Migration und Gender
Aktuelle Herausforderungen multikultureller Gesellschaften
Geschlechterverhältnisse in den modernen westlichen
Gesellschaften haben sich in den vergangenen Jahrzehnten auf ganz unterschiedliche Weise pluralisiert. Einerseits hat eine gesellschaftliche Liberalisierung stattgefunden, die inzwischen viele verschiedene Lebensformen anerkennt jenseits der immer noch dominierenden gesellschaftlichen Leitdifferenz der Heteronormativität — also der Vorstellung einer auf Mann und Frau bezogenen Geschlechterdifferenz als Normalfall. Die Akzeptanz findet nicht nur in der Lebenswelt statt, in der vielfältige Formen geschlechtlicher Existenzweisen inzwischen nebeneinander bestehen und die Lebenswelt deutlich sichtbar mitbestimmen. Auch rechtlich finden diese Lebensformen zunehmend Anerkennung, etwa wenn es um gleichgeschlechtliche Paare oder um Regen-
bogenfamilien geht. Was sich hier als ein Prozess der Liberalisierung zeigt und vor allem auf die Entwicklungen innerhalb der „eigenen“ (Mehrheits-)Gesellschaft bezogen wird, hat auch Gegenbewegungen zur Folge. Diese werden sowohl innerhalb der Mehrheitsgesellschaft verortet, insbesondere in konservativen, anti-liberal ausgerichteten Milieus, als auch im Kontext von Migration und Minderheiten.
Stereotype Wahrnehmung von
Migration und Geschlecht
Geschlechterverhältnisse unter Migrantinnen und Migranten werden vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung und der politischen Auseinandersetzung vielfach als traditionell und vom Standpunkt eines als modernen, westlichen Lebens als rückwärtsgewandt angesehen. Grundlegende Freiheitsrechte werden hier gerade in Bezug auf die Gleichberechtigung der Geschlechter als gefährdet angesehen. Dabei wird vielfach ein verengter, einseitiger und verallgemeinernder Blick auf Migrantinnen und Migranten sichtbar, die als eine homogene soziale Gruppe behandelt werden, die durch gemeinsame Werthaltungen und Orientierungen gekennzeichnet sind. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn sie sind nicht durch gemeinsame Werthaltungen und Orientierungen miteinander verbunden, sondern die Verbindung besteht allein in Bezug auf eine gemeinsam ausgeübte soziale Praxis, nämlich der Migration als Handlungsstrategie.1 Soziale Gruppen, die sich durch gemeinsame Werthaltungen und Orientierungen auszeichnen, finden sich nur dort, wo Gemeinschaften als konkrete soziale Gruppen sichtbar werden. Dies ist beispielsweise im Kontext von Familien und religiösen Gemeinschaften der Fall. Allerdings kommt es auch hier oft zu vorschnellen Urteilen und Verallgemeinerungen. Denn nicht jede Einwandererfamilie ist ein patriarchal strukturierter, an vormodernen Traditionen der Herkunftskultur orientierter sozialer Nukleus. Vielmehr unterscheiden sich Familien im Kontext von Migration in ihren Werthaltungen und Orientierungen und ihrer Vielfalt von gelebten, familialen Praxen kaum von denjenigen Familien, die als „einheimisch“ und modern wahrgenommen werden.2 Dies gilt ebenso für herkunftsbezogene Zuschreibungen im Kontext von Migrationsfamilien. Dabei werden vor allem geschlechterstereotype Zuschreibungen verwendet, wie etwa das Bild der unterwürfigen, ausgebeuteten und unterdrückten Frau und als Gegenbild das des Herrschaft über Frau und Kinder ausübenden, gewalttätigen Mannes. Der hier zu Tage tretende kulturelle Rassismus wurde von Etienne Balibar zu Recht als Immigranten-Rassismus charakterisiert, bei dem die Abwertung des Fremden mit der
Aufwertung des Eigenen korrespondiert.3
Rassismus als herrschaftsstabilisierende
soziale Praxis
Der Rassismus hat in diesem Zusammenhang eine herrschaftsstabilisierende Funktion, denn die Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten, etwa wenn es um Fragen der gleichen Rechte in Bezug auf die soziale, politische und kulturelle Partizipation geht, erfährt über die Zuschreibung von sozialer und kultureller Andersartigkeit ihre scheinbare Legitimation.
Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit Migrantinnen und Migranten, die religiösen Minderheiten angehören. Aktuell wird dies vor allen Dingen im Zusammenhang mit dem Islam diskutiert. Auch hier zeigt sich, dass das Bild des Islam in der westlichen Welt weniger durch Vielfalt als durch Homogenität und Verallgemeinerungen gekennzeichnet ist. Vor allem seit den Ereignissen des 11. September 2001 wird der Islam als eine gewaltbereite und gewalttätige Religion wahrgenommen. Weitere Anschläge und Ereignisse, die diesem folgten, etwa die Attentate in Madrid und London, oder auch zuletzt die Morde im Zusammenhang mit der französischen Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo in Paris, haben dieses Bild erhärtet. Diese Ereignisse haben sich fest ins kollektive Gedächtnis der west-lichen Welt eingeschrieben und tragen dazu bei, dass der Islam insgesamt als eine Bedrohung für die westliche Welt angesehen wird.
