Reformschulbewegung(en)

Ein kurzer Überblick über Ideen, Geschichte und Auswirkungen

Unter dem Begriff der Reformschulbewegung versteht man eine Vielzahl von Bewegungen und Ansätzen, die das klassische Schulwesen herausfordern. Jedoch sind die Grenzen zwischen den Positionen fließend – unser modernes Schulverständnis geht ebenso wie die Reformschulbewegung auf das Denken der Aufklärung, oder sogar noch weiter, auf die antike Auffassung der Paideia zurück. Im Folgenden werde ich mich auf die modernere Zeit beschränken, um nachzuzeichnen, was eigentlich reformpädagogische Konzepte sind und wie diese auf die moderne Schule einwirken. Diese Darstellung erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will nur kursorisch einige zusammenhängende Themen aufzeigen, die dem interessierten Leser punktuelle Orientierung bieten können.

Die Aufklärung – Erste Ansätze

Im Zuge der Aufklärung taten sich völlig neue Wege auf, die Erziehung zu betrachten. Erste Ansätze sind bei John Locke und Jean-Jacques Rousseau zu finden. John Locke publizierte 1693 die Schrift Some Thoughts Concerning Education, in der er wichtige Grundlagen für spätere Erziehungsauffassungen legte. Seine Anschauung von Erziehung ist eng mit seiner empirizistischen Erkenntnislehre verbunden. Der Mensch ist für Locke eine tabula rasa, die erst durch Erfahrung beschrieben wird. Daher resultiert der Haupteinfluss schlechthin auf das spätere Verhalten des Menschen aus der Erziehung – und somit kann man das Verhalten eines Menschen zum größten Teil auf dessen Erziehung zurückführen. Locke erkennt aber auch, dass es individuelle und eingegebene Talente gibt, die man gezielt fördern muss. Der Arzt Locke betont in seiner Pädagogik die Wichtigkeit von Ernährung und Schlaf und die Abhärtung gegenüber den Elementen, da er den Körper als wichtiges Lehrmittel für den Geist versteht. Er setzt auch strenge Disziplin gegenüber den eigenen Begierden voraus, um Tugenden zu entwickeln. John Locke war hier sicherlich von den puritanischen Strömungen innerhalb des Protestantismus seiner Zeit beeinflusst. Auch richtete sich seine Pädagogik nur an Jungen, die zu Gentlemen geformt werden sollten.

Rousseau, der die Idee eines nicht korrumpierten Menschseins im Naturzustand vertrat, sieht die Aufgabe der Erziehung vor allem darin, die dem Menschen von Natur aus eingegebenen Fähigkeiten zu entfalten. In seinem Roman Emile ou de l’Education beschreibt er, wie grundsätzlich die Unterscheidung zwischen Erwachsensein und Kindheit ist. Die Kindheit wird als eigenständige und vollwertige Phase des Menschseins aufgefasst, die bereits in sich die Möglichkeiten zur Entfaltung zum vollwertigen Menschen trägt, der den demokratischen Idealen Rousseaus entsprechen soll. Rousseau spricht sich für eine fast schon negative Form der Erziehung aus, die die natürliche Entfaltung des Kindes nicht hemmen und mit falschen Idealen und Vorstellungen unterdrücken soll, die einer schlechten Gesellschaft entstammen. Erwähnt werden müssen hier auch die Überlegungen des tschechischen Philosophen Johann Amos Comenius (1592-1670), der in seiner Didactica Magna dem Kind mehr Freiraum und Vergnügen einräumen möchte. Dies entspricht schon eher den Idealen der modernen Reformpädagogik als die autoritäre und disziplinierte Herangehensweise eines John Locke.

