Das neuere Erstarken der populistischen rechtsextremen Gruppierungen in Europa evoziert vor allem ein Thema: die Frage nach der sogenannten kulturellen Identität und nach dem Wert von kultureller Vielfalt. Rechtsextreme tendieren dazu, kulturelle Vielfalt bestenfalls nur unter dem Vorzeichen einer Sonderstellung einer bestimmten kulturellen Tradition und Praxis zu dulden; alle anderen werden höchstens als zweitklassig zugelassen. ‚Our culture first!’ könnte als Ausdruck ihrer Politik gelten. Dabei soll sich allerdings das ‚unsere’/‚our’ nicht auf alle, sondern auf eine kleine oder mittelgroße Teilmenge aller beziehen. Das ist die populistische Propaganda der Rechtsextremen, die durch ihren Sprachgebrauch die Ausgrenzung aller Andersdenkenden und – lebenden erreichen wollen.1 Aber auch wenn dieser perfide Versuch durchschaut ist, stellt sich noch die Frage, wie wir kulturelle Vielfalt konzipieren und argumentativ ausweisen können. Diese Frage stellt sich auch ganz unabhängig von dem Erstarken der Rechtsextremen. In einem Land wie Luxemburg, mit vielen kulturellen Traditionen und Praktiken, ist ein klärendes Nachdenken über diese Frage von bleibendem Interesse, selbst wenn sich in Luxemburg die Rechtsextremen bislang nicht so recht etablieren konnten.
Die Idee der kulturellen Selbstbestimmung aller Menschen könnte der Ausgangspunkt unserer Überlegungen zum Multikulturalismus sein. Jede Person besitzt ein Recht auf die Ausübung derjenigen kulturellen Aktivitäten, die sie sich selbst frei wählt. Wer lieber Tennis spielt als Boccia, darf es tun. Ob Popmusik oder klassische, ob Lederklamotten oder Businessanzug, ob Meditationsgruppe oder Naturschutzverein – es herrscht die freie Wahl. Auch Religion und politische Einstellung sind den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern freigestellt. Freilich sind Grundrechte, Verfassung und Gesetze von allen Individuen und Gruppen voll und ganz zu respektieren.
Und das ist nicht wenig. Gleichheit aller Geschlechter, Rassen und Religionen ist genauso zu respektieren wie Meinungs- und Redefreiheit. Alle kulturellen Aktivitäten, gleich welcher Couleur, unterliegen diesen anspruchsvollen, substantiellen Forderungen.2
Reicht das aber für einen Multikulturalismus? Führt das nicht in sogenannte ‚Parallelgesellschaften’ oder zu Unruhen wie in den Pariser Banlieus? In New York hat man sich vielleicht damit abgefunden, dass es ganze Stadtteile gibt, die wie aus anderen Kontinenten herausgeschnittene Inseln wirken. Aber kann das ein Prototyp für eine multikulturelle Zukunft in Europa sein? Ein bloßer Verfassungspatriotismus à la Jürgen Habermas oder eine ‚Verfassungskultur’, wie sie Jan-Werner Müller vorschlägt, kann da wohl nicht volle Abhilfe schaffen. Denn ein rational-diskursiver Prozess über Verfassung und Gesetze bietet wahrscheinlich zu wenig affektive Haftreibung und könnte den Bürgerinnen und Bürgern zu abstrakt oder lebens- und alltagsfern erscheinen. Ein bloßer ‚konstitutioneller Multikulturalismus’, der die vielfältigen kulturellen Aktivitäten ausklammert, die sich nicht um die Interpretation und Ausgestaltung von Verfassung und Gesetzen drehen, verengt die demokratischen Grundideen der egalitären Freiheit und Solidarität in problematischer Weise auf das letztlich rein Juristisch-Formale.
