Migration und Staatlichkeit

Ein Essay über die Erschütterung staatlicher Hoheit in der EU

„Immer wenn wir uns zu beiden Seiten hin überlegen und uns dann alles auf ähnliche Weise gemäß jeder der beiden Möglichkeiten zustande zu kommen scheint, sind wir ratlos, was von beidem wir tun sollen.“ Aristoteles, Topik

Die Flüchtlings- und Migrationsfrage hat die EU zum Sündenbock aller Lager werden lassen, die sich in der Auseinandersetzung mit der Zuwanderung aus dem Mittleren Osten, Asien und Afrika herauspolarisiert haben. Die gebetsmühlenartig wiederkehrenden Vorwürfe gehen in alle Richtungen: Die EU hält die Grenzen weit geöffnet. Die EU hat die „Festung Europa“ geschaffen. Die EU tut nichts Wirksames, um Afrikas Entwicklung zu stimulieren und präventiv gegen die Migrationsursachen vorzugehen. Die EU lässt die Menschen im Mittelmeer ertrinken und untergräbt damit das internationale Seerecht. Die EU schafft es nicht, die illegale Migration einzudämmen und die abgelehnten Asylantragsteller in ihr Ursprungsland rückzuführen. Die EU untergräbt u.a. mit der Erklärung EU-Türkei und ihrer Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache das internationale Flüchtlingsrecht. Die Situation in den von der EU eingerichteten und/oder mitfinanzierten sogenannten Hotspots spottet dem Recht auf Würde, das in den EU-Verträgen verankert ist. Der Grundtenor, egal aus welchem Lager die Vorwürfe kommen, ist: Die EU ist mit ihrer Migrationsagenda kläglich gescheitert. Oder?

Durchlässige Grenzen

Eine Rückbesinnung auf einige Basics ist bei der Klärung dieser Frage sehr nützlich. Zuerst eine nüchterne Feststellung: Die praktische Politik der EU in Sachen Migrationsagenda ist das, was im Rahmen der finanziellen, materiellen und humanen Mittel der Mitgliedsländer politisch machbar ist. Und das ist in der Tat suboptimal. Die EU-Außengrenzen, ein wesentlicher Angelpunkt in der Wahrnehmung der Migrationsfrage durch die Bevölkerung der Mitgliedstaaten, sind mit 150.000 „irregulären Einreisen über die EU-Außengrenze“ im Jahr 2018, so die Zahlen der EU-Kommission, in der Tat schlecht kontrolliert. Wohlbemerkt, „kontrolliert“ soll nicht mit „dichtgemacht“ gleichgesetzt werden, sondern mit der Idee einer kontrollierten Grenze als wesentlichem Attribut der Staatlichkeit, einer Grenze, an der ein jeder Asyl beantragen darf, der sich dazu berechtigt sieht, oder legal einreisen oder einwandern darf, wenn er dazu berechtigt ist. Das heißt aber nichts anders, als dass viele EU-Staaten ein wesentliches Attribut ihrer Staatlichkeit nicht im Griff haben und dass die freiwillig beigesteuerte innereuropäische Solidarität vor allem via Frontex auch nicht ausreicht, um dies zu kompensieren.

Die EU ist alles, nur keine „Festung Europa“, und sie wird es mit ihren 9.000 km Landaußen- und 42.000 km See­außengrenzen auch nie werden. Aber deren Kontrolle ließe sich verbessern. Ironischerweise sind es dieselben Rechten und Extremrechten aus Italien und den Visegrád-Ländern, denen ein abgekapseltes Europa als Ideal vorschwebt, die die Ausstattung von Frontex mit zusätzlichen Mitteln und staatsübergreifenden souveränen Kompetenzen im Dezember 2018 beim Salzburger EU-Gipfel verhindert haben. Anders gesagt: Nichts macht EU-Außengrenzen undichter als nationalistische Politik. Oder noch anders formuliert: Die Grenzen der EU als wesentliches Attribut der Staatlichkeit der Mitgliedsländer wären in einer EU-weiten Migrationspolitik immer noch besser aufgehoben als im nationalistischen oder souveränistischen Alleingang.