Im 19. Jahrhundert verbreiteten sich dann klarer umrahmte reformpädagogische Konzepte und Bewegungen. Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) betont in seiner von der Romantik inspirierten reformpädagogischen Lehre das Lernen ‚mit Kopf, Hand und Herz’. Sein Schüler Friedrich Wilhelm August Fröbel, der Erfinder des ‚Kindergartens’, führte diesen Ansatz noch einen Schritt weiter durch seine Auffassung, dass Kinder ganz eigene Bedürfnisse haben und auch spielend, sowohl einzeln als auch in der Gruppe, lernen können.

Sehr einflussreich war Johann Friedrich Herbart (1776-1841), der, wie Locke und Rousseau, eine direkte Verbindung zwischen Erziehung und gesellschaftlichem Leben sah. Laut Herbart sind Fähigkeiten und Eigenschaften nicht angeboren, sondern müssen durch eine soweit wie möglich vollständige Erziehung entwickelt werden, so dass ein ganzheitlicher Mensch der Gesellschaft zu Gute kommen kann.Herbarts Einfluss war nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. Der Brite Cecil Reddie setzte den Herbartianismus in Derbyshire, England um. Dabei wandte er eine Kombination von körperlicher Ertüchtigung, Handwerk und künstlerischen Tätigkeiten neben dem Erlernen von Wissenschaften an. In den USA ist der Philosoph des Pragmatismus, John Dewey (1859-1952), bekannt geworden durch seine Theorien zur progressive education. Er hob dabei den eminent sozialen Charakter der Erziehung hervor, der den Menschen in die Gesellschaft integrieren soll. Die Schule ist nicht primär ein Ort des Lernens, sondern eine Gemeinschaft, in der man voneinander lernt. Nicht nur abstraktes Erlernen der Wissenschaften ist hier wichtig, sondern auch Kochen und Handarbeit. Dewey versuchte seine pädagogischen und soziologischen Theorien empirisch in Laboren zu erfassen und zu bewerten.

Man sieht an diesen historischen Beispielen, dass die Reformpädagogik aus der Entwicklung der Mainstream-Pädagogik eigentlich nicht wegzudenken ist, da die Grenzen als sehr schwach zu definieren sind. Viele der Konzepte, wie sportliche Ertüchtigung oder die bildenden Künste, sind heute fester Bestandteil unserer Auffassung von Erziehung.

Steiner und Montessori

Die in unseren Breitengraden am meisten verbreiteten Formen der Reformpädagogik sind die Montessori-Padägogik sowie die auf Rudolf Steiner zurückgehende Waldorfpädagogik.

Maria Montessori (1870-1952) war eine italienische Ärztin, Erzieherin und Philosophin, die eine ganzheitliche Form von Pädagogik herauszuarbeiten versuchte. „Ganzheitlich“ oder „holistisch“ bezeichnet hierbei eine Form der Erziehung, die in ein in sich stimmiges Weltbild eingebettet ist. Wie bei früheren reformistischen Ansätzen wird bei Montessori vor allem die Individualität des Kindes betont – Kinder sollen frei lernen und sich so entfalten, ohne einer übergreifenden und behindernden Autorität ausgesetzt zu sein. Einzelne Talente und Bedürfnisse stehen im Vordergrund.

Falls das Kind Schwierigkeiten mit einer Lehrmethode hat, sollen alternative Wege gesucht werden. Die Kind-Lehrer-Beziehung wird nicht als absolute Gegenüberstellung verstanden, sondern als ein Prozess, durch welchen beide Parteien hinzulernen, da sie ständig aufeinander zugehen und sich anpassen müssen.