Dem konstitutionellen Multikulturalismus können wir einen anderen Entwurf entgegensetzen, den interkulturellen Multikulturalismus, wie man es nennen könnte. Auch das Miteinander verschiedener kultureller Traditionen und Praktiken wäre nach dieser Vorstellung von den demokratischen Grundsätzen der egalitären Freiheit und Solidarität durchzogen. Dabei meint Interkulturalität nicht so sehr ein faktisches Phänomen – das Vorhandensein von kultureller Varianz und den Austausch zwischen unähnlichen Kulturen –, sondern eine normative Dimension. Kulturelle Aktivitäten sollten in einer bestimmten – egalitären, freiheitlichen und solidarischen – Haltung und Praxis gegenüber ähnlichen und unähnlichen kulturellen Aktivitäten stattfinden.3
Was gehört zu diesem interkulturellen Geist im Multikulturalismus? Zunächst einmal wäre der Respekt für andere kulturelle Praktiken zu nennen, die Anerkennung kultureller Vielfalt. Die anderen kulturellen Praktiken sind nicht nur als etwas zu sehen, gegen das man nichts unternimmt – das man ‚toleriert’; sie sind als grundsätzlich wertvoll anzusehen, als wertvolle Ausprägungen der menschlichen Grundfähigkeit zu kultureller Aktivität.4 Respekt, Anerkennung in diesem Sinne richtet sich gegen eine inegalitäre (implizite oder explizite) Status-Hierarchie von inferioren und superioren kulturellen Formen.
Zum Respekt gesellt sich die Offenheit. Offen zu sein gegenüber Einflüssen anderer Kulturen hat schon zur Herausbildung der klassischen griechischen Kultur, der Wiege der europäischen Demokratie, beigetragen, wie man inzwischen weiß. Offenheit umfasst auch eine gewisse Durchlässigkeit. Werden kulturelle Aktivitäten in Gruppen ausgeübt, dann stellt sich immer die Frage eines möglichen frei gewählten Austritts. Jegliche Tendenz zu einer Zwangsvereinnahmung durch eine kulturelle Praxis ist daher höchst problematisch. Egal ob es sich um einen Kneipenstammtisch, eine Religionsgemeinschaft oder eine Bürgerinitiative handelt, die einzelnen Individuen sollten aus eigener, freier Wahl ihre Zugehörigkeit bestimmen und gegebenenfalls aufkündigen können. Es entspricht der Einsicht in die Kontingenz des eigenen kulturellen Profils und der Vorstellung pluraler Identitäten, dass ein Wechsel kultureller Zugehörigkeiten aus freien Stücken im Bereich des Möglichen liegen sollte. Man ist nicht einfach nur ein Atheist oder Gläubiger, Westler oder Orientale, sondern gehört vielen verschiedenen kulturellen Typen an, die sich im Laufe der Zeit verändern können.
Schließlich wäre noch die interkulturelle Solidarität zu nennen. Menschen sind sich in manchen Hinsichten kulturell ähnlich, in anderen unähnlich; sie sitzen aber allemal in einem Boot, dem Planeten Erde. Und die vernünftigste Reaktion auf diese Einsicht dürfte doch die solidarische Einstellung sein, sich gegenseitig zu unterstützen. Kastensysteme und Zwangsverheiratung z.B. sind natürlich nicht zu unterstützen und grundsätzlich nicht akzeptabel. Und eine sogenannte ‚Leitkultur’ oder ‚identitäre Politik’ kann es erst recht nicht geben. Mit der Rede von der ‚Leitkultur’ wird versucht, auf unzulässige Weise eine Sonderstellung für eine bestimmte, konkrete kulturelle Tradition oder Praxis zu erschleichen.5
Stattdessen ist das Angebot eines interkulturellen Multikulturalismus zu entwickeln, der einen respektvollen, offenen und solidarischen Umgang mit kulturellen Unähnlichkeiten anstrebt.6 Allein die demokratischen Grundprinzipien der egalitären Freiheit und Solidarität könnten die Rolle einer (Meta-)Kultur einnehmen, die unsere konkreten kulturellen Aktivitäten und Existenzen prägen und durchtränken sollte. Wie Dewey von einem ‚democratic way of life’ sprach, so könnte man von einer wegweisenden demokratischen multikulturellen Lebensform sprechen.7
Die Vision eines Multikulturalismus im interkulturellen Geist anerkennt die kulturelle Vielfalt und erweitert dadurch den rein konstitutionellen Multikulturalismus um eine wichtige gesellschaftliche Dimension. Im Liberalismus stehen Freiheit und Gleichheit im Vordergrund. Der interkulturelle Multikulturalismus könnte dem ein solidarisches und anerkennungstheoretisches Element an die Seite stellen und so zu derjenigen Ergänzung führen, die dem (zumindest oft gefühlten) Mangel an ‚Zusammenhalt’ und ‚Wärme’ Rechnung trägt.
