«Participation citoyenne, débat constructif, discussion éclairée?»
Online-Petitionen in Luxemburg
Mit den im Titel zitierten Worten beschrieb die Luxemburger Abgeordnetenkammer die angebliche Wirkung der Online-Petition auf das politische Leben im Land. Seit 2014 gibt es diese Teilhabemöglichkeit. Ihre Wurzeln gehen zurück bis auf das Jahr 2009. Seinerzeit forderte der Ombudsmann Marc Fischbach in seinem Jahresbericht eine Neubelebung der Demokratie: „La démocratie se doit d’être bien plus qu’une tradition voire une forme de société où le concours des citoyens à la vie publique se réduit au seul devoir de participer tous les cinq à six ans à l’élection de leurs mandataires (…) Pour être à la hauteur des exigences qui sont les siennes, la démocratie a (…) besoin des idées et des suggestions venant d’en bas.“1
Um dieses Ideal umzusetzen, schlug er die Einführung eines digitalen Petitionssystems nach dem Vorbild des Deutschen Bundestags vor. Die Abgeordnetenkammer griff diesen Vorschlag auf, und seit Anfang 2014 kann jeder, der mindestens 15 Jahre alt ist und über eine Luxemburger Sozialversicherungsnummer verfügt, auf der Webseite des Parlaments öffentliche Petitionen einreichen und online unterzeichnen.
Diese „öffentlichen“ Petitionen unterscheiden sich von den „gewöhnlichen“ Petitionen, die man nach wie vor auch per Post schicken oder persönlich überreichen kann. Öffentliche Petitionen müssen zwingend Angelegenheiten von allgemeinem Interesse behandeln. Sie sollen nicht nur den Regierenden einzelne Sorgen und Probleme kommunizieren, sondern auch eine politische Debatte stimulieren. Zu jeder zugelassenen Petition gibt es daher auch ein Diskussionsforum auf der Webseite des Parlaments. Wenn innerhalb einer Frist von 6 Wochen 4 500 Unterschriften gesammelt werden, findet ein „débat public“ mit den zuständigen Parlamentskommissionen und Regierungsvertretern statt. Gleich im ersten Anlauf – die Petition 329 gegen die Reform der Studienbeihilfen – wurde diese Schwelle auch geknackt. Im europäischen Vergleich bietet das neue luxemburgische System formal relativ weitreichende Möglichkeiten. Eine Studie, die elektronische Petitionssysteme in Europa untersucht und bewertet hat, sieht das neue luxemburgische System durchweg im vorderen Drittel.2 Nur Portugal und Deutschland wurden in der Summe besser bewertet.
Eine quantitative Explosion ...
Haben sich die mit der E-Petition verbundenen Hoffnungen erfüllt? Gab es eine Revitalisierung der demokratischen Öffentlichkeit? Trifft zu, dass „le succès rencontré par cet instrument inédit (…) devrait donner raison à tous ceux qui ont pensé qu’il fallait oser davantage de participation citoyenne, de débat constructif, de discussion éclairée“ – wie die Abgeordnetenkammer unbescheiden schreibt?3
Benutzt wird das neue Instrument tatsächlich. Seit dem Start des Systems Anfang 2014 bis Ende August 2015 haben nach meiner Zählung insgesamt 127 öffentliche Petitionen das Ende der Zeichnungsfrist erreicht.4 Die schiere Anzahl hat sich damit dramatisch erhöht: Im „analogen“ Parlamentsjahr 2012-2013 wurden gerade mal 5 Petitionen bei der Kammer eingereicht.5 Es scheint also auf den ersten Blick eine viel größere Aktivität von Seiten der Bürger zu geben. Die häufigsten Themen waren dabei Verfassungsfragen und Angelegenheiten der Transport- und Verkehrspolitik (jeweils ca. 20 Petitionen), gefolgt von Forderungen nach der Erhöhung oder Senkung von bestimmten Steuern oder Zahlungen.
