Religionen & Menschenrechte

Eine schwierige Beziehung

Nicht immer gehen Religionen und Menschenrechte Hand in Hand. Oft scheinen sie sogar unvereinbar, gerade wenn man an Extrembeispiele wie evangelikale ‘gay conversion therapies’ in den Vereinigten Staaten, IS-Terrorismus, die Gewalttaten der Buddhisten in Sri Lanka oder Myanmar denkt. Es scheint fast, als ob religiös motivierte (Gewalt-)Taten im diametralen Gegensatz zu den in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegten Prinzipen stehen. In der Diskussion über die Schnittstellen zwischen Religion und Menschenrechten lassen sich solche Negativbeispiele kaum ausblenden.

Jedoch – und das hofft das vorliegende Dossier aufzeigen zu können – gibt es durchaus eine Berechtigung, die universellen Menschenrechte aus einer religiösen Perspektive zu betrachten. Nicht zuletzt deshalb, weil sich aus den unterschiedlichen Standpunkten innerhalb der verschiedenen religiösen Strömungen, die in diesem Dossier zusammenfinden, allgemeingültige Grundsätze ableiten lassen.

Diesen Eindruck konnte insbesondere eine Veranstaltung von ACAT (Action des Chrétiens pour l’Abolition de la Torture) im Mai dieses Jahres bestätigen, die Buddhisten, Christen verschiedener Konfessionen, Quäker, Muslime, Juden und Bahais zusammenbrachte, um gemeinsam über die theologischen, metaphysischen, philosophischen und anthropologischen Ursprünge der Menschenrechte zu reflektieren. Einige Teilnehmer sahen sogar Parallelen mit den interreligiösen Seminaren des Mogulherrschers Akbar I. im 16. Jahrhundert, bei denen die verschiedenen Religionsvertreter in gegenseitigem Respekt über philosophische Grundfragen diskutierten. Gerade beim Thema der Folter, das das Hauptanliegen der ACAT darstellt, schälten sich, trotz unterschiedlicher Ansätze, in den Vorträgen der einzelnen Religionsvertreter die gemeinsame Vorstellung einer Schutzwirkung der Religion für den menschlichen Geist und Körper gegenüber äußeren Machteingriffen heraus.

Das vorliegende Dossier vermag nur einen kleinen Einblick in einige, für den luxemburgischen Kontext relevante Auffassungen im Bezug auf das Verhältnis zwischen Religion und Menschenrechten zu geben.

So gibt es beispielsweise innerhalb des Judaismus eine ganze Bandbreite von Auffassungen über den Menschen, die liberale, reformistische, bis hin zu konservative und orthodoxe Strömungen umfasst. Daher kann man Religionen nie auf einen Aspekt reduziert betrachten, sondern sollte sie immer in ihrer umfassenden Vielfalt wahrnehmen. Es gibt synchronische und diachronische Differenzen innerhalb allen ‘Religionen’ und natürlich zwischen ihnen. Auch sollte man vorsichtig damit sein, Religionen auf die Menschrechte herunterzubrechen, um sie einem abstrakten Ideal gegenüber zu rechtfertigen.
Stattdessen sollte es vielleicht eher darum gehen, aufzuzeigen, wie sich einzelne Religionen in ihrer Partikularität mit dem Menschenrechtsdiskurs auseinandersetzen und welche ihrer Eigenheiten die Menschenrechte bestärken, herausfordern und bewahren können. Dieser Ansatz stellt die Möglichkeit eines interreligiösen Dialogs in Aussicht, der ideologische Überschneidungen erkennbar werden lässt, auf deren Grundlage sich gemeinsame Wertvorstellungen entwickeln können, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Religion und Rechte, historisch und transversal

