Relativ oder absolut?

Über unterschiedliche Konzeptionen im Umgang mit der Meinungsfreiheit in Luxemburg und den USA

Am letzten Donnerstag im November 1981 betrat der damalige Oppositionsführer im deutschen Bundestag das ehrwürdige Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Mit gellenden Pfiffen von der Galerie empfing die Mehrheit der 1.500 Studenten Dr. Helmut Kohl. Das Audimax war brechend voll; ich hatte einen der letzten Plätze auf dem Balkon erwischt. Als Erstsemester durfte ich einer Veranstaltung beiwohnen, die „zu den größten Tumulten seit der Studentenrevolte vor mehr als zehn Jahren“ geführt hatte, wie die Süddeutsche Zeitung im Anschluss berichtete. Im Hörsaal dauerte es eine satte Dreiviertelstunde, bis sich die von ohrenbetäubendem Geschrei und gegenseitigen Beleidigungen aufgeheizte Stimmung einigermaßen beruhigte und der CDU-Vorsitzende sich Gehör verschaffen konnte.„Zur Revolution braucht es mehr als einer Stunde Geschrei! Weitermachen!“, mokierte er sich über die studentischen Aufrührer aus den Reihen der Marxistischen Gruppe. Hinterher gingen wir vermutlich in eine Kneipe, um ausführlich weiterzudiskutieren, während Kohl irgendwann nach Bonn zurückkehrte, um ab Oktober 1982 für 16 Jahre das Amt des deutschen Bundeskanzlers zu übernehmen.

An dieses Erlebnis dachte ich, als ich mir dieser Tage am Computer die Debatte vom 14. November 2017 im Luxemburger Parlament in voller dreistündiger Länge ansah. Ihr zugrunde lag ein Antrag des ADR-Abgeordneten Fernand Kartheiser, der die Meinungsfreiheit hierzulande in Gefahr sieht. Hintergrund sind u.a. Rechtsverfahren, in denen die Richter zu dem Schluss kamen, dass bestimmte Aussagen auf sozialen Medien nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt seien, sondern zur Hassrede gezählt werden müssen. Auf seinem Blog hält Kartheiser in einem sehr ausführlichen Eintrag vom 4. November 2017 eine ellenlange Liste mit Beispielen bereit, die belegen sollen, wie der Staat die Zensur durch die Hintertür (schleichend) einführt.

Deshalb fordert er eine engere Auslegung von hate speech und die Gründung von debating societies nach angelsächsischem Vorbild, um die Jugendlichen argumentativ zu bewehren, statt eine sogenannte Schneeflocken-Generation heranzuziehen, die vor den geringsten emotionalen oder intellektuellen Erschütterungen bewahrt wird. Es ist wenig verwunderlich, dass keiner der anderen Redner an jenem Mittwochnachmittag im Plenum die Meinungsfreiheit in Luxemburg ernsthaft in Gefahr sah. Artikel 24 der Verfassung ist eindeutig: „La censure ne pourra jamais être établie.“ Praktisch bedeutet Zensur, dass ein Bürger eine Aussage nur dann machen darf, wenn sie vorher staatlich geprüft (und für gut befunden) wurde. Die Vorstellung einer Behörde, der ein Autor sein Manuskript einzureichen hätte, bevor es zur Drucklegung freigegeben würde, ist in diesem Zusammenhang absurd. Man darf hierzulande sagen und schreiben, was man will. Man muss allerdings mit Konsequenzen rechnen, etwa wenn eine andere Bürgerin sich beleidigt fühlt oder strafrechtliche Grenzen überschritten werden. Darüber entscheiden Gerichte, und wenn man nicht gerade der Überzeugung anhängt, dass Gerichte politisch gesteuert sind, sondern ihre Aufgaben unabhängig erfüllen, muss man sich eher wenig um die Meinungsfreiheit in Luxemburg sorgen. (Im Übrigen ist es auch keine Zensur, wenn eine Zeitung einen Leserbrief nicht druckt; diese Entscheidung gehört zu ihrer redaktionellen Freiheit.)