Die Zahl der Petitionen ist aber wenig aussagekräftig, wenn man sie nicht zurZahl der Unterschriften in Bezug setzt. Hier fällt das Ergebnis weniger beeindruckend aus. Die meisten öffentlichen Petitionen erreichten nur eine geringe Zahl von Unterschriften. 53 Petitionen blieben im dreistelligen Bereich, und weitere 50 hatten sogar weniger als 100 Unterstützer. Alle digitalen Petitionen aus den ersten anderthalb Jahren zusammengerechnet erreichten ca. 91 700 Unterschriften (da ein Einzelner viele verschiedene Petitionen unterzeichnen kann, bedeutet das natürlich nicht, dass fast hunderttausend reale Personen sich beteiligt hätten). Aber gerade mal sieben Petitionen haben in diesem Zeitraum das Quorum für einen „débat public“ erreicht. Diese sieben kamen im Zeitraum von anderthalb Jahren zusammen auf ca. 45 000 Unterzeichner. Das entspricht in etwa dem Durchschnitt von 30 000 Unterschriften und 7 Petitionen jährlich unter dem alten, analogen Petitionssystem.6 Neu hinzugekommen ist mit der Einführung der E-Petition also zunächst einmal eine große Zahl von Petitionen mit relativ wenigen Unterstützern. Was die E-Petition demnach vor allem bewirkt hat, ist eine niedrigere Hemmschwelle, eigene Anliegen spontan, ungefiltert und völlig individuell zu lancieren, ohne sich vorher mit potentiellen Mitstreitern zu beraten.
… ist kein qualitativer Sprung
Aus diesem quantitativen Zuwachs lässt sich nicht zwangsläufig ein qualitativer Mehrwert an demokratischer Diskussion und Partizipation ableiten. Vielmehr trifft zu, was Jürgen Habermas über den generellen Einfluss des Internets auf die politische Öffentlichkeit schreibt: Die neuen
Kommunikationsmedien schaffen zwar bessere Möglichkeiten, sich zu Wort zu melden, aber sie tendieren auch zu einer Fragmentierung von politischer Kommunikation in eine große Zahl von kleinen, sich wechselseitig kaum zur Kenntnis nehmenden, „zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen.“7 Auch der Verfassungsrechtler Cass Sunstein sieht ein Problem darin, dass die unüberschaubare Vervielfältigung der Kommunikationsmöglichkeiten im Internet dazu führe, dass der Einzelne nur noch das zur Kenntnis nimmt, was die eigenen Facebook-Freunde „liken“ oder der Amazon- Algorithmus empfiehlt.8 Langfristig erodiere so die gemeinsame politische Öffentlichkeit zugunsten von individualisierten Konsumentscheidungen.
In abgeschwächter Form verhält es sich auch mit der E-Petition so. Beim klassischen Unterschriftensammeln in der Fußgängerzone kommt man mit allen Schichten der Gesellschaft in Kontakt und die flanierenden Menschen werden mit unbekannten oder provozierenden Ansichten konfrontiert. Diese Erfahrung fällt bei der E-Petition weg. Während der Aktivist in der Fußgängerzone sich zuverlässig hitzige und nicht immer erbauliche Streitgespräche mit Passanten liefern musste, sind die Diskussionsforen auf der Webseite der Luxemburger Abgeordnetenkammer völlig verödet. Diskutiert wird allenfalls in den sozialen Netzwerken. Dort stellt sich das Problem der Fragmentierung, der Nicht-Zur-Kenntnisnahme abweichender Meinungen und der Erosion politischer Urteilskraft zugunsten von isolierten „Likes“ aber erst recht.