Die besondere Rolle des Staates in Europa

Die Frage der Staatlichkeit in diesem Beitrag so zu betonen, mag im Zusammenhang mit der Migrationsfrage zuerst befremdlich wirken, ist es aber nicht. Der Staat spielt in der EU eine tiefgreifendere Rolle als in anderen Regionen der Welt. Wie schaut es idealiter aus? Die Verfassungen der Staaten und die EU-Verträge, die im Sinne einer Teilung hoheitsrechtlicher Funktionen eine verfassungsmäßige Wirkung in den Mitgliedstaaten haben, gestehen den Bürgern Grundrechte zu, strukturieren demokratische Entscheidungsprozesse, setzen den Rahmen für eine komplexe Wechselwirkung von Rechten und Pflichten in der Beziehung zwischen Staatsorganen und Bürgern, garantieren die äußere und innere Sicherheit, festigen das staatliche, u. U. staatsübergreifende Gewaltmonopol und regeln das Geldwesen und den Staatshaushalt.

Besonders Westeuropa und Skandinavien zeichnen sich zudem dadurch aus, dass die Staaten auf nationaler Ebene, besonders seit 1945, eine wichtige Rolle als Garant und/oder Finanzierungsquelle eines komplexen sozialen Sicherheitssystems spielen, das, ausgehandelt mit den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, beitragspflichtig und mehrheitlich als solidarischer Generationenvertrag konzipiert ist.

Um an allen für ihn relevanten Vorgängen an diesem breit gefächerten, vertrauensbildenden, schützenden und solidarischen System teilnehmen zu können, muss ein jeder, die Bürger der jeweiligen Mitgliedstaaten und alle anderen, die sich auf dem Staatsgebiet eines EU-Staates aufhalten, gemeldet sein und in der Lage sein, die für sie zuständigen staatlichen Stellen verlässlich über ihren Personenstand zu informieren. Dazu gehören der Name und das formaljuristische Geschlecht (M/W/X), Geburtsort und -datum, Familienstand, Staatsbürgerschaft und Ähnliches, u. U. Angaben zu den Eltern bei der Geburt, zum Partner bei der Eheschließung oder der Begründung einer eingetragenen Partnerschaft usw. Diese Personenstandsdaten gehören zum Kern der hoheitlichen Auflagen, denn sie stellen die Basisinformation zur Bevölkerung dar, ohne die ein Staat seinen hoheitlichen Aufgaben nicht nachkommen kann. Daher die strenge Auskunftspflicht über den eigenen Personenstand durch den Bürger. Kurzum: Ohne Papiere, die den Stand einer Person belegen, läuft für diese in der EU und den Mitgliedstaaten theoretisch nichts.

Die Krise und die große Vertrauenskrise

Es ist natürlich nicht diese ideale, bis 2008 für seine Einwohner als halbwegs selbstverständlich geltende europäische Welt, die Flüchtlinge und Migranten betreten. Die von einem spekulativen und nicht effizient geregelten Finanzsystem ausgelöste Wirtschaftskrise hat die Staaten dazu gezwungen, sich auf EU-Ebene in Sachen Haushaltspolitik, Neuverschuldung, Vermeidung von Staatsbankrotten und Bankabwicklung neu aufzustellen. Auch wenn die Arbeitslosigkeit in der EU seitdem wieder zurückgegangen ist, gestaltet sich das durchschnittliche Wachstum eher kriechend, ganz anders als es EU-Rat, EU-Kommission und EZB mit den großen Privatisierungswellen und der Betonung des unverfälschten Wettbewerbs seit Anfang des Jahrhunderts in Aussicht gestellt hatten. Aber was noch problematischer ist: Die Krise hat zu weitgehenden Abstrichen in den meisten sozialen Absicherungssystemen geführt. Die mit der Privatisierung der Profite einhergehende Vergesellschaftung der Verluste während der Krise und die damit verbundenen Unsicherheiten für Menschen mit kleinen oder mittleren Einkommen haben, wie es mehrere soziale Aufstände und politische Radikalisierungsprozesse in der EU zeigen, zu einem einschneidenden Vertrauensverlust in EU, Staat, Demokratie und die Strukturen der jeweiligen nationalen Sozialverträge und -versicherungssysteme geführt.

