- Geschichte, Gesellschaft, Politik
Nordstad
Kindheitsjahre der Hauptstadt des Öslings
Die Idee einer verstärkten regionalen Zusammenarbeit, insbesondere zwischen den Städten Diekirch und Ettelbrück, geht auf die 1970er Jahre zurück. Aufgrund fehlender Umsetzungsstrukturen und divergierender Interessen sollten die ersten Initiativen zur Schaffung der Nordstad jedoch ohne konkrete Folgen bleiben. Erst Ende der 1990er Jahre erlebte der Gedanke einer Hauptstadt des Öslings einen Aufschwung, was wiederum dazu führte, dass die Nordstad heutzutage den meisten ein Begriff ist. Aber hat sie ihr Ziel schon erreicht?
Das Gebiet rund um Diekirch und Ettelbrück ist eine der dynamischsten Regionen Luxemburgs. Während die Landesbevölkerung zwischen 1971 und 2001 einen Zuwachs von 26% verzeichnete, wuchs die Nordstad-Region um 35%. Die Region ist ein Verwaltungs-, Justiz- und Armeestandort sowie Sitz eines Schulzentrums mit gleich mehreren Gymnasien und Bildungseinrichtungen, darunter auch die Hotelfach- und die Ackerbauschule. Neben zentralen kulturellen Einrichtungen wie beispielsweise dem CAPe und dem Musikkonservatorium, ist hier ebenfalls ein bedeutendes Gesundheitszentrum mit gleich mehreren Krankenhaus- und Pflegeeinrichtungen angesiedelt. Zudem kann man von einer diversifizierten Wirtschaftsstruktur sprechen: Die Region ist ein Einzelhandelszentrum, aber auch Standort von zahlreichen mittelständischen Betrieben und einem großen industriellen Arbeitgeber in Colmar-Berg. Als Mittelzentrum erfüllt die Nordstad eine wichtige Versorgungsfunktion, nicht nur für ihr nahes Umland, sondern auch für die ganze Nordregion Luxemburgs.
Zusammendenken was zusammen gehört
So offensichtlich es, auf Basis der genannten Fakten, erscheinen mag, dass die Nordstad-Region in der Praxis eine Zentrumsfunktion für den Norden Luxemburgs einnimmt, so schwierig erwies sich über die letzten Jahrzehnte, dass sich diese natürlich zusammengehörende Region auch selbst als planerische und politische Einheit versteht. Vor allem im letzten Jahrhundert erschwerte die Konkurrenzsituation zwischen den Städten Diekirch und Ettelbrück wie auch das Stadt-Land Interessengefälle zwischen kommunalen Akteuren eine kontinuierliche und vor allem kohärente Zusammenarbeit. Die Herausforderung für die Nordstad lautet also: Zusammendenken, was längst zusammen gehört. Das regionale Bewusstsein um diese gemeinsame Aufgabe hat sich jedoch erst im Laufe der letzten 20 Jahre bei den einzelnen kommunalen Akteuren herausgebildet.
Die rezente Geschichte der Nordstad kann hierbei in zwei Phasen unterteilt werden. In einem ersten Stadium (Mitte der 1990er Jahre-2005) kam Bewegung ins Nordstad-Dossier: Eine Reihe von Studien, Planungen und Pilotprojekten sorgten für eine Bewusstseinsschärfung innerhalb der politischen und der breiten Öffentlichkeit. So gaben bereits 1996 fünf Gemeinden eine Absichtserklärung für das „projet de développement“ Nordstad ab. 1997 und 1999 legte man mögliche Entwicklungsszenarien vor, darunter eine Studie zur Schaffung einer interkommunalen Industriezone „Fridhaff“. Auf landesplanerischer Ebene wurde die Nordstad erst verstärkt im neuen „Programme directeur“ des Jahres 2003 als Mittelzentrum ausgewiesen. Genauso wie die „Südstadt“ um Esch-Alzette im Süden, sollte die Nordstad im Norden Luxemburgs ein Gegengewicht zum Oberzentrum Luxemburg-Stadt bilden.
Im Jahr 2000 wurde die „Denkfabrik Nordstad“ geschaffen, welche als wichtiger Katalysator für die regionale Dynamik dienen sollte. Damit auf gute Absichten auch Taten folgen konnten, setzte sich der Verein zum Ziel, die Vorteile einer regionalen Zusammenarbeit aufzuzeigen. Dies sollte durch konkrete Pilotprojekte und Initiativen, beispielsweise in den Bereichen Kultur-Theater, Mobilität oder Citymarketing ermöglicht werden Mittels dieser Lobbyarbeit sollte die Verwirklichung der Nordstad-Idee zudem bei kommunalen und nationalen Verantwortungsträgern, sowie in der breiten Öffentlichkeit vorangetrieben werden.
