Politisches Zocken um den Rechtsstaat im Bahnhofsviertel

Der Prozess, der das Bahnhofsviertel der Stadt Luxemburg in einen zeitweise rechtsfreien Raum verwandelt hat, dauert seit nunmehr fast dreißig Jahren an. Er vollzieht sich in wechselnden Intensitäten und Formen besonders in den Bereichen Menschen- und Drogenhandel. Die Kapitel der Geschichte dieses Prozesses hängen zeitlich und real mit denen der Einbettung Luxemburgs ins große Weltgeschehen zusammen. Da spielen der Mauerfall, der erste Irakkrieg, die Balkankriege, das Aufkommen von Kokain- und Heroinstaaten, die Kriege in Afrika, die Migration von Süd nach Nord bei immer offeneren Grenzen eine zentrale Rolle. Denn diese Ereignisse haben immer wieder Millionen von Menschen dazu veranlasst, woanders ein besseres Leben zu suchen, so auch in Westeuropa, so auch für viele in Luxemburg.

Unter den Neuankömmlingen befanden sich in Luxemburg wie auch anderswo bei jeder Welle ebenfalls solche, die neue Formen von kriminellen Praktiken, Zusammenschlüssen und Netzwerken importierten. Sie verhielten sich anders als die einheimischen oder alteingesessenen Gesetzesbrecher. Sie nahmen keine Rücksicht auf ihr Umfeld, weil es ihnen egal war. Sie umgingen oder brachen nicht nur die Gesetze und Ordnungsregeln – sie scherten sich einfach nicht darum. Da aber ihr Angebot auf starke Nachfrage stieß und sie sich mit ihrem massiven Auftreten im öffentlichen Raum, ihren brutalen Methoden und einem nicht versiegenden Quell von menschlichen Ressourcen über eine gewisse Zeit durchsetzen konnten, florierte ihr Geschäft. Das überrumpelte immer wieder die legitimen Sicherheitskräfte, d. h. die Polizei, die bei allem menschlichen und technischen Aufwand nicht nur aus sprachlichen Gründen Mühe hatte, die neuen Methoden zu entziffern. Ruhe gab es nur zeitweise, und zwar dann, wenn Gangs andere, ertragreichere Gefilde in anderen Ländern aufsuchten oder es der Polizei doch gelang, Codes und Organisationsstrukturen zu knacken, um dann größere Aktionen gegen organisierte Banden erfolgreich durchzuziehen, wie etwa 2005 oder 2015.

Trotz der Neueröffnung des viertelbezogenen Kommissariats schon unter Etienne Schneiders (LSAP) Mandat, trotz des größeren Polizeiaufwandes seit über einem Jahr (immerhin 75 Polizeibeamte und 10 Kriminalbeamte), trotz der Pandemie, hat sich die Situation im Bahnhofsviertel und dem angrenzenden Teil Bonnewegs zugespitzt. Personalstarke Polizeistreifen mit Hund kommen immer häufiger zum Einsatz, nachts fahren Polizeiautos durchs Viertel, bei Notrufen sind die Beamten in der Regel schnell präsent. Punktuelle Festnahmen in flagranti und größere Fahndungserfolge im Drogenmilieu werden immer wieder gemeldet. Und dennoch: Man braucht nur einen Schritt ins Viertel zu setzen, um zu sehen, dass sich auf der Straße immer härtere Szenen abspielen.

