Mit Putin auf dem Balkon klatschen
Warum Friedensforderungen nicht reichen, um die Demokratie zu retten
Dieser Text erschien erstmals am 5. April 2022 als rein digitaler Beitrag in unserer Rubrik forum+. Wir halten ihn noch jetzt für so wichtig und relevant, dass wir diese forum-Nummer mit ihm beginnen wollen.
Ist es nicht ein dramatischer Handlungsumschwung? Während in den Monaten, Wochen, Tagen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine noch fieberhaft überlegt wurde, was Putin wollen könnte, wie man ihn beschwichtigen, den Konflikt deeskalieren, was man gar falsch gemacht haben könnte, um ihn provoziert zu haben, wurde der westlichen Öffentlichkeit am 24. Februar 2022 schlagartig klar, dass solcherlei Überlegungen nicht zielführend waren: Vergessen war der „Wandel durch Handel“, und die Rede war plötzlich nicht mehr von diplomatischen Bemühungen, sondern von einem Hitler des 21. Jahrhunderts, einem blutrünstigen Kriegsverbrecher, einem paranoiden Psychopathen, einem durchgedrehten Gangsterboss, mit dem es nichts mehr zu verhandeln gibt, der nur noch mit allen Mitteln auszuschalten ist, wenn wir zwar nicht mehr die Ukraine, aber vielleicht noch den Rest Europas retten wollen vor seinem Expansionsdrang und seinen Atomwaffen, mit deren Aktivierungsknopf er ostentativ lässig herumspielt, so als wäre es der Schlüssel zu einem aufgemotzten Luxusschlitten mit getönten Scheiben.
Man könnte meinen, es mit einem Szenario eines brutalen Erpressungsversuchs zu tun zu haben, bei dem der Erpresste zunächst ängstlich darum bemüht ist, den Wünschen des Erpressers zu entsprechen, letztendlich aber einsieht, dass der Erpresser keinerlei Grund oder Absicht hat, seinen Teil des Handels zu erfüllen, sodass der Erpresste schließlich zusammen mit der Hoffnung auch alle Angst fahren lässt und sich resolut zur Wehr setzt.
Vom Lösegeld zum Kopfgeld
Ein Szenario wie aus dem 90er-Jahre-Film Ransom (Kopfgeld), der in der deutschen Fassung mit dem albernen Untertitel „Einer wird bezahlen“ versehen wurde. Wer bezahlen wird (und wie hoch der Preis sein wird), ist nun allerdings tatsächlich eine entscheidende Frage – für den Putin-Krieg vielleicht noch mehr als für das Kopfgeld-Drama. Im Film spielt Mel Gibson einen Großindustriellen, dessen Sohn von einer Bande von Kidnappern entführt wird. Als dem Vater klar wird, dass die Übergabe des von den Kidnappern geforderten Lösegeldes die Rettung seines Sohnes in keiner Weise garantiert, ja dessen Ermordung durch die Kidnapper sogar noch wahrscheinlicher macht, setzt er den Lösegeldbetrag stattdessen öffentlich als Kopfgeld aus: Wer die Verbrecher tot oder lebendig fassen kann, dem verspricht Gibson zwei Millionen Dollar. Weil er weiß, dass er von den Erpressern nichts Gutes erwarten kann, setzt er also seine eigenen Spielregeln durch, unterbricht einen scheinbar vorgezeichneten Handlungsstrang, bringt die Erpresser aus dem Konzept und spielt sie gegeneinander aus: Letztendlich liquidiert einer der Kidnapper seine Mittäter – in der Hoffnung, wenn nicht das Lösegeld, dann eben das Kopfgeld einkassieren zu können – und befreit das Kind.
