Populismus? Der Begriff bereitet mir immer noch erhebliche Schwierigkeiten. Inhaltsleer oder mit allen Inhalten vereinbar, meint er mehr eine Form der Legitimation als eine politische Programmatik. Damit unterscheidet er sich von Begriffen wie Liberalismus oder Sozialismus, die zwar auch sehr unterschiedliche Deutungen und Anwendungen zulassen, aber immerhin eine allgemeine inhaltliche Orientierung andeuten. Der „Populismus“ verweist etymologisch eigentlich nur auf eine Berufung auf das „Volk“, die man positiv (demokratisch) wie negativ (demagogisch) deuten kann.
Ja, es gibt ernsthafte Versuche, den Begriff einigermaßen klar zu definieren, Kriterien aufzulisten, und mit historischen Vergleichen so etwas wie eine Kontinuität oder eine gewisse Eindeutigkeit zu erreichen, aber die Schwammigkeit bleibt. Da wäre es schon nützlicher, wenn man sich auf andere, inhaltsreichere Begriffe einigen könnte, um bestimmte politische Entwicklungen und Strömungen von heute zu bezeichnen: nationalistisch-autoritär sind sowohl der Front National wie auch die polnischen und ungarischen Rechten, und das erlaubt wohl auch bessere Vergleiche (das heißt noch nicht Gleichsetzungen) mit verschiedenen Entwicklungen in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Der undifferenzierte Begriff des „Populismus“ aber erschwert eher notwendige Analysen: „L’usage actuel du terme ‚populisme‘ fait obstacle à une analyse différenciée de ces réactions ainsi que de leurs causes, quand cette analyse s’impose au contraire comme la tâche la plus urgente à laquelle doivent s’atteler les véritables démocrates.“1
Wer ist wessen Populist? Die analytische Schwäche des Begriffs erlaubt umso mehr seine polemische Nutzung. Der „Populismus“ ist für manche zu einem Kampfbegriff geworden gegen alle und alles, was irgendwie nicht in den Mainstream passt. Die herrschenden Verhältnisse, die ökonomischen Dogmen müssen gegen Rechts- wie Linkspopulisten verteidigt werden. Selbst Sozialdemokraten wie Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn haben sich das Schimpfwort gefallen lassen müssen. Mit solchem undifferenzierten Gebrauch nutzt man nur den nationalistisch-autoritären Bewegungen, die sich in „guter“ Gesellschaft wähnen dürfen. Daher, denke ich, sollte man auch äußerst vorsichtig sein beim Versuch, den „Populismus“ explizit für die Linke in Anspruch zu nehmen, wie die Philosophen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe2 das – allerdings sehr klug begründet – vorgeschlagen haben. Beim Versuch, rechte Muster zu übernehmen, ist die Linke meist gescheitert.
Wer ist der Populus des Populismus?3
Das ist eine doppelte Frage: Wer ist das „Volk“(a) für die, die man gemeinhin als „Rechts-Populisten“ bezeichnet; (b) für die, die den Begriff des „Populismus“ in polemischer Absicht benutzen. Dann muss die Frage kommen: Wer ist eigentlich das Volk der Demokratie?
„Wir sind das Volk!“ – ein Beispiel dafür, wie die gleichen Wörter in unterschiedlichen Kontexten ihre Bedeutung ändern können. 1989 war es der befreiende Anspruch auf demokratische Freiheiten und Rechte, die der DDR-Staat versprochen, aber nicht gewährt hatte. 25 Jahre später wird er zum Wahlspruch für eine Bewegung, in der sich die Frus-tration über das nicht eingelöste Versprechen „blühender Landschaften“ mit dem autoritären, teils totalitären, ausgrenzenden Geist der extremen Rechten vermischt.
In Frankreich werden die realen sozialen Probleme rassistisch umgelenkt, „le peuple“ sind die authentischen Nachfolger der „nous les Gaulois“ und Verehrer der Jeanne d’Arc. Sie alle zimmern sich so ein „Volk“ zurecht, das zu ihrer rechten Ideologie passt: ethnisch, traditionalistisch und religiös definiert, das „Volk“ des christlichen Abendlands, abgegrenzt sowohl gegen alles Fremde wie gegen die undefinierten „Eliten“, zu denen die Politiker jeder Couleur ebenso gerechnet werden wie kritische Intellektuelle. Das alles ist kein Faschismus, mag sein, und mit his-torischen Vergleichen muss man in der Tat vorsichtig umgehen. Dennoch: Zu den Fundamenten des historischen Faschismus gehört auch das Ideologem eines einheitlichen, gebündelten („fascio“!) Volkes, das sich gegen alles Anderssein, gegen den kritischen Geist und gegen jede Diskursbereitschaft sperrt oder sie gewaltsam unterdrückt – im Bündel steckt das Beil!
Allerdings kommen Gedanken aus der politischen Mitte manchmal gefährlich nahe an solche Phantasmen heran, wie die Beschwörung von Konsens und Einigkeit, statt von Pluralismus und Dissens, die Berufung auf Tradition statt auf Veränderbarkeit, die Leitkultur des deutschen Innenministers und die „identité nationale“ des früheren französischen Präsidenten.