Prostitution

Für jemanden, der nicht in diesem Umfeld lebt oder arbeitet, ist es schwer nachzuvollziehen, was sich wirklich im Bahnhofsviertel abspielt. So gibt es für den Straßenstrich Bereiche, die ab dem späten Abend amtlich toleriert werden. Deswegen sind etliche Straßen ab einer gewissen Zeit für den Autoverkehr geschlossen, auch für die Bewohner des Stadtviertels, die auf dem Nachhauseweg dort durchfahren würden. Darum aber scheren sich die Prostituierten überhaupt nicht. Ob im unmittelbaren Umkreis der Schule in der Rue de Strasbourg, an der Rue de Hollerich entlang oder bei den im Fischgrat geparkten Autos der Rue de Strasbourg, auch am helllichten Tag wird um Freier geworben. Und man ist gut organisiert. Kaum ist eine Streife gesichtet, macht man sich nach Absprache unsichtbar. Nicht selten sind die Zuhälter auch diejenigen, die den organisierten Stadtbettlern die Anweisungen geben. Abends beginnt dann das Cruising der Kunden. Kann der bezahlte Akt nicht im Auto oder in einem Zimmer vollzogen werden, geht es in die Büsche entlang des Boulevard Charles Marx, die Hinterhöfe der Wohnhäuser oder Mülltonnenlokale, sozusagen coram publico, wenn deren Bewohner vorne oder hinten aus dem Haus einen Blick durchs Fenster werfen, oder wenn sie noch abends vor dem Schlafengehen den Müll rausbringen und die Pärchen entdecken. So manches Kind bekam so schon ungewollt einen Aufklärungscrashkurs, so manch aufgeregter Elternteil wurde vom Kunden oder vom Zuhälter bedroht und neuzugezogene Bewohner auch schon mal von einem herbeigerufenen Polizisten belehrt, dass man ja schließlich im Garer Viertel wohne. Die Polizisten greifen nur ungern wegen des unerlaubten Betretens eines Privatgeländes ein, weil der einzelne Bewohner in Mehrfamilienhäusern kein Hausrecht für die ganze Immobilie beanspruchen kann. Anekdotisch gesehen klingen diese Vorfälle für Außenstehende grotesk-witzig, im Alltag sind sie aber für die Bewohner schlicht unerträglich.

Die Dealer bis 2015

Mit den Dealern ist es noch problematischer als mit den Prostituierten. Bis zum großen Zugriff von 2015 in der Affäre Nice-Bar wurde das Viertel vor allem von einer nigerianischen Gang massiv bedrängt. Diese besetzte mit bis zu 20 Leuten zwei strategische Kreuzungen, im Sommer vom frühen Abend bis in den frühen Morgen hinein. Wagen aller Preisklassen fuhren vor. Die Kunden wurden zügig bedient, unter ihnen auch Eltern, die für ihre drogenkranken Kinder einkauften. Die Rue de Strasbourg und Rue Joseph Junck waren zu einem regelrechten Drogenbazar unter freiem Himmel mutiert. Transaktionen erfolgten am laufenden Band. Die Geldscheine wurden in aller Öffentlichkeit gezählt, die Bündel waren zentimeterdick. Im Notfall konnten sie sofort in einem Wechselbüro an der Ecke in die ganze Welt verschickt werden. Die Notdurft wurde auch mal vor Ort verrichtet, auch bei Tage, zwischen den Autos, an den raren Bäumen gegenüber der Apotheke. Die Kunden konnten zuweilen den nächsten Schuss kaum abwarten, den sie sich auf einer Haustreppe, im Schatten eines Haus- oder Garageneingangs oder auf der Bank eines Spielplatzes setzten. In der Avenue de la Gare wurden zwei Cafés zu Nebenhauptquartieren, in denen die Kunden weitervermittelt wurden. Die Mittelsmänner wurden zahlreicher, liefen auf den Bürgersteigen der Avenues de la Liberté und de la Gare auf und ab oder standen vor dem Bahnhof, um ortsunkundige Neukunden anzusprechen. Ein Blick aus einem Dreitage­bartgesicht genügte, um den Kontakt herzustellen.

Die rechtsfreie Zone funktionierte während einer kurzen Zeit scheinbar ungestört, zumal die Dealer den Konflikt mit den Einwohnern vermieden, so wie es auch die meisten Einwohner taten, die sich durch ein solch massives Auftreten eingeschüchtert fühlten. Muckte der eine oder andere Gastronom oder Geschäftsinhaber auf, gab es Drohungen. Die Bürger schauten weg, grollten aber in den Bürgerversammlungen. Dort erklärte die Staatsanwaltschaft, sie habe kaum Handhabe, um dem Treiben ein Ende zu setzen. Die Polizeileitung versuchte zu relativieren und sprach von einem subjektiven Unsicherheitsgefühl.