Analoge Organisationsvorteile
Doch wie steht es mit jenen Petitionen, die das Quorum erreichen und im Parlament diskutiert werden? Hier lässt sich zunächst einmal eine Beobachtung machen, die all jenen einen Dämpfer verpassen dürfte, die glaubten, das Internet werde die klassischen Organisationsformen überflüssig
machen. Die erfolgreichen Petitionen werden nämlich nach wie vor überdurchschnittlich oft von organisierten Gruppen getragen, die in der Lage sind, auch außerhalb des Netzes eine Kampagne zu führen. Die höchste Zahl an Unterschriften – über 10 000 – erreichte bislang die Petition 483 gegen die Einschränkungen der Jagd. Verantwortlich dafür war die Jägerföderation St. Hubert, unterstützt von weiteren Verbänden aus dem Sport- und Landwirtschaftsbereich. Diese bilden kaum die Speerspitze der digitalen Revolution (sie sind überwiegend nicht mal bei Twitter!), verfügen aber über einen hohen analogen Organisationsgrad. Die bislang letzte erfolgreiche öffentliche Petition – betreffend den Schwimmunterricht in Grundschulen – wurde von der Gewerkschaft FGFC getragen. Der Löwenanteil der notwendigen Unterschriften wurde hier auch gar nicht online, sondern, wie
es seit Anfang 2015 (wieder) möglich ist, auf Papier abgegeben. Die Anliegen dieser Gruppen hätten wohl auch ohne die E-Petition erfolgreich in die Öffentlichkeit getragen werden können. Trotzdem: Die öffentliche Petition und die Aussicht auf eine Debatte im Parlament sorgen durchaus für eine verbesserte Resonanz. Die Medien berichten regelmäßig darüber, welche Petitionen sich der Schwelle von 4 500 Unterschriften nähern. Die einzelnen Anliegen erhalten dadurch mehr Sichtbarkeit und Legitimität, und die Öffentlichkeit wird um zusätzliche Themen und Standpunkte bereichert.
Plebiszitäre Missverständnisse
Dieser Mechanismus birgt aber eine andere Schwierigkeit. Studien aus Deutschland haben darauf hingewiesen, dass die Berichterstattung über E-Petitionen sich in problematischer Weise an Wahlkampfberichterstattung annähert: „Petitionen stellen ‚Rekorde‘ auf oder werden zu ‚Hits‘, sie legen ‚sensationelle Aufholjagd[en]‘ hin, oder ihre ‚Unterstützer klicken im Sekundentakt‘.“9 Dadurch werde in der Bevölkerung der Eindruck erweckt, es handele sich um eine quasi-plebiszitäre Echtzeitwillensbildung per Mausklick. Die Unterstützerzahlen werden dann als Indiz dafür genommen, nach welcher Seite die Stimme des Volkes angeblich neige. Doch repräsentative Demokratie funktioniert natürlich nicht so: Nicht Momentaufnahmen von punktuellen Unterstützerzahlen, sondern die dauerhafte Strukturierung und Abbildung von Kräfteverhältnissen durch ein pluralistisches Parteien- und Interessengruppensystem gibt hier den Ausschlag. Doch auch manche Politiker nehmen dieses Missverständnis billigend in Kauf. Langfristig führt das aber zu Enttäuschungseffekten. Denn mit der medialen Aufmerksamkeit, die die Anliegen erfolgreicher Petitionen bislang genießen, geht kein greifbarer inhaltlicher Einfluss auf die Politik einher. Von den Petitionen, zu denen bislang eine parlamentarische Debatte stattfand, richteten sich drei gegen konkrete Vorhaben der Regierung – gegen den geplanten Bau der Tram, gegen die Kürzung von staatlichen Studienbeihilfen und gegen die Einschränkung der Jagd. In allen Fällen blieb die Regierung mit ihren Vorhaben unbeirrt oder mit nur kosmetischen Zugeständnissen auf Kurs. Ein
Petent beschwerte sich daraufhin, die Debatte sei eine „Alibiveranstaltung“10, und die Jägerföderation schickte einen Brief an das Parlament, in dem sie über die Weise klagte, wie die Diskussion ablief.