Unser heutiges Verständnis der Menschenrechte basiert auf dem Verständnis des Rechts als solchem, wobei die Rechtsgeschichte kaum allein im Westen anzusiedeln ist. Im westlichen Selbstverständnis besteht die Auffassung des Naturrechts, also eines Rechts, das unabhängig von Zeit und Ort immer gegeben ist, da es der Natur zugeschrieben wird und ihr immanent ist. In der Auffassung der alten Griechen, so führt der jüdisch-amerikanische Philosoph Leo Strauss aus, ist die Natur eine ganze andere, als sie sich der moderne und postmoderne Mensch vorstellt. In dieser Naturauffassung sind die Götter Bestandteil der Natur. Sie sind nicht übernatürlich, da die Natur die Ganzheit der kosmischen Ordnung umfasst – Götter und Menschen inklusive. Bei Platon sind Mensch, Polis und Kosmos reflexiv aufeinander bezogen.

In der christlichen Theologie des Mittelalters, insbesondere des Spätmittelalters, findet zunehmend eine Reflektion über das Naturrecht statt und darüber, inwiefern der Mensch hiervon betroffen sei – Überlegungen, die schon bei Thomas von Aquin zu finden sind. Hier steht die Gleichheit der Menschen vor Gott im Verhältnis zur Gleichheit vor dem Gesetz. Das Naturrecht ist ein gottgegebenes.

Im 16. und 17. Jahrhundert findet man bei den Theologen Francesco Suarez und Hugo Grotius weitere Ansätze, die man durchaus als Vorläufer der modernen Menschenrechtslehre ansehen kann. Die Geschichte der Menschenrechte muss auch im Kontext der angelsächsischen Geistesgeschichte betrachtet werden. Laut der EPHE-Historikerin Valentine Zuber besteht eine direkte Verbindung zwischen der Magna Carta, dem Bill of Rights und dem aufklärerischen, protestantischen Denken John Lockes’, der das Naturrecht und die Individualrechte des Menschen als gottgegeben ansah. Die Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung steht in der Tradition dieses theologischen Aufklärungsgedankens. Zuber meint sogar, dass die Menschenrechtslehre eng mit dem aufkommenden religiösen Pluralismus dieser Epoche zusammenhängt. Es ist gerade die Vielfalt an Glaubensvorstellungen und Praktiken, die eine allgemeingültige Lehre notwendig machte, um, ganz im Sinne der ACAT-Veranstaltung, über die religiösen Differenzen hinwegzusehen.

Im Hinduismus, Jainismus und Buddhismus ist der Begriff des „Dharma“ zentral. „Dharma“ gehört einem weiten semantischen Feld an und kann soviel wie Recht, Sitte, Ordnung, Gesetz im gesellschaftlichen kosmischen und religiösen Sinn bedeuten. Bei den Ägyptern wird die Ordnung, „Ma’at“, ebenso zur Göttin erhoben. Auch im alten Schöpfungsmythos der Babylonier muss sich der Gott Marduk gegen das Chaos, Tiamat, durchsetzen. Erst durch diese ursprüngliche Konfrontation entsteht eine kosmische Ordnung, die auch die Grundlage einer rechtlichen Ordnung sein kann. Auch der luxemburgische Richter Pierre Pescatore (1919–2010) hat ausgeführt, inwiefern ein Naturrecht, das allgemeingültig sein soll, auf einer erkennbaren Seinsordnung fußen muss.
Damit erscheinen die Menschrechte als ein Versuch, Licht ins Dunkel, Ordnung ins Chaos zu bringen. In den Menschenrechten werden allgemeingültige, Zeit und Raum überschreitende Prinzipien festgelegt, beziehungsweise in der Natur ‘erkannt’, die uns ermöglichen sollen, Gutes vom Bösen, Richtiges von Falschem zu unterscheiden.

