- Politik
„Nicht ohne Grund gab Allah zwei Ohren, aber nur eine Zunge.“
Warum es dem Westen so schwer fällt, die massiven Menschenrechtsverletzungen in der autonomen chinesischen Region Xinjiang wahrzunehmen. Und warum es der EU noch schwerer fällt, China mit einer Zunge anzuklagen.
Als am 24. November 2005 die uigurische Menschenrechtsaktivistin Rebiya Kadeer auf Einladung von Action des chrétiens pour l’abolition de la torture (ACAT), Amnesty International (AI) und Les amis de Tibet vor einem eher kleinen Publikum über die verzweifelte Situation der Uiguren in der Autonomen Region Xinjiang berichtete, war es für viele interessierte Zuhörer das erste Mal, dass sie von der lang währenden Unterdrückung dieser im äußersten Nordwesten der Volksrepublik China lebenden muslimischen Minderheit hörten (siehe Kasten Rebiya Kadeer). Erst mit der Veröffentlichung der sogenannten „China Cables“, einem Leak geheimer Dokumente der chinesischen Regierung aus den Jahren 2017 und 2018, war der Beweis erbracht, welche unvorstellbaren Ausmaße die chinesische Repression seit 2014 angenommen hatte. Die chinesische Regierung begann 2014 mit der Errichtung von Masseninternierungslagern, in welchen die Uiguren willkürlich und unter brutalsten Verhältnissen gefangen gehalten werden. Glaubwürdige Quellen gehen davon aus, „dass mehr als eine Million Uiguren in diesen ‚Einrichtungen zur politischen Umerziehung‘ inhaftiert sind oder waren, was die größte massenhafte Inhaftierung einer ethnischen Minderheit darstellt, die es derzeit auf der Welt gibt.“1 Die „China Cables“ wurden u. a. der Süddeutschen Zeitung zugespielt, welche die Papiere im Verein mit dem International Consortion of Investigative Journalists (ICIJ) überprüft und ausgewertet hat. In der Folge wurde die Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum kontinuierlich von der Süddeutschen Zeitung über die Zustände in Xinjiang informiert. Die Süddeutsche Zeitung, die schon in Zusammenhang mit den „Panama Papers“ mit investigativem Qualitätsjournalismus aufgefallen ist, legt in ihrer Berichterstattung großen Wert darauf, ausführlich die Verstrickungen der europäischen und insbesondere der deutschen Wirtschaft anzuprangern. Noch im April 2019 behauptete der VW-Chef Herbert Diess auf einer Automesse in Shanghai, „von Internierungslagern in Xinjiang nichts zu wissen. Volkswagen rudert kurze Zeit später zurück: Man sei sich der Lage in der Region durchaus bewusst.“2 Es ist nicht zuletzt das Verdienst eines engagierten investigativen Journalismus, dass heute niemand mehr glaubhaft behaupten kann, noch nie von der verzweifelten Situation der Uiguren gehört zu haben.