In der Diskussion, wie sie Fernand Kartheiser führen möchte, geht es im Grunde nicht um Zensur und auch nicht um die strafrechtlichen Grenzen der Meinungsäußerung. Vielmehr geht es um das Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und Konzepten wie pensée unique und political correctness. Fernand Kartheiser führt in diesem Zusammenhang ein Ereignis an, das auch mir zu denken gibt. Im April 2016 hatte das Trifolion in Echternach den ehemaligen sozialdemokratischen Berliner Finanzsenator und Bundesbanker Thilo Sarrazin zu einem Gespräch gebeten. Man mag sich wundern, wie diese Einladung zustande kam, und man mag viele von Sarrazins Thesen nicht goutieren; man mag gar gegen die Veranstaltung protestieren, aber warum mit einem Autor über seine kontroversen Bücher, die frei erhältlich sind, nicht länger diskutiert werden soll, ist mir unergründlich.

Derartige Versuche, Meinungsfreiheit über political correctness einzuhegen, wird letzten Endes, aufgrund einer, wie mir scheint, falschverstandenen Rücksichtnahme, bestenfalls zu zwiespältigen Ergebnissen führen. Safe spaces und trigger warnings mögen anfangs, d.h. in den frühen 1990er Jahren, ein ehrenwerter Versuch gewesen sein, der (postmodernen) Differenzierung Rechnung zu tragen an den US-Universitäten (im Gegensatz zur Absicht der Moderne, der Inklusion das Wort zu reden). Dennoch: Was ändert es, wenn ich einen geistesbehinderten Mann „anders begabt“ nenne? Oder was bringt es, wenn Professoren in ihren Seminaren Stoffe vermeiden, die womöglich eine Zumutung für bestimmte Minderheiten sein können, weil die (zur Diskussion stehenden und teilweise historischen) Inhalte nicht gänzlich frei von Homophobie oder Rassismus sind? Oder wenn eine Vorabwarnung an die Studenten unumgänglich wird, weil sie vor der Lektüre nicht wissen können, dass Anna Karenina sich am Ende umbringt und in den Romanen D.H. Lawrences eine gehörige Prise Sex vorkommt? Oder schlicht: Was ist damit gewonnen, wenn die Gegenrede sich nur deshalb erübrigt, weil die (anstößige) Rede gar nicht mehr zugelassen ist?

In Echternach hat sich, trotz aller Proteste, die Meinungsfreiheit durchgesetzt (wobei nicht übersehen werden darf, dass gerade das Demonstrieren eine wesentliche Meinungsbekundung darstellt). In den USA, wo die political correctness ihren Ausgang nahm, sind die Zyniker unter ihren schärfsten Kritikern längst einen Schritt weiter. Dort, wo dem ersten Zusatzartikel der Verfassung (“Congress shall make no law… abridging the freedom of speech, or of the press…”) geradezu der Status eines göttlichen Gebots zukommt, nutzen die Repräsentanten der alt-right-Bewegung dieses scheinbar grenzenlose Recht inzwischen geschickt, um sich in einer grandiosen Volte zu Märtyrern der Meinungsfreiheit zu machen. Nehmen wir den Posterboy dieser Bewegung: Milo Yi-annopoulos. Der ehemalige Redakteur des alt-right-Zentralorgans Breitbart News, das inzwischen wieder von Stephen Bannon geleitet wird, provoziert ungemein gerne, etwa mit T-Shirts, darauf zu lesen steht: “Feminism is cancer”. Als bekannt wurde, dass er im Februar 2017 auf dem Campus der University of California in Berkeley auftreten sollte, kam es zu gewalttätigen Protesten, und die Veranstaltung wurde abgesagt. Die Strategie ist stets die gleiche: den Gegner mit gezielten Sticheleien aus der Reserve locken, bis dieser sich definitiv provoziert fühlt und entsprechend wütend reagiert. Wenn dann die geplante Veranstaltung (gerne aus Sicherheitsabwägungen) abgesagt wird, ist es ein Leichtes für den Provokateur, sich zum Zensuropfer zu stilisieren.