Beim Buddhismus stößt man auf ein faszinierendes Dilemma. Der Buddhismus, beziehungsweise die meisten Buddhismen (die Pudgalavādins wären hier eine Ausnahme), kennen kein festes, essentielles Selbst; keine Seele oder Persönlichkeit, die im Fluss der Zeit mit sich selbst identisch bliebe. Auch der Mensch ist, aus der ‘höheren’ Perspektive, genau wie das Ich oder die Seele nur eine Worthülse, um die unendlich komplexe Realität begrifflich zu machen und sie zu ordnen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es den Menschen, die Seele, das Ich, nicht gäbe. Vielmehr bedeutet es, dass unsere Wirklichkeit von der Sprache geschaffen wird. Demnach könnte man, auch wenn man Menschenrechte zum Beispiel als sozial konstruiert, erfunden oder historisch gewachsen versteht, deren Richtigkeit und Nützlichkeit trotzdem verteidigen, eben als sprachliche Werkzeuge, die es uns erlauben, ein besseres und gerechteres Leben zu führen.

Blick in die Sterne

Religionen werden oft als Systeme von Anschauungen begriffen, aus denen sich bestimmte Praktiken ableiten lassen, die auf ‘Transzendenz’ ausgelegt sind, also nach einer Dimension des Seins streben, die über der nur-menschlichen liegt. Der Mensch wäre somit in ein Ganzes eingefügt, das ihn nach oben und unten, links und rechts, transzendiert bzw. übersteigt. In den nicht-dualistischen Strömungen des ‘klassischen’ Hinduismus, wie etwa in der Metaphysik Śankarācāryas (etwa 8. Jhr.), wird das mit einer solchen Radikalität auf die Spitze getrieben, dass die Befreiung des Menschen nur durch eine Verkehrung ins Gegenteil erlangt werden kann – also durch die Erkenntnis, dass die conditio humana eigentlich nicht reell ist, und dass das wahre Selbst Zeit, Raum, Geist, Körper, Kultur und Individualität übersteigt.

In vielerlei Hinsicht sind die Bestrebungen gewisser Silicon-Valley Transhumanisten und Posthumanisten stark von solchem religiösen Vokabular durchsetzt. Man will die Erde verlassen, man will unsterblich werden, man will nicht mehr nur Mensch sein. Man will, um es mit Eric Voegelin zu sagen, den „Eschaton immanentisieren“ – also das, was in vielen Religionen erst in der Endzeit bzw. im Jenseits möglich ist, ins Hier und Jetzt überführen.

In einem Zeitalter der Digitalisierung, die den Menschen in eine allumgreifende ‘Hyperrealität’ einbettet und alles Erlebte nur noch zum Spektakel macht, gerät letztlich der Mensch selbst aus dem Fokus. Man ist nicht mehr seine Erfahrungen, sondern nur noch jene, die man auf den sozialen Medien postet. Man ist nicht mehr seine Fähigkeiten, sondern nur noch jene, die auf LinkedIn gut dastehen. Emotionen, Seelenzustände werden längst von Algorithmen ausgewertet, sodass man anderen Algorithmen noch dienlicher sein kann. Man wird selbst zum Produkt und man kann sich der kapitalistischen Logik auch in der Freizeit nicht mehr entziehen. Die geistige Gesundheit selbst wird neoliberalisiert, kommerzialisiert, kommodifiziert. Meditationspraktiken, „Mindfulness“, „Self-Care“ werden zu Produkten – und sind das Öl, das, neben den „traditionelleren Methoden“ wie dem Rauschzustand, die rostigen Getriebe in Gang halten soll.

Vielleicht kann man hier an das Projekt des Philosophen und Islamwissenschaftlers Henry Corbin (1903-1978) erinnern. Corbin, französischer Protestant, erforschte sein Leben lang die mystischen und gnostischen Systeme Irans, sowohl die zoroastrischen, manichäischen, mandäischen, aber vor allem die islamischen Strömungen innerhalb des persischen Sufismus und des schiitischen Islams. Eines seiner Werke trägt den Titel L’homme de lumière dans le soufisme iranien, in dem er nachzeichnet, welche kaleidoskopische Vielfalt der conditio humana als verkörperte seelische Substanz von Mystikern aus verschiedenen Jahrhundert zugeschrieben wird. In einem Zeitalter, in dem der Mensch auf seine Äußerlichkeit, seine ‘skills’ und ‘Erfahrungen’ reduziert wird, die er im geschlossen Sprachspielkreis der ‘freien’ Marktwirtschaft anbietet, lohnt es sich, zumindest einen Einblick in eine andere Welt zu erhaschen, in der der Mensch anthropologisch komplexer, vielschichtiger, vielleicht sogar ganzheitlicher ist.