Zu fragen aber ist, aus welchen Umständen und auf welchem Nährboden die nationalistisch-autoritären Bewegungen gedeihen. Dafür gibt es sicher mehrere Ursachen. Aber, wie auch schon früher, gehören reale soziale Verwerfungen dazu.
Negatives Individuum
Die Abwertung und Schwächung sozialer Konflikte und sozialer Zugehörigkeiten im Zeichen des Neoliberalismus, die forcierte Individualisierung hat zur Entwicklung eines „negativen Individuums“ oder des „individu par défaut“ geführt, wie Robert Castel das schon vor mehr als 30 Jahren genannt hat, also eines Individuums, dem zwar Verantwortung für sein eigenes Schicksal aufgebürdet wird, dem aber die kollektiven Ressourcen für die Selbstbehauptung fehlen. Der Individualismus ist ohne soziale Einbettung höchst widersprüchlich und bedenklich. „Ainsi la contradiction qui traverse le processus actuel d’individualisation est profonde. Elle menace la société d’une fragmentation qui la rendrait in-gouvernable, ou alors d’une bipolarisation entre ceux qui peuvent associer individualisme et indépendance parce que leur position sociale est assurée, et ceux qui portent leur individualité comme une croix parce qu’elle signifie manque d’attaches et absence de protections.“4
An die Stelle des Arbeiters, der stolz sein konnte auf seine produktive Leistung UND seine Teilnahme am kollektiven Engagement, dem auch schließlich gesellschaftliche Anerkennung zuteil wurde, tritt eine Figur des losgelösten Individuums in prekärer Situation – das sich möglicherweise neue, verhängnisvolle Bindungen sucht. Aus dem Arbeiter, gegen Patron und Kapital, wird der Franzose gegen Ausländer und „Eliten“. In Retour à Reims beschreibt der französische Soziologe Didier Eribon, wie seine Arbeiterfamilie von PCF- zu FN-Wählern geworden ist. Er zitiert Sartre: der spontane Rassismus, den es auch beim Arbeiter gebe, verschwinde im Streik, wo er zusammen mit seinen arabischen Kollegen für die gemeinsame Sache streitet. Wenn aber dieses Zusammensein zerfällt? Wenn der Klassenkonflikt nicht mehr kollektiv ausgetragen wird, dann kann der spontane Rassismus wieder auftauchen? „C’est donc très largement l’absence de mobilisation ou de perception de soi comme appartenant à un groupe social mobilisé ou solidaire parce que potentiellement mobilisable et donc toujours mentalement mobilisé qui permet à la division raciste de supplanter la division en classes.“5
So unabdingbar jeder Widerstand gegen Rassismus, jeder Appell an demokratische Werte, so sicher ist wohl, dass sie nicht reichen, wenn nicht wieder jene kollektiven Ressourcen, Solidaritäten und Auseinandersetzungen belebt werden.
Verächtliches Volk?
Die Demokratie braucht die Berufung auf das Volk – was wäre sonst ihr Sinn? „We the people…“, „Les Représentants du peuple français… “, die ersten Sätze der US-Verfassung und der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen heißen etwas. Aber dieses Volk, der Demos der Demokratie, ist nicht ein fiktives homogenes, quasi organisches Kollektiv, sondern die Gesamtheit der Citoyens, mit ihren unterschiedlichen und gegensätzlichen Interessen.
Im Vorwurf des „Populismus“ aber schwingt ein Misstrauen mit gegenüber dem „Volk“, oder jenem Teil desselben, den die Römer verächtlich „Plebs“ nannten, Gramsci gar nicht verächtlich die „sub-aternen Klassen“. Dieses Misstrauen begleitet die Demokratie von Anfang an. Bei Euripides schon muss Theseus die athenische Demokratie verteidigen gegen den Einwand des thebischen Herolds: wie sollte die Masse in der Polis herrschen, da sie nicht einmal ihre eigenen Gedanken beherrschen kann.6 Von Platon bis zum neuzeitlichen Liberalismus reicht dieses Misstrauen und der Streit um die Frage, ob der „Demos“ überhaupt fähig sei, sich selbst zu regieren.
Die repräsentative Demokratie der Moderne (statt der direkten Demokratie der Griechen) wird zwar einerseits begründet mit dem Argument der Staatsgröße, andererseits aber auch als Schutz gegenüber der unberechenbaren „Masse“. Das Recht auf Repräsentation ist daher auch zunächst sehr selektiv. Besitz- und Bildungslose, und natürlich die Frauen bleiben lange ausgeschlossen.
Trotz allen offiziellen Beschwörungen der Demokratie spürt auch das „Volk“ das unterschwellige oder explizite Misstrauen. Man darf sich also fragen, ob das Misstrauen des „Volks“ gegenüber der Politik und den Institutionen nicht auch eine Antwort ist auf das Misstrauen, das es selbst erfährt. „Vues sous cet angle, la défiance des gouvernés envers les gouvernants, que l’on impute trop souvent à un antiélitisme de principe, apparaît comme une simple réplique de la défiance des gouvernants à l’égard des gouvernés.“7 Die Verachtung des realen Volkes ist ebenso schädlich für die Demokratie wie die Verherrlichung eines mythischen „Volkes“ – umso mehr, als sie sich gegenseitig in die Hände arbeiten und nicht selten sogar vermischen, da sie sich keineswegs ausschließen.