Dazu kommen je nach Land die täglichen Nachrichten über marode Infrastrukturen, überlastete Gesundheitssysteme, immer teurer werdende weiterführende Bildungswege, galoppierende Mieten und Immobilienpreise im Umkreis der Wirtschaftsmetropolen, zerbröselnde Ersparnisse des Mittelstands wegen der Niedrigzinspolitik der EZB, Preisexplosionen bei Gas, Strom und Kraftstoffen, steigende gefühlte Unsicherheit im öffentlichen Raum bis hin zur Entstehung von rechtsfreien Räumen, Herausforderungen der Autorität der Staaten durch multinationale Konzerne über die massive Steuervermeidung oder die Umgehung der Umweltvorschriften zu Lasten von Kunden, Normalverdienern und einfachen Steuerzahlern, unkontrollierbare Umweltbelastungen und entsetzte Ohnmacht gegenüber dem Klimawandel, ineffiziente und ungenügend ausgestattete Streitkräfte im Kontext steigender geopolitischer Instabilität, wiederholte Verstöße gegen die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit durch mehrere Regierungen von EU-Mitgliedstaaten. Das sind alles Bereiche, in denen die EU oder ein Teil der Mitgliedstaaten aktiv werden müssten, aber sichtlich überfordert oder nicht motiviert sind.

Dennoch: Von den durch diese gefährliche Gemengelage stark und multipel verunsicherten Bürgern wird weiter verlangt, dass sie sich wie vor der Krise an ihre Verpflichtungen gegenüber dem Staat halten, ohne dass es zu fühlbaren positiven Entwicklungen in den meisten oben genannten Problembereichen kommt. Dass es inzwischen so etwas gibt wie die interdisziplinäre Kollapsologie, sagt in diesem Zusammenhang vieles über die kulturelle Atmosphäre und die immer schwerer zu beantwortende Sinnfrage in jenem EU-Europa aus, in dem Flüchtlinge und Migranten ihre Zukunft sehen.

Die Rückzieher der EU in der Migrations­agenda seit 2015

Zum allem Überfluss wurden im Rahmen der Migrationsagenda der EU als Resultat der Uneinigkeit und Uneinsichtigkeit ihrer Mitgliedstaaten in die lebenswichtige Solidarität so grobe Fehler begangen, dass die Staatlichkeit aller darunter gelitten hat.

Strukturell wurden Länder wie Italien und Griechenland in einem engstirnigen Beharren auf die Dublin-Regel des Erstankunftslandes seit über zehn Jahren allein gelassen. Über die Folgen dieser Belastung für beide Länder und ihre politische Stabilität und Orientierung wurde viel geredet, aber die Quotenregelung, die Abhilfe bringen sollte, war schon von der Konzeption her nur ein Tropfen auf den heißen Stein und wurde nicht einmal richtig umgesetzt.

Dann, als das Scheitern der Quotenreglung auf der Hand lag, hat die Kommission im September 2017 beschlossen, den am 22. September 2015 unter luxemburgischem EU-Ratsvorsitz durchgesetzten obligatorischen Quoten-Mechanismus der Notfall-Umsiedlung von Griechenland und Italien in andere EU-Länder von 120.000 Personen, die international Schutz brauchen, nur noch auf freiwilliger Basis weiterzuführen, obschon der EUGH kurz vorher die Klage von Ungarn und der Slowakei gegen den Ratsbeschluss abgeschmettert hatte. Von heute aus betrachtet ist dies die erste von mehreren Entscheidungen, mit der die EU ihren rechtlichen Autoritätsanspruch nach innen selbst aufgegeben hat.

Ein anderer großer Fehler besteht seit 2017 im Paktieren mit verschiedenen Milizen in Libyen, die Migranten in Lagern zurückhalten bzw. sie mit von der EU gestellten Schnellbooten an die libysche Küste zurückführen und in Lager sperren, in denen ihre persönliche Integrität, ihre Würde und ihr Leben ständig bedroht sind. Damit ist zwar die Ankunftszahl von Flüchtlingen an den nördlichen Mittelmeerküsten stark gesunken, aber der generationsübergreifende, strategische Schaden, den dieses schlechthin Schande bringende Verhalten über die Kanäle der globalen Narrative verursachen wird, geht weit über die Tatsache hinaus, dass die EU ihren Anspruch auf Leadership in Sachen Menschenrechte international verspielt hat.

