere gedeihen und sich – allen Widrigkeiten und kontraproduktivem Lebensmodus zum Trotz – erstaunlich gut entwickeln, im Sinne von „resilient“. Aber sie leiden trotzdem, zumeist klaglos, noch häufiger lautlos. Sie reden viel weniger, sie lachen viel weniger, sie essen mehr, sie bewegen sich weniger, sie ziehen sich in die digitalen Welten, auf die digitalen Formate zurück. Die Leichtigkeit des Werdens ist verschwunden. Sie kämpfen tapfer gegen die Tiefenfolgen der andauernden Corona-Beschränkungen an. Sie suchen sich ihre Nischen; Familien und Lehrer geben ihr Bestes, um Ausgleich zu schaffen, haben aber selbst mit dem Existenziellen zu kämpfen. Und dennoch geraten die Kinder immer mehr in Nöte, und bleiben doch erstaunlich unbeachtet von all den Krisenmanagern, die Virus, Wirtschaft, aufflammende Kriege im Visier haben und das leise Leiden hinter den Haustüren übersehen. Die viel zu langsam anlaufenden Studien sind erstaunlich oberflächlich; was wir aus den Erkenntnissen ableiten können, wissen wir noch lange nicht; die Regenerations-, Ausgleichs- und Wiedergutmachungs-Maßnahmen, das, was wir tatsächlich für unsere Kinder tun können, stehen noch in den Sternen. Vielleicht wollen sie im Danach auch gar nichts mehr von uns, weil sie eigene Wege gefunden haben, finden mussten, in all der Begegnungs- und Sprachlosigkeit der Corona-Epoche. Das Entsetzen, dem viele junge Menschen ausgesetzt waren, weil Menschen ihres Umfelds von einem Tag zum anderen einfach verschwanden, wie wird es verarbeitet?

Der Kern ist, dass wir die Uhren der Persönlichkeitsentwicklungen nicht zurückdrehen können. Die biologische, hochaktive Leistungskurve junger Menschen führt zu einer unauslöschlichen Prägung ihrer Gehirnstrukturen, ihrer Entscheidungsprioritäten und des Langzeitgedächtnisses. Es wird zunächst im Unterbewusstsein rumoren, wir kennen das von anderen traumatischen Erfahrungen. Das Leben wird stattfinden, Ausgleichshandlungen werden installiert: Süchte werden sich ihren Weg bahnen, Krankheiten werden sich festsetzen. Spätestens in der Lebensphase von Demenz und Alzheimer wird diese Isolationserfahrung wieder an die Oberfläche zurückkehren und den Erinnerungsrahmen bestücken. 

Dass reagiert werden wird, ist klar. Was derartig reduziertes und diffus erregtes, von Ungewissheit bestimmtes Aufwachsen für die aktive Gestaltung des Erwachsenenlebens bedeutet, ist noch lange nicht klar. Denn, wenn es überhaupt in den sozialen Fokus rückt, es schauen nur Menschen darauf, die in einer völlig anderen Normalität aufgewachsen sind. Können sie die Bedeutung dessen, was sie beobachten, in seiner Tiefendimension erfassen? Stellen wir die richtigen Fragen? Hören wir gut genug zu? Haben und schenken wir genügend Zeit für den Heilungsprozess? Nur eines dürfte jetzt schon feststehen: Alles wird sich anders anfühlen, andere Schlussfolgerungen, andere Lebensentscheidungen werden getroffen werden. 

Es verändert Kindheiten und Jugendzeiten in einer solchen Tragweite, dass man schon lange nicht mehr im Sms-Jargon darauf eingehen kann; es ist in seiner Vielschichtigkeit derartiges Neuland, Krieg ohne Kriegserfahrung, dass man über die Spätfolgen nur spekulieren kann. Was feststehen dürfte, ist lediglich, dass die kollektiv einschneidenden Veränderungen, die der Kampf gegen das Virus erforderte, massiven Einfluss auf die mentale, psychische, physische, geistige und seelische Substanz unserer Gesellschaft und ihrer Individuen haben werden. Manche werden daran zerbrechen, manche daran erkranken, manche unbeirrt ihres Weges gehen, und manche daran erstarken. Es ist ein gigantischer Feldversuch auf den Rücken unserer Kinder. Wir können nicht einfach so zur Tagesordnung zurückkehren, nicht einfach so weitermachen wie vorher. Für unsere Kinder wird nichts mehr sein wie zuvor.

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