Den rasanten Wandel Luxemburgs von der europäischen Provinzhauptstadt der 70er Jahre zur Global City der 2020er hat die Zeitschrift forum gewissermaßen als publizistisches Langzeitprojekt begleitet. Die großen Entwicklungen, die das Land räumlich, sozial und kulturell veränderten, lassen sich beim Blättern durch die alten Ausgaben dieser vielstimmigen Autorenzeitschrift gut nachvollziehen. Im Laufe der Jahrzehnte sind hier die Veränderungen aus den verschiedensten Perspektiven beschrieben worden: Von Stadtentwicklung und Urbanismus, über Wirtschaftsstruktur und Umweltschutz, Wohnungsfragen und Mobilität bis hin zu Demografie, Migration, Denkmalschutz und kulturellem Wandel spannen sich die Beiträge und Dossiers, die die Veränderungen beschreiben. Die neue Welt wurde in dieser Zeitschrift selten begrüßt, trotz der Annehmlichkeiten, die sie augenscheinlich bot. Hingewiesen wurde meistens auf all das, was an Wertvollem auf der Strecke blieb: das Braunkehlchen, die Stille, die Dorfkerne und Hinterhöfe… Der Boom des Finanzplatzes und die unerhörten Einnahmen, die durch die professionell organisierte Steuervermeidungsindustrie ab Mitte der 80er Jahre für den Staatshaushalt abfielen, haben, so scheint uns, auf die luxemburgische Gesellschaft am Ende gewirkt wie der „Besuch der alten Dame“ bei Dürrenmatt.
Wenn sich jemand die Mühe machen würde, das Archiv dieser Zeitschrift zu analysieren, käme er womöglich zu dem Ergebnis, dass in forum eine Art kollektive Trauerarbeit geleistet wurde. Die Kritik an der Entwicklung des Landes hatte häufig einen moralischen Anstrich (insbesondere mit Blick auf die Natur der Steuereinkünfte), sie war von Vorsicht geprägt (was die Auswirkungen auf Natur und Umwelt angeht), und sie hatte eine ästhetische Komponente – insofern sie auf einer bestimmten Vorstellung vom sinnvollen Leben basierte.
Diese selbstauferlegte publizistische Mission könnte langsam zu einem Ende kommen, denn es gibt nichts mehr zu betrauern. Die Welt ist nicht mehr, wie sie war, und was von der alten übrig bleibt, sind allerhöchstens Phantomschmerzen. Dieses seltsame Land hat seinen Platz mit an der Spitze der globalen Verwertungskette gefunden und die Wahl von Donald Trump hat allen, die daran mitgewirkt haben, nachträglich recht gegeben. Wir sind eingetreten in eine Art kalten Weltbürgerkrieg, und Luxemburg ist auf seine Weise ein Teil davon.
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Wenn wir heute von der Metropolisierung Luxemburgs sprechen, ist das eine Chiffre für die veränderte Dimension des Landes. Luxemburg ist natürlich keine Metropole im Sinne von Singapur, Paris oder selbst Rotterdam, aber das Großherzogtum hat in vielen Bereichen eine gewisse kritische Masse erreicht, die es zu einem ernstzunehmenden Mitspieler macht. Unter dem Begriff Metropolisierung (siehe den Beitrag von Markus Hesse auf Seite 29) lässt sich so eine Reihe von Phänomenen zusammenfassen, die in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen haben und die Stadt und Land grundsätzlich und außerordentlich schnell verändert haben. Da ist natürlich als erstes die sukzessive Einbindung seiner Wirtschaft in die weltweiten Finanzströme zu nennen, die den Standort mittlerweile zu einem der Zentren der Weltfinanz gemacht hat. Als zweites ist die Entwicklung seines Arbeitsmarktes zu nennen, der heute weit über die Grenzen ausstrahlt (knapp 50% der Arbeitskräfte wohnen im nahen Ausland). Damit einhergehend ist drittens die demografische Entwicklung zu nennen, die die Gesamtbevölkerung alle zehn Jahre in Sprüngen von 100 bis 150 Tausend Menschen wachsen lässt. Und schließlich sind die räumlichen Veränderungen zu nennen, die sich durch den Ausbau der Infrastrukturen, durch eine zunehmende Verdichtung der Städte und durch das Zusammenwachsen der Ortschaften zu einer kompakten Stadtlandschaft auszeichnen.
Damit ist in Luxemburg etwas „im Kleinen“ geschehen, was in vielen Städten des globalen Südens in den letzten Jahrzehnten in viel größerem Maßstab zu beobachten war. Bevölkerungswachstum, rasche Urbanisierung, weiträumige Vernetzung mit dem Umland und Einbettung in ein überregionales (in Luxemburg globales) Wirtschaftsnetz führen zu einer Neudefinition aller kulturellen, sozialen und politischen Strukturen.