Die Dealer seit 2015

Fünf Jahre nach der Razzia gegen die Nice-Bar-Bande und ihre Ableger in Wasserbillig haben sich die mehrheitlich aus Afrika stammenden Dealer neu aufgestellt. Ihre Anzahl hat wieder zugenommen. Sie treten nunmehr zu jeder Tageszeit in kleineren und weniger kompakten Gruppen zu dritt oder zu viert auf. Sie streifen einzeln, aber über Knopf im Ohr miteinander verbunden, entlang der Avenues und Straßen des Bahnhofsviertels bis nach Bonneweg. An verschiedenen strategischen Kreuzungen stehen Aufpasser, die wegen des verstärkten Polizeiaufgebots zwischen Hauseingängen und Bürgersteig in Zivil und in Uniform Schmiere stehen, um die Kollegen, Vermittler und Verkäufer übers Smartphone sekundenschnell warnen zu können. Die Mittelsmänner ziehen ihre Wege bis ins Stadtzentrum, dorthin, wo sich Jugendliche treffen: Man sieht sie in den Parks, an der Place d’Armes, in der Rue des Bains, um den Pont Adolphe und den Viaduc sowie an den Schulen auf dem Limpertsberg, in Bonneweg und sogar um den Fieldgen. Nach 2015 wurden Transaktionen in der Öffentlichkeit, bei denen Vermittler, Verkäufer und Käufer Kopf an Kopf zusammenstanden, für kurze Zeit seltener. Die Dealer versuchten nach der Zeit der größeren Polizeiaktionen diskreter aufzutreten. Aktuell lässt ihre Zurückhaltung aber wieder nach. Die Ausgangssperre hat die Geschäftszeiten auf der Straße verkürzt. Die Kundschaft ist sichtlich nervöser geworden. Auf der Fußgängerbrücke zwischen Gare und Bonneweg gibt es zuweilen kleine Schlangen von Kunden für kleine Mengen Rauschgift. Sie leben ihren Rausch lautstark auf dem Bürgersteig und auf den Treppen der Gebäude aus, die den Platz vor dem Bahnhof von der CFL-Direktion bis zur Avenue de la Gare säumen.

Trotz der Ermittlungserfolge der Polizei fordern die Dealer, deren Spuren sich schnell in der Menge verlieren, die Polizei tagein, tagaus heraus. Sie verhöhnen sie weiter mit ihrem ungebrochenen Geschäft, ihren unerschöpflichen menschlichen Ressourcen und der unverfrorenen Bedienung einer offensichtlich steigenden Nachfrage. Die Staatsanwaltschaft ist inzwischen aktiver geworden und hat kurz vor der Pandemie in einer Bürgerversammlung um Verständnis gebeten, weil sich die Ermittlungen gegen die Drogenbanden als sehr zeitaufwändig und personalintensiv erwiesen und somit eine schnelle Besserung der Verhältnisse nicht zu erwarten sei. Kaum eine Festnahme führt zur Inhaftierung der aufgegriffenen Delinquenten und Verbrecher. Diese werden vielmehr aus multiplen, rechtlich legitimen, aber von den Bürgern schwer nachvollziehbaren Gründen auf freien Fuß gesetzt, tauchen dann wieder in ihrem zugewiesenen Revier als eingeschworene Soldaten ihrer Gang auf oder werden „versetzt“. Für die Polizisten, die sich bei dieser Sisyphosarbeit aufreiben und die Klagen und Leiden der Bevölkerung direkt mitbekommen, bedeutet das unendlichen Frust.

