Nichts bereitet den Luxemburger Historikern des 21. Jahrhunderts so viel Freude wie das Dekonstruieren. Tradierte Vorstellungen und sicher geglaubte Öberlieferungen werden abgeklopft, in ihre Bestandteile zerlegt und als von ihrer Zeit geprägte Interpretationen entlarvt. Die nationale Meistererzählung des 20. Jahrhunderts geistert nur noch in (unbenutzten) Schulbüchern herum.

Nachdem die Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts sich soviel Mühe gegeben haben, Luxemburg als werdende Nation darzustellen, bedurfte es nur eines Jahrzehnts, bis diese Festung geschleift war. Mit dem Artuso-Bericht Anfang dieses Jahres wurde nun auch der letzte Pfeiler dieser Meistererzählung, die kollektive Unschuld während der Besatzungsjahre, offiziell eingerissen. Die schöne Geschichte vom rückständigen Kleinstaat, der sich aus seiner hoffnungslosen Lage tapfer befreite und zum europäischen Erfolgsmodell avancierte, ist zum Mythos erklärt worden.

Wie konnte es dazu kommen? Die Antwort liegt irgendwo zwischen Lady Rosa und dem Artuso-Bericht. Dazwischen liegt ein Zeitenwechsel. Das postmoderne Kunstwerk, eine schwangere Kopie der Gëlle Fra, sorgte mit seiner Errichtung im Jahre 2001 noch für eine heftige Kontroverse. Old Luxembourg, d.h. die Kriegsgeneration um Vertreter der Résistance, der Zwangsrekrutierten, der UGDA und der ‚Aktioun Lëtzebuergesch‘, welche die Diskurse des Landes über 50 Jahre bestimmt hatte, betrachtete die Gëlle Fra Bis als respektlosen Affront gegenüber dem Selbstverständnis der Nation und als einen Angriff auf ihre Deutungshoheit. Zwei Jahre später wurde die Universität Luxemburg gegründet, und mit ihr wurde die überkommene Interpretation der Nationalgeschichte einer grundsätzlichen Kritik unterzogen. Lieu de mémoire I und II, Inventing Luxembourg, die Ausstellung Identitäten in Luxemburg und schließlich La collaboration au Luxembourg durant la Seconde Guerre mondiale sowie der Artuso-Bericht — nach und nach wurde das bestehende Fundament der alten Eliten abgetragen, bis nichts mehr davon übrig war.

Heute gibt es keinen Widerspruch mehr, die biologischen Tatsachen haben das ihre dazu beigetragen. Die Universität und ihre Methode der kritischen Analyse — jetzt auch auf die jüngere Geschichte des Landes angewandt — hat sich durchgesetzt. Sie dominiert den Diskurs und findet sich plötzlich in einer quasi staatstragenden Rolle wieder. Der junge Premierminister übernimmt die Thesen der Historikerkommission, die Chamber wird darüber debattieren. Sämtliche Medien feiern den Artuso-Bericht als großen Wurf, einige sehen darin den letzten großen Tabubruch, und vertuschen ihr eigenes Versäumnis, frühere Studien zum selben Thema nicht zur Kenntnis genommen zu haben.

Ob dieser Erfolg wiederholt werden kann, ist keineswegs gesichert. Der Fonds national de la Recherche fährt seine Unterstützung für geisteswissenschaftliche Forschung eindeutig zurück. Der Artuso-Bericht wäre z.B. nicht als FNR-Projekt genehmigt worden. Die Uni-Leitung hat ein Projekt zum Tabuthema „Ursprünge des Bankenplatzes“ mit formalen Argumenten abgelehnt. Ein Archivgesetz, das Verwaltungen zur Abgabe ihrer Aktenbestände verpflichten würde, und ein Denkmalschutzgesetz, das sachliche Kriterien über politische Opportunitäten stellen würde, sind seit über einem Jahrzehnt in der Mache, aber längst noch nicht in Kraft. Und die Regierung ist offenbar nur an Zeitgeschichte interessiert, obschon zur Geschichte des Luxemburger Raumes auch viele unaufgearbeitete Felder der älteren Geschichte gehören.

Diese durch die Gründung einer Universität verstärkte Prozess der allgemeinen Verunsicherung ist schmerzhaft. Die Sprachpuristen, danach die Lehrergewerkschaften mussten schon vor etlichen Jahren erfahren, was es heißt sich mit Wissenschaft an Stelle von Mythen auseinanderzusetzen. Die kollektiven Selbstzweifel wurden verschärft durch die Skandale der Jahre 2009 bis 2013, den unrühmlichen Abgang des Jean-Claude Juncker, schließlich Luxleaks.

Nun wird dem Land von den Historikern ein Teil seines Selbstbildes entzogen. Höchste Zeit für konstruktive Vorschläge. Aber statt eine tiefgreifende, offene Diskussion über eine neue Verfassung zu führen, werden die Bürger aufgefordert Vorschläge für das Nation Branding zu liefern. Gewünscht ist nicht mehr die Verklärung des „Mythos“ Nation, sondern die Aufzählung unserer derzeitigen Verkaufsargumente auf dem globalen Markt. Doch der Bruch im historischen Selbstverständnis birgt auch ernsthafte Chancen: Eine Verfassungsreform mit Ausweitung des Wahlrechts wäre in Old Luxembourg nicht möglich gewesen.
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