Die Unterdrückung der Autonomen Region Xinjiang hat eine lange Geschichte. Aus Sicht der Uiguren haben die Chinesen 1949 die Zweite Republik Ostturkestan gewaltsam besetzt. Die chinesische Seite hat eine andere historische Lesart: „Die chinesischen Soldaten seien laut Beijing von den Uiguren als Befreier begrüßt worden, die glücklich gewesen seien, Teil der kommunistischen Revolution zu sein.“3 Im Oktober 1950 marschierte die Volksarmee in das durch den tibetischen Buddhismus geprägte Tibet ein, das fortan zur Autonomen Region Tibet wurde. Im Rückblick zeigt sich ein großer Unterschied im Umgang der westlichen Welt mit dem durchaus vergleichbaren Schicksal der Uiguren und der Tibeter. Die Tibeter wehrten sich anfangs mit allen – auch gewaltsamen – Mitteln gegen die chinesischen Besatzer. Die Flucht des Dalai Lama nach Indien im Jahre 1959 wurde von anhaltenden Protesten der westlichen Welt begleitet. Die Kritik an China angesichts der Repression in Tibet ist nie verstummt und die Tibeter können sich bis heute glücklicherweise der internationalen Solidarität zahlreicher Unterstützergruppen gewiss sein. Vom Schicksal der muslimischen Minderheiten in Xinjiang, zu denen die Uiguren, Kasachen und andere zählen, gelangte über zu lange Zeit nichts ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Das änderte sich erst mit der Veröffentlichung der eingangs erwähnten „China Cables“. Bis dahin galt Xinjiang mit der an der alten Seidenstraße gelegenen Karawanserei Kashgar vor allem als Geheimtipp für ambitionierte Kulturtouristen. Die Gründe für das mangelnde Interesse an den Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang sind vielschichtig. Die Tibeter hatten mit dem im Exil lebenden weltlichen und geistigen Oberhaupt Dalai Lama einen international anerkannten und sogar verehrten Verfechter ihrer Sache. Der tibetische Buddhismus genießt im Westen seit jeher eine hohe Wertschätzung als Quelle spiritueller Inspiration. Die muslimischen Uiguren hatten niemals eine solch international bekannte Symbolfigur für ihren Widerstand. Hinzu kommt, dass der Islam als Religion im Westen bei weitem nicht so viel Interesse und Sympathie erfährt wie der tibetische Buddhismus.
Nach der Besetzung von Ostturkestan 1949 gab es auch in Xinjiang immer wieder gewaltsame separatistische Umtriebe. Von Anfang an versuchte die chinesische Regierung, Fakten zu schaffen mit der Ansiedlung von Han-Chinesen, die ihre Kultur und ihre Sprache mitbrachten. Der Anteil der Han-Chinesen betrug 1949 nur 4 % der Bevölkerung Xinjiangs. Im Jahr 2019 war ihr Anteil bei einer Gesamtbevölkerungszahl von rund 29,6 Millionen Einwohner auf mehr als 40 % angewachsen. Weltweit leben etwa 20 Millionen Uiguren, etwa 18 Millionen davon in Xinjiang und im benachbarten Kasachstan. Geschätzte zwei Millionen Uiguren haben ihre Heimat verlassen und sind ins Exil gegangen.
Xinjiang mit seinen Grenzen zu sechs weiteren Staaten war geopolitisch und geostrategisch für China von Anfang an von großer Bedeutung. Hervorzuheben ist, dass sich in der Autonomen Region Xinjiang auf einer Fläche von 1.665.000 km2 rund 30 % der kontinentalen Ölreserven und 30 % der Gasreserven befinden, ohne dass die einheimischen Uiguren von der Ausbeutung dieser Ressourcen profitieren könnten. Spätestens seitdem Xi Jinping die gewaltige geo-ökonomische Initiative „Neue Seidenstraße“ zur Chefsache erklärt hat, nahm die Bedeutung Xinjiangs als Kernregion dieses Projektes zu. Zeitgleich war die Zunahme der Repression gegen die Uiguren zu beobachten.4