Und als ob ein schwarzes Loch ihr nicht genüge, hat die EU im März 2019 auf Druck des extremrechten Flügels der italienischen Regierung jene Schiffe und Kommunikationsmittel zurückgezogen, die im Rahmen der ansonsten stark angefochtenen Operation SOPHIA seit 2016 die Rettung von immerhin 45.000 Personen besonders auf der Zentralen Mittelmeerroute ermöglicht hatten. Die Operation wurde auf vier über dem Mittelmeer kreisende Aufklärungsflugzeuge reduziert. Seitdem weiß kaum einer mehr, was sich wirklich auf dem Mittelmeer abspielt.1 Den Zahlen des IOM von Juni 2019 ist zu entnehmen, dass die Sterblichkeitsrate bei der Überfahrt auf der Mittleren Mittelmeerroute mit 343 Toten auf 3.403 Ankünfte in Italien und Malta bei zehn Prozent liegt, eine Verdoppelung gegenüber 2018, wo in derselben Periode 761 Tote auf über 16.000 Ankünfte verzeichnet wurden, mit einer immer noch verheerend hohen und doch viel niedrigeren Sterblichkeitsrate von unter fünf Prozent.

Die privaten Seenotretter als Retter der Staatlichkeit

Im Zusammenhang mit diesen Beispielen versagender Staatlichkeit und dem abgeschalteten Gewissen und Wegsehen vieler, die sie tragen sollten, gibt es in Europa, aber nicht nur dort, eine weit zurückreichende historische Erfahrung mit Personen und Verbänden, die staatliches Versagen nach bestem Wissen und Können aufzufangen versuchen. Die Affäre um das private Seenotrettungsschiff Sea-Watch 3 und seine Kapitänin Carola Rackete, die der rechtsextreme italienische Innenminister­ versucht hat, als Retterin von Menschenleben zu kriminalisieren, womit er vor einer immerhin noch unabhängigen Gerichtsbarkeit des eigenen Landes kläglich gescheitert ist, gibt ein konzentriertes Bild der Spannungen ab, die sich um die Migrationsagenda zusammenballen.

So zeigt sich, dass das Völkerrecht zwar die Rettung in Seenot regelt, aber nicht das Absetzen und die Aufnahme von auf einem Rettungsschiff sich nicht unmittelbar in Not befindenden Geretteten in dem nächsten, auch aus einer Menschenrechtsperspektive betrachtet, sicheren Hafen. Darüber darf ein souveräner Staat, so auch Italien, selbst entscheiden. Das hat dazu geführt, dass Privatschiffe schon seit längerer Zeit nur noch äußerst selten Migranten in Seenot aufnehmen, sprich ihre Boote umfahren und wegsehen. Diese lückenhafte und folgenreiche Rechtslage wurde sogar in einem Entschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 25. Juni 2019 in Straßburg bestätigt, als Carola Rackete, nach der Übernahme von 13 Kranken und Verletzten der Sea-Watch 3 durch die italienische Flotte, durch einen Eilantrag die Aufnahme der restlichen 40 Geretteten durch Italien erzwingen wollte. Erst die Notsituation an Bord, die durch die lange Wartezeit und die wiederholten Ablehnungen durch andere EU-Mittelmeeranrainerstaaten entstand, veranlasste sie dann, die Landung zu forcieren.

Die Suche nach einem Aufnahme­mechanismus für die Geretteten

Solche Vorgänge mit ihrem Rattenschwanz an ad-hoc-Entscheidungen in Sachen Aufnahme und Verteilung der gelandeten Migranten und Flüchtlinge in willige Länder werden sich wiederholen, solange es keine EU-weite Prozedur ebendieser Aufnahme und Verteilung gibt. Sie dokumentieren ein Stück gescheiterte Staatlichkeit, dessen man sich inzwischen sehr bewusst ist in Deutschland, Frankreich, Luxemburg und anderen Ländern, die sich über den ganzen Sommer bereit erklärt haben, Menschen, die in Italien gelandet sind, bei sich aufzunehmen. Nach der Affäre um die Sea-Watch 3 ist eine Art historischer Druck entstanden, der die Ehrenrettung elementarer Staatlichkeit nicht mehr den privaten Seenotrettungsschiffen überlassen will. Obschon die Sache wegen der sommerbedingten zahlreicher werdenden Überfahrtsversuche auf der Agenda des informellen Treffens der EU-Justiz- und Innenminister vom 18. Juli 2019 stand, hat der EU-Rat dann trotzdem das klägliche Bild zerrütteter binnen- und zwischenstaatlicher Verhältnisse, vor allem in Bezug auf die Menschenrechte, abgegeben.