Sinn und Grenzen von Petitionen in der Demokratie
Diese Klagen sind einerseits nachvollziehbar. Eine reale Veränderung von Politikinhalten war in der Tat von Anfang an unwahrscheinlich. Doch war dergleichen auch in Demokratien noch nie die Funktion von Petitionen, egal ob digital oder analog. Politische Machtverhältnisse zwischen Parteien und Interessengruppen verändern sich nun einmal nicht über Nacht durch eine unverbindliche Anhörung. Der linke Politikwissenschaftler Johannes Agnoli tat daher das Petitionsrecht rundheraus als Instrument zur Sicherung der Herrschaft ab. Es stille nur die „uralte Sehnsucht der Abhängigen“, sich „bei den Mächtigen Gehör zu verschaffen“.11 Ganz Unrecht hatte Agnoli nicht. Die digitale Simulation von Basisdemokratie auf der Spielwiese der Online-Petitionen ist eine billige Gelegenheit für inszenierte Bürgernähe und lässt die realen Teilhabedefizite an anderer Stelle – Stichwort Verfassungsreform – vergessen.
Dennoch können öffentliche Petitionen einen Wert für die politische Streitkultur haben. Sie können erstens dazu beitragen, Themen, die bislang randständig waren, überhaupt auf die Agenda zu setzen. Zweitens zwingen sie die Abgeordneten zur inhaltlichen Begründung ihrer Position. Und drittens können öffentliche Petitionen das Vorhandensein eines gesellschaftlichen Dissenses noch einmal deutlich machen. Das alles hat aber weniger mit kurzfristiger, quasi-plebiszitärer Willensbildung zu tun als mit der langfristigen Wirkung von öffentlichen, auch kontroversen Diskussionen, in denen alle
Standpunkte zu Wort kommen. Ein Parlament, schrieb John Stuart Mill schon 1861, sei „a place where every interest and shade of opinion in the country can have its cause even passionately pleaded, in the face of the government and of all other interests and opinions, can compel them to listen, and either comply, or state clearly why they do not“.12 Dazu können die öffentlichen Petitionen beitragen – im günstigsten Fall. Unverzichtbare Voraussetzung dafür bleibt, dass es gelingt, die dem Internet inhärente Fragmentierung des Publikums zu überwinden und die Anliegen der Petenten in die bestehende mediale und politische Öffentlichkeit einzuspeisen.
1 Ombudsman, Rapport d’activité 2008-2009, S. 1
2 Ulrich Riehm u. a., Elektronische Petitionssysteme.
Analysen zur Modernisierung des parlamentarischen
Petitionswesens in Deutschland und Europa, Berlin
2013, S. 195, 197 und 200.
3 Chambre des Députés, Rapport d’activité de la session
parlementaire, 2013-2014, S. 1.
4 Noch laufende Petitionen, bei denen die Zahl der
Unterstützer sich nach dem Stichdatum 27.8. noch
ändern kann, sind in dieser Zahl also nicht enthalten.
Nicht mitgezählt wurden auch Petitionen, die zurückgezogen
oder nicht zugelassen wurden. Von letzteren
gibt es einige Dutzend.
5 Chambre des Députés, Rapport d’activité de la session
parlementaire 2012-2013, S. 3.
6 Riehm u. a., Elektronische Petitionssysteme, S. 208.
7 Jürgen Habermas, „Hat die Demokratie noch eine
epistemische Dimension?“, in: Derselbe, Politische
Theorie, Frankfurt 2009, S. 87-139, hier S. 111.
8 Cass R. Sunstein, Republic.com 2.0, Princeton 2007.
9 Andreas Jungherr & Pascal Jürgens, „E-Petitionen
in Deutschland: Zwischen niedrigschwelligem Partizipationsangebot
und quasi-plebiszitärer Nutzung“ in:
Zeitschrift für Parlamentsfragen, 2011, Heft 3, S. 523-
537, hier S. 524.
10 David Angel, „Ohne Druck kein Dialog“, woxx, Nr.
1272, 19. Juni 2014, S. 4.
11 Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie
und verwandte Schriften, Hamburg 2004, S. 71.
12 John Stuart Mill, Considerations on Representative
Government, zuerst 1861, Kapitel V.
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