Migration in der Kunst – Interesting Times?

Blickt man auf die künstlerischen Entwürfe, die Migration und Flucht thematisieren, so dominieren in letzter Zeit kollektiv(es) Entsetzen, Betulichkeit oder inszenierte Exotik. Die kritische Perspektive auf soziale Differenzen und die eigene Position bleibt bei vielen KünstlerInnen auf der Strecke.

An die Aufnahmen überfüllter Flüchtlingsboote haben wir uns längst gewöhnt, jeden Abend wird im Fernsehen die Frage gestellt, welches Land denn die Geretteten vom neuesten privat finanzierten Schiff im Mittelmeer übernimmt. In der Konsequenz stellen sich Abstumpfung, Hilflosigkeit oder zur Schau gestelltes Mitgefühl ein (jede, die auf der richtigen Seite steht, erklärt sich auf Facebook solidarisch mit Carola Rackete), oder aber Ängste, die nicht zuletzt durch inszenierte Bilder von Gewalt oder überfüllten Booten mit vermeintlich lethargisch herumsitzenden und ins Leere starrenden dunklen Menschen geschürt werden. Der ‚schwarze Mann’ wird noch wie vor hundert Jahren als apathisch-faul und gewalttätig dargestellt.

Die Flüchtlingsdokumentation Human Flow (2017) des Konzeptkünstlers Ai Weiwei zeigt auf der anderen Seite unangenehm, wie eng Selbstinszenierung und humanitäres Engagement zusammenhängen können. Angeblich geht es Ai Weiwei um die Darstellung der globalen Flüchtlingsströme; in seiner Dokumentation inszeniert er jedoch wiederholt vor allem sich selbst – effektsicher inmitten der Mittellosen. Wie also künstlerisch dar- und infrage stellen, was mit Bildern und Geltungsansprüchen bereits völlig überfrachtet erscheint?

Die schnörkellose Arbeit einer Künstlerin, die schon 2015 (im Bonner Kulturzentrum Kult41) auf einer Papierrolle stoisch Tausende schwarze Striche aneinanderreihte – jeweils ein Strich für einen Namenlosen im Mittelmeer Ertrunkenen – ist da wohl aussagekräftiger, einfacher und umso eindrucksvoller als so manches, eigentlich werbend gemeinte Flüchtlingsspektakel. Wem ist damit gedient, wenn Geflüchtete ihren Leidensweg ‚ergreifend’ nachtanzen und dies dann als Multikulti-Wohlfühlabend angelegt wird, wie es Sylvia Camarda und Serge Tonnar in dem Theaterstück Letters from Luxembourg (2016) vorführten? Dem Theater, den Flüchtlingen, den Theatermachern, den Zuschauerinnen? Ob Ästhetik notwendig subversive Aussagen transportieren muss, darüber kann man sich streiten, aber die Wiedergabe von Stimmung ist erst dann erkenntnistragend, wenn auch geeignete (künstlerische) Mittel gefunden werden. Eine Spiegelung ist interessant, wenn etwas zum Vorschein kommt, was man zuvor nicht gesehen hat.

Dieses Dilemma der zeitgenössischen Kunst trifft auch die Kunstbiennale. Auf das Motto hin, das der diesjährige Kurator der 58. Kunstbiennale in Venedig, Ralph Rugoff, mit May you live in interesting times in diesem Jahr ausrief, ergibt sich viel Bedeutungsschweres. Rugoff verweist darauf, dass 1936 der frühere britische Außenminister Sir Austen Chamberlain diesen Satz verwendete, um auf die ernsthafte Bedrohung Europas durch Nazi-Deutschland aufmerksam zu machen. „Wir bewegen uns von Krise zu Krise“, erklärte Chamberlain damals und soll dies mit dem dem Motto zu Grunde liegenden alten chinesischen Fluch illustriert haben.

Rugoffs chinesische Zauberformel, die den internationalen Kunstbetrieb zur kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart und Kreativität anspornen sollte, stellt auf die Bedrohungen in Europa ab, als da wären: Fake News, Klimawandel, der Aufstieg von Rechtspopulisten und die offenen Wunden der Migration, augenfällig an den im Mittelmeer Ertrinkenden.

Direkt am Kanal bei den Arsenale-Werkhallen in Venedig ist ein großes, rostendes Boot installiert. Dass Christoph Büchels monumentales Flüchtlingsboot Barca Nostra, anekdotisch damit aufgeladen, dass in dem gekenterten Boot 700-1.100 Menschen ertrunken sind, immer wieder in den Medien als „ergreifendes Symbol“ zitiert wurde, verweist auf die sich reproduzierende Hilflosigkeit.