Im Bewusstsein, dass die Situation so nur eskalieren wird, hat der französische Außenminister Le Drian zusammen mit seinen deutschen und finnischen Kollegen am 22. Juli die Migrationsminister williger Staaten, unter ihnen Luxemburg, nach Paris geladen, um u.a. über einen neuen Mechanismus der Rettung, Aufnahme, Verteilung und u.U. Rückführung der aufgenommenen Flüchtlinge und Migranten so zu diskutieren, dass die Grundrechte gewahrt bleiben und die Beteiligung aller EU-Mittelmeeranrainerstaaten wieder garantiert werden könnte. Eine Neuauflage der Operation SOPHIA mit der doppelten Mission, aus der Seenot zu retten und die Schlepper zu bekämpfen, wurde ebenfalls von Jean Asselborn und in den Tagen danach von der IOM aufgeworfen, jedoch nicht – soweit es in die Öffentlichkeit drang – von einem Staat, der über die dazu notwendigen Kriegsschiffe verfügt.

Bezeichnend war, dass das Ganze außerhalb des EU-Rahmens stattfand, auch wenn der finnische Ratsvorsitz dem Treffen seine Patronage gewährte und man auf eine wie auch immer geartete verstärkte Zusammenarbeit, wenn möglich innerhalb der EU-Verträge, hinarbeitete. Dass die Bemühungen um eine Koalition der Willigen aber Sinn machten, bewies das Ertrinken von über 100 Migranten vor Libyens Küste am 25. Juli und die Weigerung Salvinis am Folgetag, die eigene Küstenwacht mit über 140 Geretteten andocken zu lassen.

Angelpunkt Personenstand: keine Bagatelle

Bei ihrer Landung werden Migranten und Flüchtlinge registriert. Italien und Spanien haben seit dem Beginn des Jahrzehnts Hunderttausende, die nicht auf einem Asylantrag bestanden, dahin weiterziehen lassen, wo ihr Ziel war, also nach Frankreich, Deutschland, Belgien und Richtung Großbritannien. Andere Migranten und Flüchtlinge haben sich seit 2015 in jene Staaten begeben, die sie aufnehmen wollten, um sich von dort oft genug, ehe eine Prozedur für sie gestartet wurde, weiter auf den Weg in Richtung ihres eigentlichen Zieles zu machen. Vor allem Menschen, die aus anderen als politischen Gründen nach Europa kommen, haben durchaus ihre eigene Agenda, die sich nicht einfach mit EU-Verteilungs-, Erstaufnahme- und anderen Quotenregeln zügeln lässt. Anders gesagt: Die Aufgenommenen, die sich aufgrund ihrer eigenen Geschichte und Agenda der Kontrolle der Behörden entziehen, entziehen sich damit von Anfang an den gültigen Regeln der Aufnahmegesellschaft, ähnlich wie sie sich den von ihnen als bremsend bis bedrohlich erlebten Regeln ihrer Ursprungsstaaten, in der Regel gescheiterte Staaten, entzogen haben.

Die EU-Staaten sind jedoch keine gescheiterten Staaten. Wenn sie ihre Staatlichkeit aufrechterhalten wollen, die durch die private Agenda vieler Migranten herausgefordert wird – was ein schlechtes Omen für deren Integration ist, weil für diese jeder Staat, ob gescheitert oder nicht, als Hemmschuh für ihre ur­eigenen Lebenspläne wahrgenommen wird –, müssen sie den Fluss der Aufgenommenen strikter steuern. Das geht nicht ohne wirkliche europäische Zusammenarbeit und ohne stringenteres Konzept, in dem Recht, Menschlichkeit und Dauerhaftigkeit gewahrt sind. Ein solches dürfte sich weder in der einfallslosen Einrichtung von düsteren Aufnahmezentren, Flüchtlingslagern oder Abschiebezentren erschöpfen (oder wie auch immer diese oft schlecht geführten und schwer zu führenden Ausgeburten bürokratischer Unbeholfenheit bis Grausamkeit unseres zuweilen hier amnestischen Europas heißen), noch in der Illusion, dass wirtschaftliche Hilfe für die Ursprungsländer den Drang nach Migration vernetzter junger Leute, die zuhause wie Überzählige behandelt werden und deren Leben und Pläne wenig gelten, drosseln könnte. Schon bei der Registrierung, die oft vor schlecht informierten Vertretern der jeweilig verantwortlichen Behörde erfolgt, müssen große sprachliche und kulturelle Hürden überwunden werden. Mit wirklich politisch Verfolgten ist es vergleichsweise einfach, da diese, soweit sie nicht bei der Flucht verloren gingen, so viele authentische Papiere und Dokumente wie möglich bei sich tragen, sodass deren Personenstand feststellbar ist. Die Behörden aber haben es vor allem mit Migranten zu tun, die aus wirtschaftlichen und anderen Gründen nach Europa wollen, und die, gut vernetzt und durchaus informiert über das, was ihnen prozedural bevorsteht, allzu oft ihren Personenstand und/oder ihr Herkunftsland vor den europäischen nationalen Behörden vertuschen, um spätere mögliche Rückführungen zu erschweren, wenn nicht unmöglich zu machen.