Insbesondere aufgrund pragmatischer stadtplanerischer und landesplanerischer Überlegungen in den Jahren 2005-2006, definiert sich die Nordstad heute allgemein eher als Kerngebiet von sechs Gemeinden: Bettendorf, Colmar-Berg, Diekirch, Erpeldange an der Sauer, Ettelbrück und Schieren. Anfang der 2000er Jahre hingegen, arbeitete die Denkfabrik Nordstad noch mit zwei räumlichen Begriffen: einem urbanen Nordstad-Kern und einer Region Nordstad, also insgesamt 15 Gemeinden, welche auch die direkt angrenzenden ländlicheren Gemeinden umfasst. Diese breitere, und noch heute vertretbare, Definition gründet in der Überlegung, dass eine kohärente Regionalentwicklung auch die Land-Stadt-Beziehungen einbeziehen muss.
So konnte 2001 durch die Zusammenarbeit zwischen der Denkfabrik Nordstad, 15 Gemeinden, zahlreichen Jugendvereinen aus der ganzen Region und einigen anderen lokalen Akteuren, der Nordstad Late Night Bus ins Leben gerufen werden. Das an den ländlichen Raum angepasste Nachtbussystem, welches heute als Modell für Nachtbusse in zwei Drittel der Luxemburger Gemeinden dient, wurde 2005 in einer repräsentativen ILReS Umfrage von 86% der befragten Bürger als populärstes Projekt der Region gewertet. Dieses System, das bis heute nur dank der regionalen Zusammenarbeit existiert, erweist sich somit nicht nur als sinnvolle Mobilitäts- und Verkehrssicherheitsinitiative, sondern auch als Marketingfaktor und Katalysator für den Nordstad-Gedanken in der breiten und kommunalpolitischen Öffentlichkeit.
Ein Nordstad-Bürgermeister im Jahr 2017
In der bereits erwähnten Umfrage von 2005 bezeugten die Einwohner aus dem regionalen Raum eine hohe Akzeptanz für die Nordstad-Idee. 90% der Befragten sprachen sich für eine verstärkte Kooperation der Kerngemeinden aus, während 75% auch eine engere Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden der Region als wichtig erachteten. Die Nordstad kommt langsam aber sicher in den Köpfen und im Alltag an. Dies zeigt sich unter anderem in der verstärkten Verwendung des Begriffes bei Namensgebungen wie beispielsweise Nordstad-Lycée, Nordstad-Bus, Nordstad-Schachclub oder Nordstadjugend. Auch im privatwirtschaftlichen Bereich taucht der Begriff inzwischen vereinzelt als Standort- und Marketingzeichen auf. Unterdessen entstand ebenfalls das regionseigene Presseorgan „HEX“.
Nach den Gemeindewahlen von 2005 konnte in der Nordstad ein entscheidender politischer Meilenstein gesetzt werden. Die Jahre 2006 bis 2016 können daher als zweite Phase der rezenten Geschichte betrachtet werden. Am 24. April 2006 unterzeichneten die sechs Kerngemeinden zusammen mit dem damaligen Innen- und Landesplanungsministerium eine Konvention für eine gemeinsame Entwicklungsplanung. Daraufhin wurden die ersten institutionellen Koordinationsgremien nämlich das „Comité politique“ und das „Comité technique“ gebildet. Somit waren die ersten regionalstrukturellen Voraussetzungen geschaffen und die politische und planerische Nordstad kam in Fahrt. Man war der politischen und planerischen Einheit also einen entscheidenden Schritt näher gekommen. In den Jahren danach folgte die Schaffung einer hauptamtlichen stadtplanerischen Koordinationsstelle. Für Planung und Bewirtschaftung von Gewerbegebieten, darunter die gemeinsame Nordstad-Industriezone „Fridhaff“, wurde eine weitere Koordinationsstelle und das interkommunale Gemeindesyndikat „ZANO“ gegründet. Zwei gute Beispiele erfolgreicher und gelebter Nordstad aus den letzten zehn Jahren sind im Jugend- und Sozialbereich zu finden: Beim regionalen Sozialamt Office social Nordstad arbeiten die sechs Kerngemeinden, sowie die Gemeinden Bourscheid, Feulen und Mertzig zusammen. Die Nordstadjugend, hervorgegangen aus den lokalen Jugendhäusern Diekirch und Ettelbrück, leistet regionale Jugendarbeit in den Kerngemeinden wie auch in Beaufort, Feulen und Mertzig. In beiden Fällen ermöglicht das regionale Teamwork Qualitätsgewinne.