Man könnte nun durchaus versucht sein, Parallelen zu ziehen zwischen dem resoluten Vater, der durch seine Weigerung, das Spiel der Erpresser zu spielen, das Leben seines Sohnes rettet, und dem gesamten, durch die Krise plötzlich geeinten und entschlossenen liberal-demokratischen Westen: Weigern wir uns nicht mindestens genauso heroisch wie Gibson, den unerfüllbaren Forderungen eines gierigen Gangster-Zaren nachzukommen, der die Demokratie – dieses schutz- und liebesbedürftige Kind unserer Zivilisation – als Geisel hält? Schreiten wir nicht mindestens genauso beherzt zur Tat, indem wir „nie dagewesene Sanktionen“ auf Putin und seine Oligarchen niederprasseln lassen, deren Villen, Jachten und Bankkonten beschlagnahmt und eingefroren werden? Um die gesamte Bande aus der Fassung zu bringen, sodass die verärgerten Kleptokraten idealerweise selbstständig ihren Mafiaboss ausschalten, dem Krieg ein Ende setzen und uns die unschuldige demokratische westliche Welt, wie sie mal war, unversehrt zurückerstatten.
Sanktionen und Standing Ovations
So viel ist uns jedenfalls klar: Egal wie hoch das Lösegeld ist, das wir im aktuellen Erpressungsdrama zu zahlen bereit wären – die Krim, den Donbass, die gesamte Ukraine, die baltischen Staaten, und warum nicht auch Polen –, das Leben der Geisel wird am Ende doch unweigerlich auf die Rechnung mit draufgesetzt: Am Ausgang des Konflikts stehen nicht irgendwelche neu gesteckten Grenzen, egal wie weit nach Westen sie vordringen, sondern die Bestätigung der geopolitischen Vormachtstellung der auf Gewalt basierenden Staatsform des Despotismus sowie das Abstellgleis für die Demokratie als kurzlebige Laune der soziopolitischen Evolutionsgeschichte. Und gegen das Alptraumszenario eines solchen katastrophalen Ausgangs kämpfen wir nicht nur mit resoluten Sanktionen, sondern auch durch unermüdliche Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine, Demonstrationen gegen den Krieg und Standing Ovations für Präsident Selenskij.
Aber gerade hier drängen sich leider auch ganz andere Parallelen auf: Erschallte nicht schon ein ähnlich eifriger Beifall, als vor zwei Jahren der große Krieg gegen das Coronavirus ausbrach? Geklatscht wurde für die damaligen Kriegshelden – die furchtlosen Pflegekräfte – auf den Balkonen der gesamten wohlsituierten Welt, die nach diesem fotogenen (Selbst-)Beifall wieder in warmen Wohnzimmern verschwand und erst dann wieder hinaustrat, als es darum ging, eben diesen Pflegkräften ihren unsolidarischen Mangel an Impfbereitschaft vorzuwerfen, und nicht etwa darum, solidarische Reformen des Pflegesektors in Angriff zu nehmen. Und klatschen wir uns nicht auch jetzt – im Krieg gegen den Despotismus – ein gutes Gewissen herbei, in der Hoffnung, anschließend umso zufriedener in die warme Stube des unpolitischen liberalen Westens schlüpfen und den ungemütlichen Autokraten, Extremisten, Gehirnwäsche- und Propaganda-Opfern der unterbemittelten nicht-westlichen Welt den Rücken kehren zu können?
Es drängt sich jedenfalls der Verdacht auf, dass die strategischen Ziele der „noch nie dagewesenen Sanktionen“ eher zweitrangig sind, verschwimmen sie doch beinahe bis zur Unkenntlichkeit hinter dem moralistischen Anspruch, Putin und seine Gefolgschaft für ihr verbrecherisches Treiben und/oder die „mangelnde Distanzierung“ dazu abzustrafen. Die Frage, welche konkreten Konsequenzen für das Kriegsgeschehen wir uns von den Maßnahmen versprechen, rückt umso weiter in den Hintergrund, je lauter die Forderungen werden, dass Unternehmensleiter den Krieg verurteilen, russische Kulturschaffende dem Putin-Regime abschwören, Oligarchenanwesen als Wohnheime für ukrainische Flüchtlinge dienen sollen.