Multikulturelle Vielfalt und Geschlechterverhältnisse im Alltagsleben
Eine Bestätigung dieser Auffassung bzw. dieser Sorge findet sich dort, wo das Alltagsleben durch religiöse Vielfalt geprägt ist und es zu religiös-kulturellen
Auseinandersetzungen und Konflikten kommt. Diese
werden vielfach in Bezug auf Geschlechterverhältnisse thematisiert. Eine besondere Bedeutung hat in diesen Debatten das Kopftuch erlangt, das für unterschiedliche Praxen und Formen der Bedeckung und des Verhüllens des weiblichen Körpers steht.
Die Kontroversen hierzu sind zahlreich, sie reichen von innerreligiösen Auseinandersetzungen darüber, ob das Kopftuch tatsächlich ein religiöses Symbol darstellt und Frauen dazu verpflichtet sind es zu tragen, bis hin zu Kontroversen darüber ob das Tragen eines Kopftuches für die Frauen selbst Ausdruck von Autonomie und Freiheit ist, oder ob es von ihnen nicht vielmehr als eine Form von Ausbeutung und Unterdrückung wahrgenommen wird. Am Beispiel des Kopftuches kann nicht nur die Komplexität sozial-kultureller Herausforderungen illustriert werden, vor denen multikulturelle Gesellschaften in einer Welt wachsender Zusammenhänge stehen, hier zeigt sich auch, dass es in einer durch kulturelle und soziale Vielfalt gekennzeichneten Welt keine absoluten Lösungen für Konflikte und Auseinandersetzungen um die Geltung kultureller und normativer Wertorientierungen gibt.
Für Jürgen Habermas ergibt sich hieraus für demokratische Gesellschaften die Notwendigkeit Verfahren festzulegen, die im Konfliktfall zu Entscheidungen darüber führen können, welchen Forderungen in welcher Weise Geltung verschafft werden soll.4 In Deutschland etwa hat dies beispielsweise dazu geführt, dass einer Lehrerin das Unterrichten mit Kopftuch in einer staatlichen Schule untersagt und dies auch auf dem Rechtsweg bestätigt wurde. Inwieweit mit dieser Entscheidung auch Fragen von Geschlechtergerechtigkeit, Religionsfreiheit und Minderheitenrechten ausreichend Rechnung getragen wurde, bleibt dabei jedoch offen und wird
weiterhin kontrovers diskutiert.
Mehr Demokratie wagen!
Das Themenfeld Migration und Geschlecht ist durch vielfältige Kontroversen, Auseinandersetzungen und Konflikte gekennzeichnet, die das sozial-kulturelle Selbstverständnis von Gesellschaften auf grundlegende Weise betreffen. Migration ist hierbei aufs Engste mit Fragen der Anerkennung und Bedeutung von Minderheiten verknüpft. Dabei zeigt sich, dass individuelle Rechte auf Selbstbestimmung und Gleichberechtigung, insbesondere im Geschlechterverhältnis, in Konkurrenz und Konflikt mit den Rechten von Minderheiten oder den soziokulturellen Praxen von Familien und sozialen Gruppen treten können. An diesem Punkt ist die Gesellschaft selbst gefordert, und zwar sowohl die
zivilgesellschaftlichen als auch die politischen Akteure, einen Dialog zu führen und nach „praktikablen“
Lösungen zu suchen.
Dabei bedarf es auch des Mutes, zu vorläufigen und begrenzten Lösungen, zu einer Praxis des gemeinsamen Ausprobierens und des Neubeginnens —
denn auch wenn es „Nichts Richtiges im Falschen gibt“ (Horkheimer), so gibt es doch „Richtigeres“ (Brückner). Diesem Plädoyer für Pragmatismus, für eine Suche nach besseren Lösungen für gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen in einer Welt wachsender Zusammenhänge sollten wir uns anschließen, denn es gibt in der Moderne keine
Alternative zur multikulturellen Gesellschaft. Orientierungspunkte für eine solche Praxis sind Freiheit und Demokratie. Freiheit, weil sie einen Maßstab des Handelns liefert, und Demokratie weil sie uns immer daran erinnert, dass alle Menschen ein Recht und eine Stimme haben sollten, um in den Dingen mitentscheiden zu können, die alle angehen. Die Geschlechterverhältnisse bilden dabei auf vielfache Weise einen zentralen Indikator dafür, ob dies auch tatsächlich gelingt. u
Geisen, Thomas (2015). Lebensstrategien im Kontext von Arbeit und Migration. In: Geisen, Thomas/Ottersbach, Markus (Hrsg.), Arbeit, Migration und Soziale Arbeit. Prozesses der Marginalisierung in modernen Arbeitsgesellschaften. Wiesbaden: Springer VS (in print), S. 109-142.
Geisen, Thomas/Studer, Tobias/Yildiz, Erol (2013) (Hrsg.). Migration, Familie und soziale Lage. Beiträge zu Bildung, Gender und Care, Wiesbaden: Springer VS und Geisen, Thomas/Studer, Tobias/Yildiz, Erol (2014) (Hrsg.), Migration, Familie und Gesellschaft. Beiträge zu Theorie, Kultur und Politik, Wiesbaden: Springer VS.
Balibar, Etienne (1992). Der Rassismus: auch noch ein Universalismus. In: Bielefeld, Uli (Hrsg.). Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg: Junius. S. 175-188.
Habermas, Jürgen (1993). Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat. In: Gutmann, Amy (Hrsg.). Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main: S. Fischer.
S. 147-196.
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