Routwäissgro – Spuren der Herstellung

Überlegungen zum Verhältnis von Dokumentarfilm und Wirklichkeit

Anthologieserien sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts, obwohl aufgrund der starken Präsenz in den letzten Jahren ein solcher Eindruck entstehen könnte: Nachdem American Horror Story 2011 den Anfang machte, folgten zahlreiche weitere wie Black Mirror (2011- ) oder Easy (2016- ). Diesen Serien ist jeweils ein übergeordnetes Thema gemeinsam, wobei in jeder Folge eine spezifische Geschichte mit je anderen Figuren erzählt wird. Nachdem luxemburgische FilmemacherInnen in den letzten Jahren bereits erste Schritte in die Serienproduktion gewagt hatten, startete 2015 mit Routwäissgro nun eine dokumentarische Anthologieserie. Jede Folge ist ein für sich stehender 26-minütiger Kurzfilm, dessen ProtagonistInnen den Kriterien entsprechen müssen, in einem Zusammenhang mit Luxemburg zu stehen und nicht berühmt zu sein.

Jede Episode begleitet Menschen in ihrem gelebten Alltag, so die knappe Beschreibung zur Serie auf rtl.lu. Durch diese Begriffswahl wird nicht nur behauptet, dass das Dargestellte tatsächlich so gelebt wird bzw. wurde. Es bedeutet auch, dass es sich eher um gewöhnliche Alltagsmomente als um besondere Ereignisse handelt. Das Wort ‚begleitet‘ suggeriert zudem, dass es hier nicht um eine künstliche Inszenierung geht, sondern, dass etwas objektiv Gegebenes eingefangen wurde. Die innerhalb dieses Projekts vertretene Grundhaltung scheint also darin zu bestehen, dass die DokumentaristInnen nicht in das zu filmende Geschehen eingreifen dürfen, indem beispielweise eine Situation für die Kamera nachgestellt wird. Nach dieser Sichtweise gestalten einzig die abgebildeten Menschen das dokumentarisch Gezeigte, während das Filmteam nur beobachtet und dokumentiert. Ebendiese Behauptung eines direkten Referenzverhältnisses zur vormedialen Wirklichkeit deutet bereits auf den wesentlichen Unterschied zwischen Spiel- und Dokumentarfilm hin: Während es ersteren nur als diesen Film gibt, behauptet die dokumentarische Wiedergabe, dass das Abgebildete auch unabhängig vom Film existiert. In diesem Sinne betont der Filmwissenschaftler Wilhelm Roth, ein Dokumentarfilm sei ein Film, der „Ereignisse abbildet, die auch ohne die Anwesenheit der Kamera stattgefunden hätten, in dem reale Personen in ihrem Alltag auftreten – ein Film also, der sich an das Gefundene hält“.1 Durch das Ausklammern der Gestaltungsdimension – wie es beispielsweise ein Begriff wie ‚inszenieren‘ impliziert hätte –, kann so die Illusion einer realistischen Abbildung geschaffen werden.

Inszenierung des Alltags

Dadurch, dass der Begriff ‚Alltag‘ so weit gefasst ist, wurde den FilmemacherInnen viel Freiraum gelassen. Die Kurzfilme zeigen die ProtagonistInnen bei der Arbeit, einem Hobby oder Engagement oder bei gewissen Tätigkeiten wie essen, schlafen oder Unterhaltungen. Der Reiz der Zurschaustellung solcher Praxen erklärt sich durch die Kombination aus Fremdem und Bekanntem: In jeder Folge kann sich das Publikum in irgendeiner Weise wiedererkennen, sieht jedoch auch immer wieder unvertraute Alltagshandlungen. Auf den offensichtlichsten Eingriff ins Geschehen wurde in der Tat verzichtet: So gibt es weder Voice-over noch Interviews. Von einer unbeeinflussten Sichtbarmachung kann aber schon allein deshalb nicht die Rede sein, weil die FilmemacherInnen das Material durch den Einsatz gestalterischer Mittel wie Kameraposition, Einstellungsgröße oder Montage auf eine bestimmte Weise organisieren und inszenieren. In dem Sinne sehen wir nur das, was uns die KünstlerInnen zu sehen geben. Doch natürlich beeinflussen auch die dargestellten Menschen das Narrativ durch die Art, wie sie sich präsentieren. Was sie sagen, wohin sie blicken, ihre Körperhaltung – das alles unterliegt zu großen Teilen ihrer eigenen Kontrolle. Im Folgenden möchte ich demnach an einigen Beispielen zeigen, dass innerhalb mancher Folgen weniger Realismus, wie es der Beschreibungstext suggeriert, als vielmehr Objektivität angestrebt wurde. Während Ersteres sich Sandra Schillemans2 zufolge auf die ungestörte Abfolge realer Begebenheiten konzentriert, kann bei einer objektiven Darstellung eine Hervorhebung der ‚Spuren‘ der Herstellung erfolgen.
In der Folge No der Schoul fallen diesbezüglich gleich mehrere Besonderheiten auf. Dies ist z.B. der Fall in Momenten, in welchen die Kamera nicht in dem Raum positioniert ist, in dem sich die gefilmten Personen aufhalten. So auch in einer Szene, in der der 16-jährige Lukas mit seiner Mutter abends am Esstisch sitzt. Die Kamera ist außerhalb des Hauses positioniert und filmt durch ein Fenster in die Küche hinein, in welcher die Personen essen. Der Ausschnitt ist fast gänzlich von der Hausfassade gefüllt, sodass Lukas und seine Mutter klein im Bildzentrum erscheinen. An der Qualität des Tons wird deutlich, dass sich mindestens ein Mikrophon innerhalb des Raums befindet, sodass eine stärkere akustische als visuelle Nähe zu den sich unterhaltenden Menschen hergestellt wird. Eine solche, dem fotographischen Bild zusätzliche Bedeutungsebene verleihende Strategie, lässt die Präsenz des Regisseurs Michel Tereba deutlich spürbar werden. Der Dokumentarist erweist sich hier als Erzähler.