Die Nordstad am Zug
Wenn auch die Nordstad 2016 bereits eine andere ist als jene aus dem Jahr 2006 oder gar 1970, wurden bisher lediglich die ersten Schritte hin zu einer kohärenten Regionalentwicklung gemeistert. Die Zukunft hält noch zahlreiche Herausforderungen bereit. Es stehen wichtige Fragen im Raum: Werden die Nordstad-Gemeinden es schaffen, die Zusammenarbeit auf neue Bereiche auszuweiten und im gemeinsamen Interesse zu vertiefen? Wird die Nordstad ihre Mittelzentrumsfunktion gegenüber Luxemburg-Stadt behaupten können? Schaffen die Partner es, ihre Verantwortung als „Hauptstadt des Öslings“ gemeinsam zu schultern? Wird sie die wohnungspolitischen, stadt- und verkehrsplanerischen Herausforderungen, die sich ihr stellen, meistern können?
In der Aufbruchsstimmung nach den Gemeindewahlen 2005 wurden 2006/2007, im Rahmen eines städtebaulichen Wettbewerbs („Consultation rémunérée“) für die Gestaltung der Zentralachse Nordstad zwischen Diekirch und Ettelbrück, Leitbilder für die zukünftige stadtplanerische Entwicklung erarbeitet. Der gesamte Planungsprozess wurde 2008 im Nordstad-Masterplan zusammengefasst, welcher in den betroffenen Gemeinderäten mehrheitlich angenommen wurde. Einer der zentralen stadtplanerischen Knackpunkte, nämlich die verkehrstechnische Erschließung, respektive die Verkehrsträgerwahl auf der „Zentralen Achse Nordstad“ wurden im Masterplan jedoch ausgeklammert. Dabei ist der Nordstad-Kern eine der verkehrsreichsten Regionen Luxemburgs.
Die verkehrspolitische Diskussion rund um die „Zentrale Achse Nordstad“ zeigt wie schwierig es ist, nicht nur regional, sondern auch zukunftsfähig zu planen und zu entscheiden. Das Ergebnis der „Consultation rémunérée“ legte 2007 den Abriss der Schienenverbindung Diekirch-Ettelbrück nahe. Die Nordstad und ihre zentrale Achse ohne das Rückgrat des öffentlichen Transports ist jedoch planerisch unverantwortbar. Der Nordstad-Kern mit seinen derzeit über 20 000 Einwohnern und einem Potenzial von um die 30 000 Einwohner, erfordert eher einen Ausbau als einen Abbau der Schiene. In einer TNS-ILReS Umfrage von 2008 forderten dann auch in diesem Zusammenhang 92% der Lokalbevölkerung den Erhalt der Schienenverbindung Diekirch-Ettelbrück. Ungefähr 60% sprachen sich für eine Verbesserung des Zugangebotes sowie zusätzliche neue Zughaltestellen aus. Infolgedessen traf das Transportministerium die, bis heute getragene, Entscheidung, die Schienenverbindung Diekirch-Ettelbrück zu erhalten und in das Schienenangebot zu investieren. In naher Zukunft stehen die Neugestaltung und der teilweise Ausbau des Bahnhofs Ettelbrück bevor.
Eine lebenswerte Nordstad gestalten
Der Nordstad steht noch ein langer und steiniger Weg hin zu einer kohärenten Regional- und Stadtentwicklung bevor. Der Diskussionsprozess über ihre langfristigen politischen und administrativen Strukturen ist noch nicht zu Ende. Wird es eines Tages tatsächlich zu einer Fusion der Nordstad-Kerngemeinden kommen? Sicher ist zumindest jetzt schon: Politik und Planung stehen in den nächsten Jahren respektive Jahrzehnten in der Verantwortung, eine bürgernahe, nachhaltige und lebenswerte Nordstad zu gestalten.
Im Hinblick auf die anstehenden Gemeindewahlen: In der Umfrage von 2005 gaben über 70% der Lokalbevölkerung an, sich vorstellen zu können, im Jahr 2017 einen Nordstad-Bürgermeister zu wählen. Bei den Kommunalwahlen 2017 werden außerdem erstmals junge Bürgerinnen und Bürger, die mit der Nordstad-Idee aufgewachsen sind, wählen.
2016 hat die Nordstad ihre Kindheitsjahre hinter sich. Welche Entwicklungen wird sie in der Pubertät durchmachen? Welche Persönlichkeit wird sie im Erwachsenenalter haben? Fortsetzung folgt … in 20 Jahren!
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