In dieser Situation, wie sie sich gegenwärtig mit ausgesuchter Regelmäßigkeit wiederholt, stecken die (linken) Verfechter der uneingeschränkten Meinungsfreiheit in einem Dilemma: Sie müssen sich mit den (rechten) Bösewichten, deren politische Überzeugungen sie auf keinen Fall teilen, gemein machen. So versammelten sich im August 2017 finstere Gesellen, darunter Anhänger des Ku-Klux-Klans, der alt-right und der Waffenlobby in Charlottesville, einer liberalen Kleinstadt in Virginia, um gegen die geplante Entfernung von Denkmälern der Südstaaten-Konföderation zu protestieren. Das Recht, diesen Fackelzug, der manche Beobachter an die Vorbilder aus Deutschland in den 1930er Jahren erinnerte, abhalten zu können, verdankten sie ausgerechnet der American Civil Liberties Union (ACLU). Diese hatte, ganz im Sinne der Verfechter einer absoluten Meinungsfreiheit, vor Gericht durchgesetzt, dass die rechten Gesellen am ursprünglich vorgesehenen Ort, dem Campus der Universität, aufmarschieren durften.

Weil Virginia ein open carry state ist, also ein Bundesstaat, in dem ein Bürger seine Waffen stets sichtbar mit sich führen kann, machten die Demonstranten von ihrem Recht ausgiebig Gebrauch. Wer ihnen unterstellte, sie hätten mit ihren Sturmgewehre herumgewirbelt, um die Gegendemonstranten einzuschüchtern, musste sich anhören, dies sei nicht Ausdruck des zweiten Zusatzartikels der US-Verfassung (der das Tragen von Waffen regelt), sondern ein „performativer Akt“ (wie es die Slate-Korrespondentin für Rechtsfragen Dahlia Lithwick formulierte) im Sinne der Meinungsfreiheit. Anders gesagt: Man drücke auf diese Weise lediglich seine Waffenbegeisterung aus!

Eine solche Argumentation ist selbst erstaunlich in einem Land, in dem man ungestraft den Holocaust leugnen und Nazi-Insignien (wie das Hakenkreuz) offen zur Schau stellen darf. Die ACLU machte einen Rückzieher nach den Ereignissen von Charlottesville: Künftig will sie ihre rechtliche Unterstützung Leuten verwehren, die bei ihrem Kampf für Meinungsfreiheit nicht vom Gebrauch von Waffen zurückschrecken. Ansonsten bleiben die Absolutisten bei ihrer Überzeugung: „The cure for bad speech is more speech, or better speech.“ Für sie, wie den Rechtsprofessor Geoffrey Stone von der University of Chicago, sind nicht save spaces und trigger warnings das Heilmittel, um in diesen konfrontativen Zeiten die Meinungsfreiheit zu bewahren, sondern es gelte eine altbewährte Strategie: sich lautstark und mit allem Nachdruck gegen Rassismus und Homophobie aussprechen.

Political correctness und Meinungsfreiheit vertragen sich naturgemäß nicht sehr gut. Aber man sollte nicht den Fehler begehen, dieses Spannungsverhältnis mit Zensur in Verbindung zu bringen, wie es Fernand Kartheiser in seiner Interpellation gemacht hat.

Ohnehin hat sich die Diskussion in Europa anders entwickelt als in den USA. Das hat historische und soziale Hintergründe: Während sich das Land unbegrenzter Möglichkeiten vor dem Hintergrund von Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten entwickelt hat, ist der Alte Kontinent geprägt von der Erfahrung des Faschismus und anderer Diktaturen. Insofern taugen die USA als Vorbild für die schwierige Aushandlung der Grenzen der Meinungsfreiheit nur bedingt.

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