Das belastet das Klima in den Aufnahmebehörden und den Umgang mit den Flüchtlingen und Migranten bei der Registrierung und während der Verfahren sehr. Misstrauen beiderseits ist schon bei der Erfassung der Personalien angesagt, deren zertifizierte Feststellung am Anfang eines geregelten und von staatlicher Seite hoheitlichen Umgangs miteinander steht. Das performante EURODAC-System, das die Personendaten der registrierten Flüchtlinge und Migranten erfasst, verhindert zwar viele Duplikationen der Identität, ist aber nicht ganz lückenlos. All dies schadet vor allem denen, die einen an sich unantastbaren Anspruch auf Schutz vor politischer Verfolgung und Krieg haben.

Das Desaster der Illegalität

Es gibt keine Statistik der Menschen, die sich mit einem dubiosen Personenstand legal, aber vor allem illegal in der EU aufhalten, nachdem sie registriert und/oder einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. Aber dass sie zahlreich sind und zahlreicher werden, sieht jeder, der durch Westeuropa reist, besonders an den Küstenorten im Süden oder entlang des Ärmelkanals. Man sieht es aber auch in den eigenen Städten, so auch im Großherzogtum, wenn man auf die Drogen-, Strich-, Schwarzmarkt- und Squatmeilen blickt. Und es sieht jeder, der in einer Notaufnahme, im Sozialsektor, im Erziehungssektor, bei den Ordnungskräften oder der Justiz arbeitet.

Diese vielen Menschen, die sich nach der ersten Registrierung den Behörden von wo auch immer entzogen haben oder aber deren Antrag abgelehnt wurde und die mangels Rückführung geduldet werden (oder auch nicht), in der Regel ohne legalen Verdienst, oft schrecklich ausgebeutet, organisieren sich in Parallelgesellschaften. Das geschieht zuweilen in Form von Notgemeinschaften, meistens aber nach tribalen oder ethnischen Kriterien, oder, was leider alle Migranten mit dubiosem Personenstand in ein schlechtes Licht rückt, weil sehr sichtbar im Stadtbild über ganz Westeuropa verteilt, im Rahmen der organisierten Kriminalität.

Politik und Justiz aber tun sich schwer damit, der Evidenz der Entstehung einer Parallelgesellschaft von faktischen Parias, der nirgends oder dubios Erfassten, der nicht in eine Wechselbeziehung zwischen Rechten und Pflichten Eingebundenen, die sich neben andere schon schwer zu steuernde Parallelgesellschaften reihen, konsequent, das heißt im Inbegriff der ihnen delegierten Befugnisse, ins Auge zu schauen.

Es ist tragisch, dass sich viele demokratische Politiker/innen noch immer schwer damit tun, den Menschen zuzuhören, die sich über die Auswirkungen dieser neuen Parallelgesellschaft ablehnend, argwöhnisch, klagend, aufgebracht oder aber auch mitfühlend und empathisch ausdrücken, die in engster und unweigerlich konfliktueller Tuchfühlung mit den gängigen Lebensverhältnissen der Aufnahmegesellschaft wächst. Und sie blenden aus, dass auch diese Parallelgesellschaft einmal fordernder sein wird, weil Kinder zur Welt kommen und eingeschult werden müssen, weil Menschen gepflegt werden müssen, weil es zu zwischengesellschaftlichen Verbindungen kommt, weil alles Illegale oder formal nicht Geregelte in einem Rechts- und auch Sozialstaat, dessen Recht und sozialrechtliche Regeln von ihrem allgemeinen Gültigkeitsanspruch und der Dialektik von Rechten und Pflichten leben, nach Legalität oder Legalisierung schreit. Anstatt die ihr bedingt delegierten Befugnisse im Austausch mit den Bürgern auszuüben, überlassen sie das Feld den verschiedenen Ausgeburten des Rechtsextremismus.