Private Sicherheitsleute

In diesem Kontext trumpfte die Bürgermeisterin der Hauptstadt, Lydie Polfer (DP), Ende November mit der Aussage auf, die Situation im Bahnhofsviertel sei außer Kontrolle geraten. Dann setzte sie die gewagte Behauptung in die Welt, der grüne „Polizeiminister“ Henri Kox würde zu wenig dagegen tun und damit seinen Pflichten nicht nachkommen. Damit begründete sie die vom DP-CSV-Schöffenrat und ohne Konsultation des Gemeinderats getroffene Entscheidung, eine private Sicherheitsfirma einzustellen, deren Auftrag darin besteht, von Anfang Dezember 2020 bis zum 31. Januar 2021 täglich zwischen 17 und 23 Uhr, also bis zum Beginn der pandemiebedingten Sperrstunde, „aktive und sichtbare Prävention im öffentlichen Raum“ durch Überwachungsrundgänge von Zwei-Mann-Streifen mit Wachhund sicherzustellen. Damit betrat sie mit ihren Kollegen, auch wenn alle dies bestreiten, ein neues ordnungspolitisches Feld: die Infragestellung eines Grundpfeilers des Rechtsstaats, nämlich seines Gewaltmonopols. Polfer öffnete die Büchse der Pandora, wie es Henri Kox mehrfach treffend in Pressegesprächen formulierte. „Es gibt nur einen einzigen Dienst, der im öffentlichen Raum für Recht und Ordnung einsteht, und das ist die Polizei. Ohne Wenn und Aber“, betonte er im Tageblatt.1

Das Gesetz über die Kompetenzen privater Sicherheitsfirmen sieht deren nur vier vor: und zwar den Schutz von Objekten, (konkreten) Personen, Geldtransporten und Alarmanlagen. Streifen im öffentlichen Raum sind nicht vorgesehen. In Sachen Objekt- und Personenschutz wurden diese Kompetenzen in den letzten Jahren dafür aber sehr großzügig ausgelegt. Allerdings kamen die betreffenden Firmen ihren Aufgaben bis dato auch nur bei zeitlich und räumlich begrenzten Events, Schwellenkontrollen in geschlossenen Räumen und dem Objektschutz um abgegrenzte Räume nach. Das Leben in einem Stadtviertel ist aber weder ein Event noch gibt es Einlasskontrollen. Und zeitlich begrenzt ist städtisches Leben schon mal gar nicht.

Nichts Neues?

Die Frage ist nun, warum sich eine gestandene Politikerin, die seit fast 40 Jahren in der Hauptstadt und auf Landesebene in der oberen Liga mitspielt, mit ihrem Schöffenrat in solch ein rechtlich fragwürdiges Abenteuer stürzt. Sie selbst, die CSV-Schöffen Serge Wilmes und Laurent Mosar, aber auch der für den öffentlichen Dienst zuständige DP-Minister Marc Hansen haben sich dazu unisono und mit derselben abgekarteten Argumentationsstrategie sowie denselben Formulierungen in Interviews geäußert: Es ginge darum, die Sicherheit im Bahnhofsviertel zu garantieren und das Sicherheitsgefühl auf den Straßen durch die Präsenz von Streifen zu steigern, weil die Polizei dies nicht mehr genügend gewährleisten könne. Diese Streifen könnten unter Berufung auf das Recht auf Notwehr eingreifen, um Vergehen zu verhindern und seien angewiesen, umgehend die Polizei zu verständigen. Das sei alles legal, die Menschen des Bahnhofsviertels wollten das so, und private Streifen im öffentlichen Raum seien eh „nichts Neues“. Eine Ersatzpolizei aber sollten diese Streifen nicht darstellen.