1. Zum Populismus vergleiche die sehr erhellende Studie What is Populism? (2016) von Jan-Werner Müller (auch auf deutsch erhältlich).
2. Der hier entwickelte Begriff eines (interkulturellen) Multikulturalismus ist nicht derjenige, der sich im speziellen Kontext der Diskussion um die frankophone Minderheit in Kanada herausgebildet hat. Von dieser speziellen historischen Diskussion löse ich mich hier ab und entwickle Überlegungen, die allgemeiner angelegt sind. Als Einführung zum Multikulturalismus vergleiche Kymlicka (2002), Kap. 8.
3. Man könnte an dieser Stelle eine Diskussion über die Ausdrücke ‚(un)ähnlich’ und ‚verschieden’/’identisch’ führen und die Frage aufwerfen, welche Begrifflichkeit vorzuziehen ist. – Eine interessante Skizze einer „Philosophie der Ähnlichkeit“ findet sich in Bhatti et al. (2011).
4. Auch künstlerische Aktivitäten müssen grundsätzlich respektvoll ausfallen. Satire bleibt trotzdem möglich. Denn Satire ist Witz mit Biss, und sie als herabsetzenden Akt zu verstehen, heißt, sie misszuverstehen.
5. Dies hat Martin Seel sehr treffend in einem Interview in Kulturzeit auf 3SAT formuliert. Siehe https://www.zdf.de/kultur/kulturzeit/martin-seel-ueber-leitkultur-100.html
6. Der Einwand, der Multikulturalismus betreibe eine evaluative Gleichmacherei, beruht auf einem Missverständnis. Es geht zunächst um grundsätzliche Anerkennung. Diese ist mit der Möglichkeit weiterer, zusätzlicher Evaluationen durchaus kompatibel. Wenn eine bestimmte kulturelle Praktik etwa (nebenbei oder ganz bewusst) eine für den offenen demokratischen Diskurs förderliche Wirkung entfaltet, dann kann sie dadurch sehr wohl als besonders unterstützenswert eingestuft werden. Nicht jede kulturelle Praktik ist da in jeder Hinsicht als gleich zu bewerten. (Vergleiche dazu Susan Wolfs Kritik an Charles Taylor in Taylor 1991.)
7. Vgl. z.B. Dewey (1937).
Literatur
Bhatti, A., Kimmich, D., Koschorke, A., Schlögl, R.,Wertheimer, J. (2011), „Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma“, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), Vol. 36:1,233-247.
Dewey, J. (1937), „Democracy and Educational Administration,“ School and Society 45, April 1937, 457-67 (Exzerpt online verfügbar: https://wolfweb.unr.edu/homepage/lafer/dewey%20dewey.htm).
Kymlicka, W. (2002), Contemporary Political Philosophy. An Introduction, Oxford University Press. Müller, J.-W. (2016), What is Populism?, University of Pennsylvenia Press.
Taylor, C. (1992), Multiculturalism and ‚The Politics of Recognition’, Essay mit Kommentaren (u.a. von Susan Wolf), Princeton University Press.
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