Das Problem der Gewissensberuhigung
Die Idee, den Opfern von Gewaltverbrechen die Wohnstätten der Täter als Kompensation anzubieten, wäre ja schon aus moralischer Sicht diskutabel. Die Umsetzung dieser Idee scheitert allerdings vielmehr am ganz pragmatischen Umstand, dass es gar nicht so einfach ist, der besagten Oligarchenbesitztümer überhaupt erst habhaft zu werden. Es stellt sich – nicht wirklich überraschend – heraus, dass die Villen, Jachten und Konten, die man Putins Vasallen so gerne entreißen würde, ihnen gar nicht gehören. Sie sind registriert auf Unternehmen mit Sitz auf den Kaimanen oder den Jungferninseln, die wiederum in den meisten Fällen ein schlichtes „Anonym“ als Eigentümer und Endbegünstigte aufweisen. Gerade gegen dieses „Anonym“ vorzugehen, das heißt, die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse von obskuren Briefkastenfirmen und Mantelgesellschaften in öffentlichen Registern offenzulegen, wäre ein Schritt, der sicherlich mehr Wirkung zeigen könnte, als die Ausbeute aus deren dubiosen Geschäftsaktivitäten im Nachhinein einzufrieren. Überhaupt könnte eine resolute Geldwäsche-Regulierungspolitik noch ganz andere Finanzierungspläne für freiheits- und demokratiefeindliche Machenschaften einer ganzen Reihe von Mafiabossen, Drogen- und Menschenhändlern, Terroristen, Diktatoren und anderen ranghohen Berufskriminellen durchkreuzen. Aber obwohl eine von den G7 initiierte Task Force schon seit den 80er Jahren an einem effektiven System gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung arbeitet, hat sie es bis heute nicht geschafft, über die Stufe der reinen Gewissensberuhigung hinauszukommen, auf der unsere Finanzinstitute nunmehr seit Jahrzehnten gleichzeitig schmutziges Geld und ihre Hände in Unschuld waschen. Das Offshore-Geschäft floriert jedenfalls wie eh und je, nicht nur auf fernen gesetzlosen Pirateninseln, sondern auch auf dem europäischen Festland, wo komplexe Geflechte aus Holdings und Investment Funds, verschachtelten Unternehmensmodellen, Vermögensverwaltern und dem Berufsgeheimnis unterstehenden Anwälten dem geübten Geldwäscher durchaus die gewünschte Anonymität bieten können.
Auch deshalb kann unser vermeintlicher Zorn der Gerechten nicht wirklich ernst genommen werden, wenn wir uns plötzlich, nach jahrzehntelangem „Wandel durch Handel“ in blankem Entsetzen vom Mörder und Kriegsverbrecher Putin abwenden. Oder wenn der russisch-amerikanische Geschäftsmann Alex Konanykhin mit der Facebook-Annonce „Wanted Dead or Alive“ auf Putins Kopf eine Million USD aussetzt. Ein lächerlicher Betrag. Die Deutsche Bank hat in den letzten Jahren schon ein Zigfaches allein an Strafzahlungen für ihre Geldwäschegeschäfte im Interesse russischer kremlnaher Oligarchen gezahlt. Was sie nicht daran gehindert hat, immer wieder rückfällig zu werden, da ihr angesichts der Profite aus besagten Geschäften solcherlei Strafzahlungen als vernachlässigbare Transaktionsnebenkosten erscheinen mussten.