Bereits im Jahre 2009 hatte die Unterdrückung ein solches Ausmaß angenommen, dass Hunderte von Uiguren in der Hauptstadt Urumqui zunächst friedlich gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung protestierten. Als die Proteste nach massivem Einsatz von Polizeigewalt eskalierten, starben mindestens 197 Menschen, Hunderte wurden verletzt.5 In der Folge kam es 2013 und 2014 zu spektakulären Attentaten, für die eine uigurisch-islamistische Separatistenvereinigung die Verantwortung übernahm. Diese Attentate wurden von der chinesischen Regierung mit aller Härte beantwortet und propagandistisch ausgeschlachtet. China stilisiert sich international und mit Verweis auf die Ereignisse von 9/11 als Vorkämpfer gegen den Islamismus und lenkt auf diese Weise von den Ursachen der Attentate ab. Ohne die Gewalttaten zu rechtfertigen, sind diese Attentate zuallererst als eine Reaktion auf den wachsenden Terror von Seiten der chinesischen Regierung zu werten. Es hat tatsächlich eine Reihe Uiguren gegeben, die sich in anderen Ländern dem IS angeschlossen haben. Dennoch ist es ein perfider Propagandatrick, alle Uiguren unter Terrorismusverdacht zu stellen und auf diese Weise gleichzeitig die wachsende Islamophobie der westlichen Welt zu bedienen. Viele durchaus kritische westliche Beobachter sind nicht in der Lage, zwischen Islam und islamistischem Terrorismus zu differenzieren, während mit dem Buddhismus eine grundsätzliche Friedfertigkeit assoziiert wird. Der aufgeklärte und friedvolle Islam hat es bisher verpasst, sich aktiv und hinreichend vom weltweiten Terrorismus im Namen des Islam abzugrenzen und Gewaltakte im Namen ihrer Religion deutlich zu verurteilen. Bemerkenswerterweise sind es insbesondere Frauen, etwa die deutsche Imamin Seyran Ateş und ihre französische Amtsschwester Kahina Bahloul, die offen den politischen Islam kritisieren und vehement eine Erneuerung des Islams einklagen, sodass in der französischen Presse schon die Frage aufgeworfen wird: „Le renouveau de l’Islam passera-t-il par les femmes?“6 „Ce qui nous relie, c’est notre humanité“7, verkünden die Imamin Kahina Bahloul und die Rabbinerin Delphine Horvilleur am Vorabend des Prozesses, in dem das Attentat auf Charlie Hebdo verhandelt wird. Nach dem schrecklichen Mord an Samuel Paty am 16. Oktober 2020 treten die beiden sechs Tage später gemeinsam in einem Gespräch im französischen Fernsehen auf.8 Wer sich dieses Gespräch angehört hat, dem wird es leichter fallen, der humanisierenden Kraft des Islams zu vertrauen, zu differenzieren und den chinesischen Propagandalügen zum Trotz Partei für die muslimischen Minderheiten in Xinjiang zu ergreifen. Die islamische Welt hingegen muss sich den Vorwurf gefallen lassen, die muslimischen Schwestern und Brüder in Xinjiang, denen nicht zuletzt die Ausübung ihres Glaubens verboten ist, im Stich gelassen zu haben. Um die wichtigen und lukrativen Geschäftsbeziehungen zu China nicht zu gefährden, hat allen voran Saudi Arabien alles getan, um Kritik an den Chinesen wegen der Unterdrückung der Uiguren und anderer muslimischer Minderheiten in Xinjiang zu verhindern.
Im Mai 2014 ruft die chinesische Regierung die Kampagne „Hartes Durchgreifen gegen Terrorismus“ aus. Im Juli 2016 wird Chen Quanguo zum Parteisekretär von Xinjiang ernannt. In seiner Person treffen sich die uigurische und die tibetische Geschichte ein weiteres Mal. Bevor er nach Xinjiang kam, war Quanguo als Parteisekretär in Tibet für sein brutales Vorgehen gegen die tibetische Bevölkerung berühmt-berüchtigt. Mit seinem Amtsantritt stieg die Zahl der Inhaftierungen in Xinjiang sprunghaft an. Das Netz der lokalen Polizei wuchs um 90.000 Stellen im Polizei- und Sicherheitsapparat.9 China setzt in Xinjiang modernste Überwachungstechnologien ein, sodass die Uiguren nun permanent und lückenlos unter Beobachtung stehen (siehe Kasten Strittmatter). Ganz Xinjiang ist zum Freiluftlager geworden, jeder Schritt wird überwacht, geringste Regelverstöße werden mit der Internierung in Konzentrationslagern geahndet. Ständige Kontrolle und Repressalien sind Alltag für uigurische und andere muslimische Minderheiten und erfassen alle Lebensbereiche: Versammlungen, Freizügigkeit, Sprache, Kultur, Religionsausübung, alles ist bei Strafe untersagt.