Heute ist Luxemburg ein Raum, der Funktionen erfüllt und Opportunitäten bietet. Er wird genutzt von Menschen aus „aller Herren Länder“, die der Wunsch nach Wohlstand und Sicherheit verbindet und die im Gegenzug akzeptieren, dass sie sich in einem kulturell heterogenen Umfeld zurechtfinden müssen. Der Vielzahl von (nationalen, sprachlichen oder kulturellen) Gemeinschaften, die sich in Luxemburg begegnen, steht kein fester Block von Luxemburgern mehr gegenüber. Dieser macht formal zwar noch etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus, doch durch eine außerordentlich liberale Einbürgerungspolitik, die mehr und mehr aufweichenden Zugänge zum Staatsdienst und die durchaus zur Regel gewordenen binationalen Hochzeiten ist der Status des „Luxemburgers“ porös geworden. Unterschieden wird allenfalls zwischen den verschiedenen Einwanderungswellen und dem sozialen Kapital, das der Einzelne von seiner Familie mit auf den (Karriere-)Weg bekommt. Nationalität ist in diesem Kontext nicht mehr die Definition einer Schicksalsgemeinschaft, sondern eine juristische Notion, die den Einzelnen mit Rechten und Vorteilen ausstattet.
Eine Analyse der letzten Wahlergebnisse und der Eurobarometer-Umfragen lässt darauf schließen, dass nur etwa zehn Prozent der Luxemburger mit dieser Entwicklung generell nicht einverstanden sind. Diesem Teil der Bevölkerung begegnet die Regierung durch massive Investitionen in die Pflege der luxemburgischen Sprache (verbunden mit der Fiktion einer durch die Schule vermittelten Lingua franca) und einer neu ausgerichteten Erinnerungskultur. Diese wendet sich jetzt nachdrücklich von der Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg ab, der lange Jahre das Narrativ für nationale Einheit und Unabhängigkeit abgegeben hat. Stattdessen lässt sich die plötzliche Begeisterung für Großherzog Jean als Hinweis dafür interpretieren, dass in Zukunft der nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefundene Aufstieg Luxemburgs zur Wohlstands- und Innovationsinsel im Zentrum der „nationalen Erzählung“ steht, was einem sehr viel größeren Teil der Gesamtbevölkerung Anknüpfungspunkte für eine gemeinsame Identität bieten kann.
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Im weltweiten Wettkampf zwischen den Investitionsstandorten hat Luxemburg sein Profil geschärft: Wirtschaftliche Attraktivität verbunden mit hoher Lebensqualität und sozialem Frieden (siehe das Interview mit Landesplanungsminister Claude Turmes auf Seite 33) zeichnen das Land heute aus. Der politische Stillstand der 2000er Jahre unter der CSV ist überwunden und auch der Widerstand der ewigen Bürgermeisterin Lydie Polfer, „ihre“ Stadt in eine Großbaustelle zu verwandeln, ist durch die Macht des Faktischen gebrochen worden. In einer enormen Kraftanstrengung wird heute versucht, im Wohnungs- und Mobilitätsbereich nachzuholen, was während zwei Jahrzehnten versäumt wurde. Parallel muss eine weitere Baustelle in Angriff genommen werden, die die Struktur unserer Städte ebenso wie die Art und Weise unseres Zusammenlebens neu bestimmen wird. Die digitale Transformation stellt für die Zukunft des Landes die nächste große Herausforderung dar (siehe die Beiträge von Peter Opitz auf Seite 39 sowie von Constance Carr und Markus Hesse auf Seite 43). Anders als größere Länder oder Agglomerationen verfügt Luxemburg jedoch nicht über die Kompetenzen, um diesen Prozess aus eigener Kraft zu steuern.
Die Metropolisierung des Landes macht sich auch an neuen Herangehensweisen in Architektur und Urbanismus fest. Nachdem die traditionelle Dorfarchitektur und die innerstädtischen Reihenhäuser von Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend weggeräumt sind und Apartmenthäusern Platz gemacht haben, nähert sich auch die Epoche der freistehenden „Villen“ samt Doppelgarage und Thujahecke ihrem Ende. Stattdessen zeigt sich selbst in den Dörfern die Architektur urban und mehrstöckig. Wo es irgend geht, wird nachverdichtet, aus- und aufgebaut. Neue Konzepte des Zusammenlebens werden erdacht, die eine viel größere räumliche Nähe und mehr Interaktion zwischen den Nachbarn voraussetzen (siehe den Beitrag von Martine Hemmer zu den Plänen des Fonds Kirchberg auf Seite 53). Auch die Art und Weise des Bauens wird radikal hinterfragt. Mit der zirkulären (Bau-)Wirtschaft schleichen sich neue Reflexe und Kalkulationen in die Planung ein, die darauf abzielen, Ressourcen zu schonen und langfristig Werte zu erhalten (Patty Koppes und Paul Schosseler auf Seite 56). Ob diese Ansätze langfristig einen nachweisbaren, positiven Einfluss haben werden auf die gigantischen Mengen an verbauten, nicht wiederverwertbaren Verbundstoffen, wird sich zeigen müssen. Schließlich kann die Qualität eines Bauwerkes oder eines öffentlichen Platzes auch noch an anderen Kriterien gemessen werden als an Energieeffizienz und visueller Gefälligkeit: Die Klangqualität von Innen- und Außenräumen spielt eine große, oftmals ignorierte Rolle für das Wohlergehen in der Stadt (Milena Stoldt auf Seite 61). Mit ihrem Master in Architektur bietet die Universität Luxemburg seit kurzem einen Ort, wo über die Veränderung unserer gebauten Umwelt kontextbezogen nachgedacht werden kann (Carole Schmit auf Seite 47). Der erste Jahrgang dieses Studienganges, der in diesem Sommer seinen Abschluss gemacht hat, wird dringend gebraucht, damit die Metropolisierung das Land nicht flächendeckend in einen austauschbaren Ort nach Vorbild des in jeglicher Hinsicht missratenen Ban de Gasperich verwandelt.
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