Wir sind keine Helden
Oder wenn Luxemburgs Außenminister Putin als Banditen bezeichnet, der „physisch eliminiert“ werden muss, während das Finanzministerium die beruhigende Botschaft verkündet, dass „beaufsichtigte Institute“ in Luxemburg nur minimal von den gegen Russland verhängten Sanktionen betroffen sind. Wobei zu vermuten steht, dass diese minimale Betroffenheit eben gerade auf die Beaufsichtigung – oder vielmehr deren Unzulänglichkeit – zurückzuführen ist, und nicht etwa auf die zahlenmäßig geringe Beteiligung des Finanzstandorts Luxemburg an den Geschäften russischer Oligarchen. Wenn die Sanktionen bislang irgendeine nennenswerte Konsequenz hatten, dann ist es die Einsicht, dass es in den heutigen europäischen Wirtschafts- und Finanzsystemen gar nicht ohne Weiteres möglich ist, Auskunft über die Eigentumsverhältnisse von Unternehmen zu erlangen und es zuweilen des Einsatzes von Whistleblowern oder investigativen Journalisten bedarf – nicht nur um die geheimen Eigentümer von Jachten, Jets und Villen auszumachen, sondern beispielsweise auch den 30-prozentigen Anteilseigner von TUI: Nachdem der ehemalige luxemburgische Honorarkonsul Alexey Mordashov im Vorgriff auf die Sanktionen seine TUI-Anteile an ein auf den Jungferninseln ansässiges Unternehmen abgetreten hatte, dessen Eigentumsverhältnisse zunächst auch TUI selbst wochenlang unbekannt blieben, wurde erst mithilfe der Pandora Papers bekannt, dass es sich bei dem neuen Anteilseigner um niemand anderen handelte als Mordashovs Ehefrau. Dass wir nun so großzügig sind mit Vergeltungsschlägen gegen verbrecherische Oligarchen und so zögerlich mit „nie dagewesenen Sanktionen“ gegen unternehmensrechtliche Schlupflöcher und Geldwäscheanstalten, also gegen unsere eigenen korrupten Finanzsysteme und Marktmechanismen, hat natürlich seine Gründe. Diese Gründe haben meist mit persönlichen Einsätzen zu tun, die uns auf ganz andere Weise nahegehen als der gerechte Zorn auf verbrecherische Oligarchen: Womöglich sind wir, die Vertreter der liberalen Demokratie, gar nicht die moralisch rechtschaffenen großen Helden, die die Autokraten-Mafia in die Schranken weisen, sondern ganz gewöhnliche halbehrliche Geschäftsleute – kleine Gemischtwarenhändler, die neben ihrem untadeligen Tagesgeschäft nebenbei noch ein bisschen Geldwäsche für eben diese Mafia betreiben, hier und da ein paar Schutzgeldzahlungen entrichten, aber im Großen und Ganzen ein anständiges und komfortables Dasein fristen. Diese Komfortzone ist vielleicht näher an den russischen Oligarchen angesiedelt als am ukrainischen Volk, und gestört wird sie nicht so sehr von der Angst vor Putins Atomwaffen wie von der unbehaglichen Frage: Was würde passieren, wenn unsere Finanzmärkte und Wirtschaftsstandorte nicht mehr mit reingewaschenen Profiten aus dem Raub kollektiver Ressourcen versorgt werden, die preisgünstig in unsere Heizungen, Benzintanks, Auto- und Handybatterien eingespeist werden? Um sich dieser Frage zu stellen, ist eine große persönliche Verzichtbereitschaft erforderlich. Und in ebendieser Verzichtbereitschaft liegt der Unterschied zwischen politischer Reform und Klatschen auf dem Balkon – der Unterschied zwischen Mel Gibson und uns, den Vertretern der westlichen liberalen Demokratien.
Die tragische Geste des Verzichts
Zu Gibsons Rolle im Kopfgeld-Film hat Slavoj Žižek eine interessante Analyse vorgelegt. Laut Žižek verkörpert Gibson nur vordergründig den starken Mann, der, statt den Gangstern zu geben, was sie verlangen, sich das (zurück-)nimmt, was ihm zusteht. Das, was seine Rolle ausmacht, ist vielmehr eine tragische Geste des Verzichts: Dadurch, dass Gibson sich weigert, nach den Regeln der Kidnapper zu spielen, gewinnt er zwar die Chance, das Leben seines Sohnes zu retten. Gleichzeitig aber geht er das Risiko ein, die Verantwortung für dessen Tod allein tragen zu müssen, denn: Solange der Vater sich der Notwendigkeit der äußeren Umstände beugt, das heißt, die Anweisungen von Kidnappern und Polizei zur Geldübergabe befolgt, bleiben die Verantwortlichen für das Überleben oder das Sterben des Sohnes die Entführer. Sobald der Vater die Spielregeln ändert, entreißt er den Kidnappern zwar die Kontrolle über das Geschehen, verzichtet aber gleichzeitig darauf, ihnen die volle Schuld für den Ausgang des Geiseldramas zuweisen zu können: Da nunmehr er selbst anstelle der Kidnapper sein eigenes Handeln bestimmt, ist er auch derjenige, der die Verantwortung für die Konsequenzen dieses Handelns tragen muss. Das bedeutet, Gibson riskiert nicht das Leben seines Sohnes, um die Gangster zur Rechenschaft ziehen zu können. Ganz im Gegenteil: Er entlässt die Gangster aus der vollen Verantwortung für das Überleben oder Sterben des Sohnes – er nimmt diese Verantwortung auf sich –, um den Sohn retten zu können.