Als Präzedenzfälle zitierten die DP- und CSV-­Politiker zuerst den Einsatz von Sicherheitsfirmen bei Events wie etwa bei der Schobermesse und danach das in der Tat grundsätzliche Fragen aufwerfende Beispiel Differdingen. Dass dessen Bürgermeisteramt seit geraumer Zeit von Politiker(inne)n der Grünen bekleidet wird, wurde von DP- und CSV-Seite genüsslich betont. Dort geht, so erfuhr es jetzt die breitere Öffentlichkeit, seit Sommer 2019 eine private Sicherheitsfirma Streife. Und nicht nur das: Davon war weder in den Medien berichtet noch war dieser Vorgang von einer politischen Partei thematisiert worden, auch nicht von denen, die jetzt in der Hauptstadt protestieren. Genau dies sagt wiederum viel über die Art und Weise aus, wie in Luxemburg die Gemeindepolitik von der Presse nur zu selten über das lokal Anekdotenhafte hinaus in einen breiteren politisch-gesellschaftlichen Kontext gesetzt wird.

Die Bilanz der Aktion in Differdingen wurde anschließend von RTL genauer recherchiert, sodass die Öffentlichkeit am 7. Dezember 2020 erfuhr, dass diese Streifen in ca. 15 Monaten 1.100 Mal eingeschritten und 150 Mal die Polizei verständigt haben.2 Der für Sicherheit zuständige CSV-Schöffe Robert Mangen berichtet in dieser Reportage, dass die privaten Sicherheitsleute ihren Kompetenz­bereich „unter dem Strich“ respektiert hätten, was auch immer das heißen mag. Daraufhin aber folgt ein Satz, der trotz aller Beschwichtigungsversuche auch eine Beklemmung, ja, einen spießig geäußerten Zweifel mitschwingen lässt, ob denn die Söldner, die man gerufen habe, sich auch immer unter Kontrolle haben würden: „Mir hunn awer elo u sech relativ gutt Erfarunge gemaach. Si si relativ dezent. Et si mol heiansdo Incidenten, déi virkommen. Si hu sech awer relativ zeréckgehalen. Do kann een net kloen.“ Ein Gefühl von Sicherheit klingt anders. Von Backpfeifen und ausrutschenden Händen hat man auch schon gehört. Und auf so etwas hat sich nun auch der Schöffenrat der Hauptstadt eingelassen.

Streifen ohne Wirkung

Konkret sah die Arbeit der zwei Streifen mit jeweils zwei Mann und einem Wachhund am 6. Dezember im Bahnhofsviertel so aus: Man traf sich um 17 Uhr auf dem Platz vor dem Centre culturel an der Kreuzung Wedell-Junck-Strasbourg, hielt zehn Minuten Palaver auf Französisch, während auf der anderen Seite neben dem Cactus gerade eine Transaktion zwischen Dealer und Drogenkonsumenten unter den Augen des Vermittlers stattfand. Dann begaben sich die Sicherheitsleute von der Rue de Strasbourg zum Dreieck vor dem früheren Hotel Staar, von wo sie die zwei Imbisse auf der gegenüberliegenden Seite der Avenue de la Gare, die als Hotspots der Drogenszene gelten, beobachteten. Nach 20 Minuten Unterhaltung, bei der sie einen dicken falsch parkenden und mit vier starken Jungs besetzten Mercedes-SUV mit Hamburger Kennzeichen geflissentlich übersahen, drehte die Gruppe in die Avenue de la Liberté ab, trennte sich dann und ging die Zeile bis zur Place de Paris auf den beiden Seiten der Straße ab. Eine Familie drehte sich um, stellte sich Fragen, was diese Art von Streife denn solle. Eine Gruppe von Jugendlichen, vor der Eingangstür eines Gebäudes friedlich versammelt, schaute der Streife leicht spöttisch nach. Die eine Streife bog Richtung Avenue de la Gare ab, die andere in die Rue d’Anvers, wo nichts los war, und ging dann über die Rue Adolphe Fischer in Richtung Place de Strasbourg. Von dort aus begab sie sich wieder zu ihrem Ausgangspunkt in den oberen Teil der Rue de Strasbourg. In der Zeit hatten sich die Dealer, von ihren Aufpassern informiert, vom Platz in den unteren Teil der Straße verzogen. Während die Streife sich entfernte, kamen die Dealer aus den Häusereingängen und dem unteren Teil der Straße quasi als geschlossene Gruppe wieder zurück, und alle bezogen ihre üblichen Posten. Der rechtsfreie Raum war im Nu wiederhergestellt.