Ab 2017 wird in der westlichen Presse erstmals von den Internierungslagern berichtet. China räumt 2018 die Existenz von Lagern ein, behauptet jedoch, es handle sich nicht um Internierungslager, sondern um „berufliche Bildungseinrichtungen“, die den Bildungsstand der Uiguren verbessern und einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt schaffen sollen. Wie immer verbittet sich China die „Einmischung in innere Angelegenheiten“.10
Mit der Veröffentlichung der „China Cables“ ist definitiv der Beweis für die Existenz, für das schreckliche Ausmaß und die Zustände in den Lagern erbracht (siehe Kasten Die Kronzeugin). Das Europäische Parlament reagierte auf die Veröffentlichung dieser unvorstellbaren Menschenrechtsverletzungen mit der Verleihung des Sacharow-Preises an den seit 2014 inhaftierten uigurischen Menschenrechtsaktivisten Ilham Tohti (siehe Kasten). Am 19. Dezember 2019 zog das Europäische Parlament mit einer Entschließung zur Lage der Uiguren in China vor dem Hintergrund der „China Cables“ nach.11 Dies war nicht die erste Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Situation in Xinjiang. Schon 2009 hatte das EP eine Entschließung über Minderheiten und Todesstrafe, 2011 über die Bedrohung des Kulturerbes in Kashgar, 2016 angesichts der Inhaftierung von Ilham Tohti, 2018 zu den Beziehungen zwischen China und der EU und zu den willkürlichen Massenfestnahmen von Uiguren und Kasachen sowie 2019 zur Lage der religiösen und ethnischen Minderheiten in China auf den Weg gebracht. Am 17. Dezember 2020 stimmte das Europäische Parlament für die Entschließung „zu Zwangsarbeit und der Lage der Uiguren im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang“.12 In dieser mutigen Entschließung sind alle bisherigen Texte aufgenommen, wobei die aktuelle Entschließung eine noch deutlichere Sprache in der Schilderung und auch in den Forderungen spricht. Mit dem erbrachten Nachweis, dass China in Xinjiang neben allen anderen schwersten Menschenrechtsverbrechen ein System von moderner Sklaverei durch Zwangsarbeit unterhält, wird die Akzeptanz von Handelsbeziehungen zu China verschärft auf den Prüfstand gesetzt. Die Entschließung trägt der Tatsache Rechnung, dass jegliche Appelle um die Einhaltung von Menschenrechten wirkungslos verhallen werden, solange in den konkreten Handelsverträgen mit China keine verbindlichen und kontrollierbaren Menschenrechtsstandards eingeführt werden. Nach sieben Jahren Verhandlungen wurde Ende Dezember 2020 noch kurz vor Ende der deutschen Ratspräsidentschaft der Abschluss des Investitionsabkommens mit China durchgepeitscht, zum großen Missfallen vieler EU-Parlamentarier.13 Die chinesische Seite hat nur äußerst vage und nicht überprüfbare Zusagen gemacht, was die Beendigung der Zwangsarbeit angeht. Tatsache ist, dass in dem Vertrag keinerlei Kontrollmechanismen festgeschrieben sind. Dieses Abkommen kann erst nach der Ratifizierung durch das Europäische Parlament in Kraft treten. Wir dürfen gespannt sein, wie das Europäische Parlament diesen Lackmustest, was den Primat der Menschenrechte vor durchaus legitimen Ansprüchen der Wirtschaft angeht, bestehen wird.
„Nicht ohne Grund gab Allah zwei Ohren aber nur eine Zunge“, so ein altes uigurisches Sprichwort. Hoffen wir, dass die EU und darüber hinaus die freie Welt in Zukunft den Mut aufbringen werden, die überprüfbare Einhaltung der Menschenrechte auch und gerade in den wirtschaftlichen Beziehungen zu China einzufordern.
- EP Entschließung 2020/2913 (RSP): https://tinyurl.com/y53z4g8e
(alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 14. Januar 2020 aufgerufen). - https://www.sueddeutsche.de/politik/uiguren-china-unterdrueckung-geschichte-1.4693945
- https://tinyurl.com/y3zpt6kv
- Vgl. ebd.
- Vgl. Anm. 2.
- https://tinyurl.com/y5l6svmj
- https://tinyurl.com/y6tk2zpx
- https://tinyurl.com/y28qsna3
- Vgl. Anm. 2 und 3.
- Vgl. Anm. 2.
- EP Entschließung 2019/2945 (RSP): https://tinyurl.com/yxqdnu44
- Vgl. Anm. 1.
- Vgl. den Artikel von Isabelle Wiseler-Lima im vorliegenden Dossier.
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