Vis-à-vis des gestrandeten Schiffswracks ist eine Terrasse installiert, auf der die internationale Kunstschickeria sich mit Blick auf das rostige Boot zum Cappuccino schlürfen trifft – ob unbeabsichtigt oder gewollt, in jedem Fall werden die sensationslustigen Zuschauer so zum Teil des Kunstwerks. So kann sich der internationale Kunstbetrieb hier bei Espresso oder Aperol Spritz am Leid der Ertrunkenen laben.

Auch der deutsche Pavillon – seit seiner Umgestaltung 1938 ein monumentaler faschistoider Bau – hat sich in diesem Jahr dem Thema Migration gewidmet. Das von der Künstlerin Natascha Süder Happelmann abstrakt gestaltete Innere wurde zu einem „Ankerzentrum“ umgewidmet. Die iranisch-deutsche Installationskünstlerin, die sich einen Kunstnamen zugelegt hat, eigentlich Natascha Sadr Haghighian heißt, hat dort eine von Tonkompositionen umtoste, raumgroße Staumauer errichtet, wie sie in den 20er Jahren von einem deutschen Architekten zur Trockenlegung des Mittelmeers entworfen worden war. Daneben sind Steinbrocken und Obstkisten in einem Ensemble zu den Themen Migration, Zeit und Solidarität gruppiert. Von einem Band ertönen Pfiffe als Warnung vor einer Abschieberazzia, wie man sie auf Feldern bei der Ernte in Spanien hören kann. Da sich der Beitrag nicht direkt erschließt, verweigert er direkte Zustimmungsempfindungen. Gewiss ein Vorteil, doch fordert er auch sehr hohes Eigeninteresse.

Die Gestaltung des Luxemburger Pavillons durch den gebürtigen portugiesischen Künstler Marco Godinho setzt sich im Vergleich nicht nur ästhetisch ab – nicht zuletzt, weil die vielschichtige Installation die Suche nach den Identitäten der Geflüchteten widerspiegelt.

Unter dem Motto Written by water hat Godinho hunderte von Reisetagebüchern in Wasser getaucht und die durchnässten, zerfledderten Hefte zu einer raumfüllenden Installation aufgeschichtet. Parallel liest sein Bruder in einem Video aus Homers Odyssee, und Menschen berichten über ihre Migrationswege. Die riesige Installation der von Wasser durchtränkten Bücher ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Bewusst setzt Godinho in seinem Werk auf Dichotomien, wie Norden und Süden, Armut und Reichtum, um sie zu dekonstruieren. Mit dem Prozess, die Flüchtlingsroute umgekehrt zu gehen und die Hefte ins Mittelmeer zu tränken, überschichten sich die Seiten und wachsen ineinander, wie die vielen Identitäten, die im Großherzogtum zusammenlaufen. Der Luxemburger Pavillon ist damit ein reflektierter Beitrag von einem Künstler, dessen Familie selbst vor Jahrzehnten nach Luxemburg eingewandert ist. Godinho löst sich hier gänzlich von betulichen oder auf Exotik setzenden Inszenierungen des Fremden.

Dass der Luxemburger Pavillon nun erstmals bei der Kunstbiennale nicht mehr im abgelegenen Ca’ Del Duca angesiedelt ist, sondern – im Herzen der Biennale – in den Arsenale-Werfthallen, wo er bei der letztjährigen Architektur-Biennale seine Premiere erlebte, erweist sich eindeutig als Vorteil. Dank des nicht abreißenden Besucherstroms wurde seit der Eröffnung im Mai bis zum 23. August ein Rekord von 43.000 Besuchern (Stand 23. August 2019)1 verzeichnet. Der Band Le monde nomade de Mr. Godinho, den die Künstlerin Keong-A Song begleitend als eine Art Off-Projekt erstellt hat, wertet den diesjährigen starken luxemburgischen Beitrag zusätzlich auf.

Wie eine sinnlich-verspielte Annäherung an Migration auch gelingen kann, ohne der nationalen Selbstinszenierung zu erliegen, zeigt in diesem Jahr vor allem Frankreich. Dort hat Kuratorin Martha Kirszenbaum mit Vois Ce Bleu Profond Te Fondre einen Roadtrip von Paris in die Bretagne und zurück nach Venedig dokumentiert. Auch in diesem Biennale-Beitrag verschwimmen – ähnlich wie in der Videoarbeit Godinhos – Sprachen, Herkünfte und Identitäten, ohne dass die Botschaft einem mit dem Hammer eingebläut wird.