Durch diese Verdrängung wird die Situation der illegalen Migranten noch dramatischer. Die Besetzung des Panthéon in Paris durch die sogenannten „Gilets noirs“ kurz vor dem 14. Juli ist hier ein sehr aussagekräftiger Vorgang: Ein nationales Symbol wurde von mehrheitlich afrikanischen Migranten ohne Papiere gestürmt. Diese halten sich oft schon jahrelang in Frankreich auf, müssen illegal arbeiten, um zu überleben. Ihr in Ton und Inhalt fordernder Diskurs im Panthéon über die Bringschuld Frankreichs wegen seines früheren Kolonialismus und des Beitrags der Migranten aus den vormaligen Kolonien zu dessen Wohlstand war für keine rechtsstaatlich und demokratisch verfasste Republik so akzeptierbar. Nur der diskursiven Zurückhaltung der Regierung ist es zu verdanken, dass der öffentliche Schaden begrenzt werden und der Vorfall nicht als Brandsatz für rassistische Exzesse genutzt werden konnte. Aber die Tatsache ist: Die Zahl der Depressionen, Selbstverstümmelungen, Selbstmordversuche und Auflehnungen in den Rückführungszentren des Kontinents nimmt bei denen dramatisch zu, die das Ende ihrer privaten Agenda in Europa und die damit verbundene persönliche Niederlage und Schmach zuhause vor Augen haben.

Eingeschränkte Ausübung staatlicher Hoheit

Das Verhältnis von Recht, Staatlichkeit und Menschlichkeit, drei theoretisch komplementäre Facetten des europäischen Selbstverständnisses bei der Ausübung staatlicher Hoheit, ist äußerst strapaziert. Dazu kommt, dass viele, sehr viele abgelehnte Asylsuchende und illegale Migranten einfach nicht zurückgeschickt werden können, nicht nur weil ihr Ursprungsland renitent ist, sondern weil sich ihr Personenstand nicht verifizieren lässt, teils weil die Betroffenen schon bei ihrer Aufnahme das vereitelt haben, teils weil die Zivilregis­ter der Herkunftsländer lückenhaft sind oder ein Zugang dazu technisch nicht realisierbar ist. Über das Spiel mit der Identität aus multiplen Gründen entziehen sich so zigtausende Menschen in Europa jeglicher staatlichen Hoheit und schaffen eine Grauzone, die die Aufnahmestaaten vor die praktischen Aporien ihrer eigenen Verfassungsordnungen stellt, welche ein Einlassen der Menschen, die sie erfasst, ob Staatsbürger oder Zugewanderte, auf das Wechselspiel von Rechten und Pflichten bei geklärtem Personalstand voraussetzt.

Die Behauptung der Staatlichkeit gegenüber der illegalen Migration und denen, die kein Recht auf Asyl haben, ist eine der größten Herausforderungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Diese stehen unter dem doppelten Druck, das Problem hoheitlich zu meistern und dabei ihren zivilisatorischen Kern, die seit 1945 bestimmende normative Funktion der Grundrechte im Handeln der Staaten, nicht preiszugeben. Das ist keine romantische Agenda für Gutmenschen, die die dunklen Seiten der so schnell nicht abklingenden Migrationsbewegungen mit dem simplen Spruch verdrängen, Migration sei etwas Positives. Migration ist tatsächlich etwas Positives, aber nicht bedingungslos.