Mehr Sicherheit? Mehr Prävention? Für solch eine Streife ohne Wirkung, für solch einen „GoG“, wie man im Fernsehen den Gang ohne Grund nennt, ohne den viele Reportagen bei der Inszenierung ihrer Protagonisten nicht auskommen, für solch einen vollkommen absurden und überflüssigen Ablauf, den der Philosoph Norbert Campagna einen „Medienstunt“ nennt3, ist der Schöffenrat der Hauptstadt das Risiko eingegangen, das staatliche Gewaltmonopol zu unterminieren, wovor der Juraprofessor Stefan Braum von der Uni Luxemburg nachdrücklich warnt.4 Dabei war der Coup schon länger in Erwägung gezogen, wenn nicht geplant worden. Schon kurz nach der Bürgerversammlung im Herbst 2019 hatte der u. a. für den öffentlichen Raum zuständige DP-Schöffe Patrick Goldschmidt während eines Interviews für Paperjam folgende Erklärung abgegeben: „J’ai entendu qu’il y aurait plus de policiers. Mais si la police n’a pas les moyens nécessaires, nous ferons appel à des sociétés privées, même si leur action est limitée“.5

PPP im öffentlichen Raum?

Die rechtlich bedenkliche Aktion in der Hauptstadt könnte Schule machen. Echternach und Ettelbrück denken inzwischen auch darüber nach, Privatstreifen in ihren Straßen einzusetzen. Das Städte- und Gemeindesyndikat Syvicol hat Lydie Polfer geschlossen Rückendeckung gegeben – eine politisch nicht unerhebliche Geste. In einem Pressecommuniqué vom 7. Dezember 2020 beruft sich der Verband auf seine „moralische Pflicht“, dem „Unsicherheitsgefühl der Bürger“ entgegenzuwirken, und streicht die „in der Verfassung verankerte kommunale Autonomie“ hervor. „Ce faisant, les communes ne font qu’agir dans le cadre de leurs compétences légales en exerçant leur pouvoir de police administrative générale“, heißt es in einer kühnen Auslegung der Gesetzgebung. Der Einsatz von privaten Sicherheitsfirmen ist für den Syvicol solange gerechtfertigt, bis genug Polizei vor Ort eingesetzt werden kann. Bis dahin verlangt er, dass „un cadrage des missions des agents de sécurité agissant dans le domaine public soit précisé.“6

Das aber ginge nur durch eine Abänderung des Gesetzes. Sollte also das Beispiel der Hauptstadt wirklich Schule machen, ehe es zu einer gesetzlichen Novelle käme, würde das noch in Zeiten der Pandemie, dieser „demokratischen Zumutung“, vor der immer wieder gewarnt wird, die Bedingungen, unter denen in Luxemburg die Sicherheit im öffentlichen Raum gestaltet wird, grundsätzlich verändern. Und dies ohne klare gesetzliche Basis. Andrerseits würden sich mit der stetigen Nachfrage für die private Sicherheitsindustrie neue Horizonte auftun: Neueinstellungen, eine stärkere und breitere Sichtbarkeit, eine Banalisierung ihrer Präsenz in einem öffentlichen Raum, in den sie eigentlich in der Form nicht hingehört, eine Respektabilität, die ihr bis jetzt wegen ihrer Praktiken, der Qualifikation ihrer Leute vor Ort und ihres Umgangs mit ihren Mitarbeitern nur aus opportunistischen Gründen zugestanden wird, und neue Hebel, um Einfluss auf die Sicherheitspolitik des Landes zu bekommen. Die Sicherheit im öffentlichen Raum als Public-Private-Partnership!