In den Beiträgen der 58. Kunstbiennale ist Virtuelles zudem omnipräsent. Dass beide Themen (Migration und Virtual Reality) komplementär zueinander funktionieren, zeigen Karolina Markiewicz und Pascal Piron seit Jahren eindrücklich in ihren Arbeiten. Mit ihrer nüchternen Dokumentation über nach Luxemburg Geflüchtete, Mos Stellarium (2015), setzte das Duo bereits ein überzeugendes Statement. Ihr Blick ist schonungslos und doch sensibel wie die dokumentarischen Porträtfotografien eines Patrick Galbats.2

Einige nationale Pavillons beschäftigen sich kritisch mit ihrer kolonialen Vergangenheit – und nehmen das Thema „Migration“ so von einer anderen Seite auf. Für Chile unternimmt dies die Künstlerin Voluspa Jarpa. Mit der Dreiteilung des Pavillons in ein Hegemony Museum, The Subaltern Portrait Gallery und ihrer Emancipating Opera gelingt es ihr, den eurozentrischen Blick auf ihr als exotisch wahrgenommenes Land umzudrehen und auf die exotische Natur der Kolonial­herren zu richten. Beeindruckend auch der argentinische Pavillon, dem man die feministische Handschrift der Künstlerin Mariana Tellerina und der Kuratorin (Florencia Battiti) anmerkt: El nombre de un país ist eine dunkle Höhle – zwischen Konzeptkunst und Surrealismus –, durch die die Besucher taumeln wie durch eine Hölle und aus der ihnen Machismus in Form von zu Schrott gefahrenen Edelkarossen und mit Blut bespritzten Jungfrauenkleidern entgegenspringt. Frida Orupabos’ Multimedia-Installation in der Hauptausstellung der Arsenale verdeutlicht, dass die Darstellung afro-amerikanischer Frauen in den Medien bis heute schematischen rassistischen Mustern folgt. Beim Ansehen der Kurzfilme meint man, die Zeit, in der Rosa Parks für Frauenrechte aufstand, wäre stehengeblieben. Wohltuend feministisch spiegelt sich in diesen Entwürfen wider, dass auf der diesjährigen Kunstbiennale erstmals fast zur Hälfte Entwürfe von Frauen präsentiert wurden. Zugewanderte oder Menschen, die geflüchtet sind, sieht man in Venedig hingegen meist nur hinter den Kulissen. Sie sind die weitgehend unsichtbaren Dienstleister, die die Toiletten putzen und die Abfälle der Künstler und Kunstkritiker entsorgen.

Dass mit der Performance-Oper Sun & Sea der Goldene Löwe für den besten nationalen Kunstbiennale-Beitrag in diesem Jahr an Litauen vergeben wurde, legt ein ähnliches Missverständnis der Biennale offen, wie es schon Büchels Barca Nostra-Installation offenbart. Auf einem aufgeschütteten Sandstrand liegende Menschen machen das, was Touristen am Strand eben machen: lesen, sich sonnen und eincremen. Dabei singen sie über ihre Jobs, Billigflieger und den Klimawandel. Als Zuschauer sieht man von einer Galerie auf dieses Szenario herab – und das im doppelten Wortsinne. Angeblich geht es in der Arbeit um den modernen Menschen, tatsächlich wohl eher um den nicht zum Kulturbetrieb gehörenden Massentouris­ten, der diese zu überfüllten Sandstränden fliegende Billigflieger nutzt. Jedenfalls muss man die sozialen Codes schon vorsätzlich ignorieren, um nicht zu sehen, wie einfach es für die in der Touristenhochburg Venedig versammelten Kulturkritiker ist, sich implizit nicht gemeint zu fühlen.

Obwohl diese Arbeit Migration gar nicht thematisiert, wird an ihr deutlich, worin auch viele künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Flüchtlingsdrama scheitern: nämlich vor allem an der Fähigkeit, Distanz zu sich selbst und einen sichtbaren Standpunkt auch auf seine eigene Existenz einzunehmen. Erst dann, wenn in diesem Sinne übergreifend existenziell argumentiert, verfremdet und „vorgeführt“ wird, gewinnt auch eine inhärent vermittelte Botschaft für andere an Glaubwürdigkeit.

  1. Communiqué de presse: Casino Luxembourg – Forum d’art contemporain.
  2. Zu Galbats vgl. auch den Beitrag von Carole Lorang in diesem Heft, S. 59-62.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code