Ich würde gerne mit einem Satz aus einem heiligen Text einer Bewegung abschließen, die man unter Umständen als ‘neu-religiös’ bezeichnen könnte. ‘Every man and every woman is a star’, heißt es in Aleister Crowleys (1875-1947) Buch des Gesetzes. Jeder Mensch ist in Crowleys Vorstellung mit einem individuellen Willen ausgestattet, der dem kosmischen Willen entstammt. Und jeder Mensch darf seinen Willen (‚true will‘) ausführen und nach diesem leben, solange dieser nicht den ‚wahren Willen‘ der Mitmenschen einengt. Es ist wahrscheinlich dieses Prinzip, das den Kern der Menschenrechte ausmacht.

Am 10. Dezember 2018 wurde der 70. Geburtstag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefeiert. In einem Zeitalter, in dem die dort verkündeten Prinzipien immer gefährdeter erscheinen, ist es wichtig, sich umso stärker für sie einzusetzen, unabhängig von Weltanschauung und Praxis.
Les droits humains, valeurs universelles
Pour vivre ensemble, unis dans notre riche diversité
A l’occasion du 70e anniversaire de la Déclaration universelle des droits de l’Homme, les représentants des Communautés religieuses présentes au Luxembourg, convaincus du caractère sacré de la personne humaine, ont adopté la déclaration suivante :

Considérant que le respect de la dignité humaine constitue le fondement de la liberté, de la justice et de la paix dans le monde,
reconnaissant que l’interdépendance entre les États et entre les régions du monde s’est fortement accrue et que la solidarité est d’autant plus nécessaire,
saluant les efforts accomplis depuis 70 ans pour consolider le dispositif de protection des droitshumains aux niveaux national, régional et international,
constatant que, malgré tous ces efforts, de nombreux États continuent à bafouer les droits
humains, parfois avec l’approbation d’une grande partie de leurs populations, et ignorent les normes en vigueur,
constatant que, malgré tous les engagements formels pris au cours de ces 70 ans, des hommes, des femmes et des enfants continuent d’être déplacés, maltraités, persécutés ou exécutés, souvent dans le contexte de conflits armés, et que l’égalité des hommes et des femmes ainsi que l’intégrité physique des enfants ne sont toujours pas pleinement respectées,
déplorant que des tensions et conflits religieux soient souvent une des causes de guerres,
constatant que le caractère injuste de l’ordre économique international actuel et les inégalités
grandissantesfont obstacle à la mise en œuvre des droits humains et des libertés fondamentales,
soulignant la nécessité urgente d’une mobilisation de toutes les familles spirituelles, religieuses et philosophiques en faveur de la dignité humaine,

Nous, les signataires des Communautés religieuses présentes :

nous engageons à rester vigilants pour défendre les valeurs énoncées dans la Déclaration
universelle des droits de l’Homme et dénoncer toute atteinte à ces droits;
nous engageons à promouvoir, au sein de nos Communautés respectives, une culture des droits
humains et une éducation aux valeurs qui sous-tendent ces droits;
invitons chacun et chacune, quelles que soient ses convictions, à défendre ces mêmes valeurs dans la vie quotidienne ;
nous engageons à promouvoir la coopération entre toutes les organisations, tant
confessionnelles que laïques, qui œuvrent pour la défense des droits humains au Luxembourg et dans le monde, afin que leurs actions concertées favorisent une société accueillante et inclusive ;
encourageons les croyants de toutes confessions à mettre le souci de la construction d’un
monde de liberté, de solidarité et de justice au cœur de leur prière et de leur action.

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