Bedingte Legalisierung, nicht ohne Risiken

Damit die Aufgenommenen, die nicht für politisches Asyl in Frage kommen, bereit sind, mit den Behörden über die Bestimmung ihres Aufenthaltsortes zu kooperieren und von den Zwängen ihrer privaten Agenda abzusehen, oder anders gesagt, um die Anzahl nicht erfasster illegaler Migranten zu reduzieren, müssten die EU-Staaten ein klares Signal senden: Wer mitmacht, wer bereit ist, seinen Personenstand auch beim Fehlen von Dokumenten schlüssig zu rekonstruieren, wer die Gesetze einhält, besonders jene, die über eine gewisse Zeit seinen Aufenthaltsort bestimmen, wer an den Integrationskursen, die allen Aufgenommenen, ohne Diskriminierung nach Statut, vorgeschlagen werden sollen, am für ihn/sie bestimmten Ort teilnimmt, die Sprache erlernt, bereit ist, sich für den Arbeitsmarkt qualifizieren zu lassen und sich positiv auf das neue kulturelle Umfeld einzulassen, dem sollte die Legalisierung seines Aufenthaltes ermöglicht werden. Ähnlich, wenn auch nach anderen Kriterien wie bei den Menschen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, müsste auf die Dauer auch hier eine Politik der Familienzusammenführung konzipiert werden, wenn die Frage des Personenstandes eindeutig geklärt ist und die Integration gut läuft. Das setzt natürlich voraus, dass die Angebote von staatlicher Seite, gefördert oder direkt organisiert, auch ausreichend vorhanden sind. Das wird teuer werden, aber auf allen Ebenen viel billiger als die Folgen einer steigenden Bevölkerung von Illegalen, mit der sich europäische Rechtsstaaten nur unter dem Preis der Aufgabe von Selbstachtung, Selbstbehauptung, der eigenen normativen Werte und gesellschaftlich-politischer Stabilität abfinden könnten.

Eine solche Politik der Legalisierung illegaler Migranten oder abgewiesener Asylantragsteller, gekoppelt mit einer Förderung legaler Einwanderung aus dem Ursprungsland, aber hätte ihren Preis, eine unschöne Lösung, die aber das kleinere Übel wäre: Diejenigen, die wie auch immer nicht mitmachen oder schwerwiegende Straftaten begangen haben, müssten, wenn nicht unmittelbar abschiebbar, über längere Zeit als jetzt in Gewahrsam genommen werden können, bis eine Lösung für ihre Abschiebung in ihr Ursprungsland, soweit das als sicher gilt, gefunden ist.

Das setzt u.a. eine komplexe und potenziell nicht ungefährliche, höchstwahrscheinlich von vielen Seiten stark angefochtene Veränderung des Aufenthaltsrechts in der ganzen EU voraus. Eine Bedrohung der Grundrechte der eigenen Bürger und aller anderen legalen Einwohner muss vermieden werden. Dazu kommt, dass bei einer solchen Verschärfung des Aufenthaltsrechts die Wahrung der Würde der Betroffenen nicht automatisch in allen Mitgliedstaaten gewährleistet sein könnte. Das zeigen jetzt schon die vielen Verwerfungen der humanitären Situation in anderen EU-Ländern über den Weg von Richtersprüchen quer durch die EU, um Rückführungen dorthin nach den Dublin-Regeln zu vermeiden. Dem müsste unbedingt durch adäquate Kontrollmechanismen vorgebeugt werden.

Wie sollen sich demokratisch verfasste Rechtsstaaten aufstellen, ohne ihre normativen Werte aufzugeben und ohne Konzessionen an die aufstrebenden Extremrechten zu machen, wenn sie es schaffen wollen, europaweit Legalisierungsmaßnahmen oder aber schärfere Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, um die illegale Migration soweit zu kontrollieren, dass gesellschaftliche Spannungen und Verwerfungen zurückgeschraubt werden können und die eigene Staatlichkeit sich wieder behaupten kann? Fakt ist: Geschlossene Einrichtungen für die illegalen Migranten, die nicht kooperieren, bergen eine potenziell entmenschlichende Eigendynamik. Dieser Weg ist also von vielen Gefahren gesäumt. Und wenn solche Maßnahmen einem Phänomen gelten wie der Migration, das nicht abebben wird, und nicht nur Tote, sondern auch immer neue Aporien an unsere Ufer schwemmt, ist es mit ihnen wie mit dem ersten Schuss in einem Krieg. Man weiß nicht, wie die Sache ausgeht.

  1. https://www.iom.int/news/mediterranean-migrant-arrivals-reach-26090-2019-deaths-reach-597 (letzter Aufruf am 21. August 2019).

 

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