Im Hintergrund steht ein Menschenbild, das sich aus antiken und mittelalterlichen Quellen speist. Der Mensch wird als Mikrokosmos aufgefasst, der den Makrokos-mos, also die gesamte Welt, spiegelt. Dabei sind gewisse esoterische Auffassungen dem Weltbild der Montessori-Pädagogik nicht ganz fremd. Man spricht von einer kosmischen Erziehung, die das Individuum in den Gesamtzusammenhang der Welt einbettet. Der Mensch, der im Gegensatz zum Tier mit Intelligenz ausgestattet ist, soll sich seiner kosmischen Mission bewusst werden – die Aufgabe besteht im Bewahren der Schöpfung. Das Montessoriprinzip setzt auch ein Gottesbild voraus. Gott ist der Schöpfer der Welt und des Menschen, und der Mensch ist gewissermaßen Gottes Spiegelbild durch seine Intelligenz, seine Bildungsfähigkeit sowie seine Berufung zur kosmischen Aufgabe.

Bekannter als die Montessori-Pädagogik ist in Luxemburg die Waldorfpädagogik. Diese geht auf die anthroposophische Anthropologie und Kosmologie Rudolf Steiners (1861-1925) zurück, die eine Synthese aus verschiedenen Einflüssen der europäischen (Goethe z.B.) und außereuropäischen (etwa indischen) Geistesgeschichte darstellt. In der Anthroposophie wird der Mensch in drei ‚Glieder’ eingeteilt, nämlich Geist, Seele und Leib, die den Aktivitäten Denken, Fühlen und Wollen entsprechen. Darüberhinaus gibt es eine esoterische Viergliederung des Körpers – jenseits des ‚physischen’ Körpers gibt es noch den Ätherleib, der die vitalen Funktionen des Körpers reguliert, sowie den Astralleib, der das Seelenleben beinhaltet, und letztlich das Ich als unsterblichen Kern des Menschen. Diese verschiedenen Körper kommen erst ab einem gewissen Alter zur Geltung und die Erziehung muss sich an diesen Rhythmus anpassen.

Die Waldorfpädagogik zeichnet sich durch eine Förderung des Denkens, Fühlens sowie des Wollens aus, die ihrerseits den intellektuellen, künstlerischen und praktischen Fähigkeiten der Schüler entsprechen. An der öffentlichen Schule kritisiert die Waldorfpädagogik die einseitige Hervorhebung der kognitiven Fähigkeiten des Schülers. Sie verfehlt somit einen ganzheitlichen Menschen zu bilden. Neben den üblichen Fächern wie Sprachen, Biologie, Geschichte, Physik, Religion und Chemie werden in den Waldorfschulen auch Schreinerei, Hauswirtschaft, Singen, Instrumentalmusik, Eurythmie (eine Art esoterischem Tanz) und Gartenbau – dem Alter der Schüler angepasst – angeboten.

Wie bei den Montessori-Schulen sind auch in der Waldorfpädagogik Lehrer und Kinder keine Antipoden. Es gibt keinen festen Lehrplan. Der Lehrer muss das Kind einschätzen und in Erfahrung bringen, was dieses benötigt. Somit entsteht ein offener Lernprozess, an dem sich das Kind aktiv beteiligt.

Ideologische Kampfstätten

Es ist offensichtlich, dass reformschulische Ansätze auf ganz eigenen Weltbildern beruhen. So muss erwähnt werden, dass es in der (deutschen) Reformschulbewegung Ansätze gab, die ein völkisches und rassistisches bzw. antisemitisches Gedankengut vertraten. Rudolf Steiner selbst vertrat eine esoterische Auffassung von Rasse, die z.T. auf die Ausführungen der russischen Theosophin Helena Blavatsky zurückzuführen sind. Laut Steiner gibt es durchaus eine Rassenhierarchie, die man nach Physiognomik und Seelenleben etablieren kann.

Andererseits darf man die Reformpädagogik nicht auf diese Ansätze reduzieren. Innerhalb der Reformpädagogik gibt es andere Strömungen, die ein sozialistisches oder liberales Weltbild vertreten.Der Nationalsozialismus wollte reformpädagogische Bestrebungen systematisch ausmerzen – so starben viele Vertreter der sozialistischen, liberalen und jüdischen Reformpädagogik in Konzentrations-lagern (Die Montessori-Pädagogen Clara Grunwald oder Theodor Rothschild z.B.).