Vielleicht besteht auch in unserem Fall die größte Herausforderung nicht darin, die Gangster auszuschalten, sondern die Verantwortung für das Überleben oder Sterben der Geisel auf uns zu nehmen; also darauf zu verzichten, die gesamte Schuld für den Ausgang der Katastrophe, in der wir uns aktuell befinden, schon im Voraus den Gangstern zuzuweisen, und das Risiko einzugehen, unsere Lebensstandards einzubüßen, indem wir uns für unsere liberalen und demokratischen Ideale auch innerhalb unseres eigenen Systems einsetzen, statt leere Friedensforderungen hinauszurufen.
Streng wörtlich genommen will ja auch Putin Frieden. Das hat er schon bei der Krimannexion erfolgreich demonstriert, deren reibungs- und (fast) opferlosen Verlauf er dadurch garantierte, dass er als „grüne Männchen“ oder „höfliche Menschen“ getarnte Truppen in fremdes Staatsgebiet einmarschieren ließ. Die Mission dieser Streitkräfte in russischen Uniformen ohne russische Hoheitszeichen (d. h. als nicht-zur-russischen-Armee-gehörig markierten russischen Soldaten) bestand darin, die Krim ohne viel Aufhebens, also ohne umständliche kriegs- und internationalrechtliche Querelen, schnell und unbürokratisch zu besetzen, um dort eine „freie Willensäußerung“ der lokalen Bevölkerung zugunsten einer friedlichen Annexion zu garantieren und eine kriegerische Auseinandersetzung zu vermeiden, „damit“, so Putins nachträgliche Erklärung, „es keine Panzer gibt, damit es keine Kampftruppen von Nationalisten und Menschen mit extremen Ansichten und guter Waffenausrüstung gibt“.
Nach demselben Muster sollten vermutlich auch die mit „Z“ markierten Panzer, die Putin acht Jahre später dann doch in die Ukraine rollen ließ, im Nachhinein als höfliche „Friedensbringer“ in die alternative Geschichte der russisch-putinistischen Föderation eingehen. Aus deren rückblickender Perspektive sind es jedenfalls die kriegslustigen Ukrainer, die den friedlichen Verlauf des „Sondereinsatzes“ vereitelt haben, während nach Putins Skript offenbar vorgesehen war, dass sie den ihnen entgegengebrachten Frieden emphatisch bejahen, mit „za“ für die Annexion stimmen, wie schon damals die Bevölkerung der Krim. Und dann hätte der letzte Buchstabe des lateinischen Alphabets in Putins panslawischem Narrativ vom glorreichen Siegeszug gegen den Westen im Nachhinein tatsächlich einen Sinn ergeben: als an den Westen gerichtetes Signal, dass dessen Grenzen in Konformität mit (pseudo-)demokratischen Formalitäten überschritten wurden und das Ende von dessen Hegemonialmacht besiegelt ist.