Unsichere Demokratie
Ja, die Demokratie kann umschlagen in die „Despotie der Mehrheit“, daher reicht auch das Mehrheitsprinzip nicht aus zur Definition der Demokratie. Die „majority rule“, meinte John Dewey, ist tatsächlich so „foolish“, wie ihre Kritiker ihr vorwerfen. Sie kann wohl nicht abgeschafft werden – aber relativiert und ergänzt durch andere demokratische Formen der Partizipation.
Ja, die Demokratie ist nicht sicher vor sich selbst – unabhängig von den Prozeduren. Auch die repräsentative Demokratie bietet keinen definitiven Schutz, und selbst die Gewaltenteilung, lehrt die Geschichte, kann ausgehebelt werden. Manche Warnung vor den Gefahren der direkten Demokratie, die von den „Populisten“ bevorzugt werde, ist also zu einseitig. Hitler kam nicht über ein Referendum an die Macht, das Maulkorbgesetz konnte nur über ein Referendum verhindert werden.
Für den französischen Philosophen Claude Lefort ist die Demokratie prinzipiell immer in Gefahr, weil sie das Regime der Unbestimmtheit und der Unsicherheit ist, im Gegensatz zum Totalitarismus. Es ist die Gesellschaftsform des Konflikts, nicht des Konsens, der offenen Fragen, des permanenten Streits um Deutungen – auch um die Deutung und Extension des Begriffs „Volk“. „Dans ce type de société, la figure du peuple s’esquisse, mais elle ne peut se fixer, l’unité se dérobe, les critères du juste et de l’injuste, du vrai et du faux, du bien et du mal, même ceux du possible et de l’impossible, sont indéterminables. Bref, là, la société fait ouvertement question pour elle-même.“8 Das heißt eben auch, dass die Demokratie strukturell zerbrechlich ist. „Le signifiant flottant qu’est la démocratie est à la mesure de la fragilité structurelle qui habite l’existence démocratique.“9 Auch die demokratischen Institutionen und Prozeduren können genutzt werden zum Abbau der Demokratie.
Daher reichen also weder Prozeduren noch Institutionen. Claude Lefort hat betont, wie sehr die Demokratie ein Lebensstil, eine Existenzweise ist – oder sein sollte. Eine Existenzweise der Pluralität, der friedlichen Konflikte, der Auseinandersetzung um Alternativen – eine Existenz- und Verhaltensweise bis hinunter auf die subjektive Ebene. Das impliziert dann aber zumindest zweierlei. Diese „Existenz-weise“ muss zum einen in allen gesellschaftlichen Bereichen gefördert werden: in der Familie, in der Schule, im Betrieb, in der Verwaltung. Zum anderen müssen die Bürger/innen erfahren, dass ihre Teilnahme an dieser gesellschaftlichen Existenzweise auch etwas bewirkt. Diese Erfahrung haben sie offensichtlich immer weniger. Die Entscheidungsprozesse haben sich verlagert, werden intransparent, und das unsägliche Gerede von der Alternativlosigkeit stellt die Prinzipien der Demokratie selbst in Frage.
Der aufkeimende Nationalismus hat natürlich auch zu tun mit einer solchen Verlagerung der Entscheidungsprozesse vom Nationalstaat auf supranationale Instanzen wie die Europäische Union und/oder auf scheinbar abstrakte Mächte wie die Finanzmärkte. Die rechten Bewegungen können so die „Nation“ im doppelten Sinn aufwerten: einmal als den authentischen Raum der öffentlichen Entscheidung, zum andern als Ersatz für verlorene soziale Bindungen.
Dagegen hilft wieder nicht der gut gemeinte Appell – sondern nur die Neuordnung Europas als demokratischen Raum auf mehreren Ebenen, der Primat der Politik (also der Demokratie) über die „Märkte“ und die Belebung solidarischer Kollektive über die nationalen Grenzen hinaus.
1 Catherine Colliot-Thélène, Peuples et populisme, puf, p. 26.
2 Z. B. Ernesto Laclau, argentinischer Philosoph: La raison populiste; seine Gefährtin Chantal Mouffe, belgische Philosophin: L’illusion du consensus.
3 So fragt auch Catherine Colliot-Thélène in Peuple et populisme : « Quel est le peuple du populisme ? » (p. 6).
4 Robert Castel, Métamorphoses de la question sociale, Fayars, p. 474.
5 Didier Eribon, Retour à Reims, Fayard, p. 152.
6 Euripide, « Les Suppliantes », in: Œuvres, La Pléiade, p. 364.
7 Catherine Colliot-Thélène, op.cit. p. 18.
8 Claude Lefort, Le temps présent, Belin, p. 366.
9 Myriam Revault d’Allonnes, Pourquoi nous n’aimons pas la démocratie, Seuil, p. 23.
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