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bekamen reformpädagogische Auffassungen durch linke Aktivisten wieder eine größere Bedeutung und mehr Geltung in der gesellschaftlichen Mitte. Dabei ging es darum, Bildung nicht nur als ein Instrument der kapitalistischen Gesellschafts-und Marktordnung anzusehen, durch das Arbeiter und Angestellte produziert werden, sondern als ein individualisierendes und ebenso gemeinschaftsstiftendes Prinzip. Der Schüler soll ohne einer Autorität zu unterliegen seine eigenen Talente und Fähigkeiten entwickeln. Erziehung soll Solidarität zwischen den Mitbürgern hervorbringen und damit der individualistischen und egomanischen kapitalistischen Gesellschaft entgegenwirken .

Ein bekannter Vertreter dieser Art von Erziehung ist der Brite Alexander Sutherland Neill, dessen Summerhill: A radical Approach to Child Rearing großen Einfluss auf antiautoritäre Erziehungsansätze in der ganzen Welt ausübte. Er befürwortet darin, ausgehend von seinem eigenen Schul- und Erziehungsexperiment in der Summerhill School, dass das Wohlbefinden des Kindes in den Vordergrund gestellt wird. Radikal ist dabei seine Auffassung, dass Schulen demokratisch geführt werden und die Kinder ein direktes Mitspracherecht haben sollen. Die Schüler können selbst entscheiden, ob und wie sie Kurse besuchen. Neills Auffassung nach ist jeder autoritäre Eingriff von außen schädigend für das Wohlbefinden und die Charakterbildung des Kindes. Neills Auffassungen sind sehr umstritten und werden teils als gefährlich angesehen. Andererseits geben auch Kritiker zu, dass er wichtige Einsichten oder zumindest neue Fragen aufgeworfen hat.

Auswirkungen auf den Schulbetrieb

Das Verhältnis zwischen Reformschulen und Standardschulen ist nicht das einer diametralen Opposition, sondern vielmehr als dialektisch zu betrachten. Viele moderne Schulpraktiken sind auf das Einwirken und den Einfluss der Reformschulbewegungen zurückzuführen. Öffentliche Schulen sind in der Regel längst nicht mehr so autoritär, wie sie es früher einmal waren, und zudem werden den Schülern zumindest theoretisch mehr Freiheiten in der Zusammenstellung ihres eigenen Lehrplanes gegeben, damit sie sich gemäß der eigenen Bedürfnisse und Talente entfalten können. Zudem werden neben den rein intellektuellen Fähigkeiten auch immer mehr die sozialen, musischen und künstlerisch-kreativen Kompetenzen gefördert. In Luxemburg erkennt man in den Reformbestrebungen der letzten Jahre einige Ansätze, die aus der Reformpädagogik im weitesten Sinne stammen. De neie Lycée, oder jetzt bekannt als Lycée Ermesinde, setzt einige reformpädagogische Prinzipien um. Auch die neuen internationalen Schulen, die Erziehungsminister Claude Meisch einführte, überlassen den Schülern, welche Sprachen sie auswählen. Die in Dänemark und im Vereinigten Königreich entwickelten Methoden der Forest School haben ebenso dort z.T. schon Eingang in die öffentliche Schulpraxis gefunden.

Die Prinzipien der Reformpädagogik scheinen eine gewisse Einheit aufzuzeigen, wie etwa die Rückbesinnung auf das Kind oder den Jugendlichen, die Zurückweisung autoritärer Lehrmethoden, sowie die freie Entfaltung von Talenten und Vorlieben. In einem sich rasch wandelnden sozialen Umfeld müssen sich die reformpädagogischen Schulen ebenso anpassen. Das letzte Kapitel der Reformpädagogik und deren Einfluss auf die Pädagogik insgesamt ist somit noch nicht geschrieben.

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