Das despotische Recht, Fakten zu schaffen
Dass Putins Friedensabsichten wenig glaubwürdig erscheinen, diskreditiert dabei aus putinistischer Perspektive in keiner Weise sein Vorgehen. Die alternative Darstellung der Realität, auf der Putins „großer vaterländischer Sondereinsatz“ basiert, ist gar nicht darauf ausgerichtet, dass der Westen, an den sich diese Darstellung auch und vor allem richtet, sie als wahr oder auch nur wahrscheinlich akzeptiert. So ist auch die angebliche Aufdeckung einer vom Pentagon betriebenen Biowaffenproduktion in der Ukraine zu verstehen. Aus Putins Sicht ist es völlig irrelevant, ob irgendjemand an diese Erzählung glaubt. Die Botschaft, die damit vermittelt werden soll, lautet: Wenn es sich der Präsident der amerikanischen Vorzeige-Demokratie leisten kann, unter dem Vorwand fingierter Massenvernichtungsmittel einen Militäreinsatz im Irak zu rechtfertigen, dann kann der unverhohlen autoritäre Führer des russischen Imperiums sich erst recht dasselbe in der Ukraine leisten. Es geht hier nicht um glaubwürdige Rechtfertigungsstrategien, sondern um das Recht, nach eigenem Gutdünken Fakten zu schaffen – ein Recht, das Putin einem scheinheilig liberalen Westen streitig machen und für sich selbst behaupten will.
Das putinistische System wendet sich an und gegen alles, was es am Westen als korrupt identifiziert, und zwar nicht, um die westliche Korruption anzuprangern, sondern um sie zu übertrumpfen – durch seine eigene, offene und brutale, systematisch praktizierte Korruption. Eben weil der korrupte Westen mit seinen Steueroasen, seinen Freihäfen, seinen Rohstoff- und Immobilienmärkten dunkle Ecken und intransparente Schlupfwinkel schafft, in denen schmutziges Geld gewaschen, gepflegt und vermehrt werden kann, nutzen das Putin-Regime und die dazugehörigen (treuen oder untreuen) Oligarchen das aus, um in diesen Nischen das veruntreute Vermögen einer ganzen Nation als private Geldanlage zu deponieren. Eben weil der korrupte Westen Freiheit und Gerechtigkeit nur da verteidigt, wo dies seinen wirtschaftlichen Interessen entspricht, hatte das Putin-Regime fest damit gerechnet, dass das auch für die Invasion in die Ukraine gelten würde. Es muss sich erst noch zeigen, ob es sich da wirklich so sehr getäuscht hat, wie wir gerne behaupten. Nur weil Putin, der Lügner, uns Scheinheiligkeit vorwirft, liefert uns das jedenfalls noch lange nicht den Beweis unserer Redlichkeit.
Das gemeinsame Projekt
So klar es ist, dass eine Zukunft der Ukraine, wie auch eine Zukunft Russlands, sich mit Putin nicht verhandeln lässt, so klar es ist, dass Russland vor der monumentalen Aufgabe steht, einen Weg aus der institutionellen Korruption zu finden, auf der dessen gesamtes Staats- und Gesellschaftsmodell basiert, genauso klar sollte es auch sein, dass wir, die Vertreter der liberalen Demokratie, in dieser Konstellation nicht als glänzendes Beispiel für eine gelungene, auf Freiheit und Gerechtigkeit basierende Gesellschaft fungieren, sondern in gewisser Weise mit den Russen in einem Boot sitzen: Unser gemeinsames Projekt sollte in der Demontage der korrupten Elemente unserer nicht-ganz-liberalen, nicht-ganz-demokratischen Wirtschafts-, Finanz- und Rechtssysteme bestehen – und vielleicht liegt in einem solchen gemeinsamen Projekt die verschwindend geringe, aber nicht inexistente Chance, Verbündete zu gewinnen, anstatt eine Bande von Gangstern loszuwerden. Es ist genauso unsere Verantwortung wie die der Russen, eine Nachkriegs- und Nach-Putin-Zeit vorzubereiten, die mit liberalen und demokratischen Werten vereinbar ist. Wenn wir das nicht einsehen, können wir genauso gut mit Putin zusammen auf dem Balkon für den Weltfrieden klatschen.
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