Kox kapituliert

Kox, der davor gewarnt hat, diese Büchse der Pandora zu öffnen, hat aber als zuständiger Minister dann versagt. „Ein privates Sicherheitsunternehmen als Patrouille ist für mich nicht im Gesetzestext drin“, wurde er am 2. Dezember 2020 im Tageblatt zitiert. „Nur private Agenten, die am Rechtsstaat vorbei in der Avenue de la Gare auf und ab spazieren, will ich nicht mehr sehen“, wiederholte er am 5. Dezember 2020 in derselben Zeitung. Trotz dieser rechtlich klaren Statements hat er nichts gegen das Unterfangen der Stadt unternommen, sondern auf den Dialog mit dem Schöffenrat gesetzt. Der hatte inzwischen die Frage auf die nationale Ebene gehievt, indem er im Parlament, wo u. a. vier seiner sieben Mitglieder tagen, über die CSV eine erweiterte Dringlichkeitsfrage zur Sicherheitslage im Bahnhofsviertel und in Bonneweg für den 10. Dezember auf die Tagesordnung setzen ließ.

Laurent Mosar von der Oppositionspartei CSV war in der Chamber derjenige, der „unter der Kontrolle von Madame Buergermeschtesch“ von der Regierungspartei DP damit beauftragt war, Minister Kox in die Mangel zu nehmen. Anstatt den Rechtsstaat als hohes Gut in den Vordergrund zu stellen, stellte Kox sofort klar, er werde „heute nicht auf die Diskussion über die privaten Sicherheitsleute eingehen“. Er kapitulierte ohne Grund, erwies sich damit, obschon mit einer eminent hoheitlichen und sensiblen Aufgabe im Rahmen des Rechtsstaats betraut, als der schwache Minister, den er auch in seinem anderen strategischen Amt als Wohnungsbauminister abgibt, und als Politiker der Grünen, die von DP und CSV nicht nur in der Hauptstadt vor sich hergetrieben werden, ohne Kraft und politischen Instinkt.

Ordoliberale Blaupause

Demgegenüber hat der Übereifer, mit dem DP und CSV mit abgestimmter Sprachregelung in dieser Affäre aufgetreten sind, nur bedingt etwas mit der Sorge um die Sicherheit der Bürger und die rechtsfreien Räume im Bahnhofsviertel zu tun. Er ist vielmehr ein Indiz dafür, dass in der DP die Lust, mit den Grünen weiter zu regieren, offenkundig abgenommen hat, während in der CSV die Meinungsumfragen und die internen Kräfteverhältnisse die letzten schwarz-grünen Träume nicht weniger Mitglieder zerschlagen hat. Die Show, die Lydie Polfer, Serge Wilmes und Laurent Mosar, die letzteren beiden Exponenten des rechts-liberalen Flügels der CSV, bis ins nationale Parlament abgezogen haben, ist vielmehr eine Art partielle Blaupause für neue Wege des Regierens in einer ordoliberalen Koalition, die auch in Wirtschaftskreisen herbeigesehnt wird. Da es sich anbietet, führt man die Grünen zuerst vor, danach hebelt man sie aus. Das ist in einer Demokratie an sich auch nicht problematisch. Fragwürdiger hingegen ist, dass diese Blaupause nicht vor einer schleichenden Aushebelung von rechtsstaatlichen Prinzipien zurückschreckt, wie es auch in anderen EU-Mitgliedstaaten populistisch abdriftende bürgerliche Parteien immer wieder versuchen. Gerade das soll jetzt im Bahnhofsviertel mit der Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols im öffentlichen Raum ausprobiert und schmackhaft gemacht werden. So harmlos, wie man diesen Vorgang darstellt, ist er nicht.

  1. https://tinyurl.com/y3kcjhqn (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 11. Dezember 2020 aufgerufen).
  2. https://www.rtl.lu/news/national/a/1626122.html
  3. https://tinyurl.com/yy5dt4aq
  4. https://tinyurl.com/yxf5s26x
  5. https://paperjam.lu/article/il-faut-perimetre-ou-on-interd
  6. https://tinyurl.com/y3jrjv7e

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