Eine weitere ästhetische Strategie kann in einer späteren Szene festgestellt werden. Lukas und seine Mutter sitzen nun zusammen mit zwei anderen Personen am Esstisch. Innerhalb der Szene, in welcher es zu einer Abstimmung kommt, wird von einer Mehrpersonen- in eine Einpersonen-
einstellung der Mutter gewechselt. Anhand der Montage soll die isolierte Position der Mutter, die zuvor in der Abstimmung den Kürzeren gezogen hatte, und ihre Reaktion visualisiert werden. Während in einem Spielfilm ein solcher Reaction Shot nichts Unübliches darstellt, ist er in einem Dokumentarfilm sehr viel eher als aufmerksamkeitslenkender Eingriff wahrnehmbar. Ein solcher Effekt ergibt sich schon alleine deshalb, weil wir anhand der Bilderabfolge nicht wissen können, ob es sich bei dieser Einstellung tatsächlich um ihre Reaktion auf die Abstimmung handelt oder ob die Montage einen solchen Zusammenhang lediglich nahelegt.

Sünde der Sprachlosigkeit

Selbstthematisierungen dieser Art erfolgen aber nicht nur mittels Kameraposition und Montage, sondern auch durch die Materialauswahl. Neben den Momenten der verbalen Selbstdarstellung stechen besonders solche der Stille und Introspektion heraus. In den Künsten, so Thorsten Lorenz, gelte dies als ‚Sünde der Sprachlosigkeit‘, als Moment vor der Erkenntnis.3 Dabei handelt es sich keineswegs um bloße Leerstellen. Zunächst wäre es in Bezug auf die Figuren verfehlt, zu glauben, dass in Momenten des Schweigens die Selbstdarstellung aufhört. Wie der amerikanische Soziologe Ervin Goffman beschrieben hat, stellt der Mensch sich, bewusst oder unbewusst, selbst dann dar, wenn er alleine ist und sich unbeobachtet fühlt.4 Wir alle spielen in jedem Augenblick Theater und vermitteln (Fehl-)Informationen über uns. Einem Menschen beim Nachdenken zuzuschauen, liefert zwar keine Informationen in dem Sinne, dass wir etwas über seine Fähigkeiten und Interessen erfahren, Kommunikation findet aber dennoch statt.

Solche Bilder haben zudem einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Filmnarration. Im Sinne David Bordwells wirken diese Momente als ästhetische Überschüsse, da zwar keine mimetische, dafür aber eine erzählende Narration stattfindet: Es wird etwas vermittelt, das nicht zeigbar oder hörbar ist.5 Die Gedanken sind nicht sichtbar und doch erzählen die Bilder, dass hier ein Mensch nachdenkt. Die Gedankeninhalte lassen sich zwar in der Tat nicht visualisieren, dafür aber die Mimik und Gestik. Auch die Räume sind von Bedeutung für die Wirkung solcher Szenen und sollten in ihrer Erzählfunktion nicht unterschätzt werden: In welchen Situationen verfallen die Figuren in nachdenkliches Schweigen? Zum Beispiel wenn der drogenabhängige Protagonist in Wantermäerchen abends alleine im Bus sitzt und gedankenverloren aus dem Fenster schaut, während er sich am Bart kratzt. Ein banaler Moment, und doch wurde er aus einer Fülle an Material ausgewählt, um das Porträt dieses Menschen zu ergänzen. Ebenso verhält es sich mit der Szene der Folge D’Liewen ass schéin, in welcher Cécile im Anschluss an eine Zoomfahrt in einer abschließenden Naheinstellung inmitten eines überfüllten Raumes gezeigt wird. Im Vergleich zum Rest der Folge sticht der Augenblick, in dem die Präsidentin vom „Fanclub Roude Léiw“ plötzlich schweigend innehält, besonders hervor. Diese Einstellung, in meinen Augen die ausdrucksstärkste der Folge, geht der Erkenntnis nicht voraus, sie beinhaltet sie. Plötzlich sind wir so nah an diesem Menschen dran, dass wir uns vorstellen können, in seiner Haut zu stecken. Im Alltag begegnen wir ständig schweigenden Menschen; wir sehen sie und schauen wieder weg – Starren ist unhöflich. Die Folgen in Routwäissgro wollen das Gegenteil erreichen: Wir sollen hinschauen.

Aktivierung des Publikums

Woher kommt diese Ansicht, dass nur beim Handeln und Sprechen etwas passiert? Wieso gilt gerade das Denken als unzeigbar? So zahlreich sind doch die Eindrücke, die uns Filmbilder in jeder Sekunde vermitteln, dass es überhaupt nicht möglich ist, sie als ZuschauerIn alle wahrzunehmen. In Anbetracht dieser Fülle an audiovisuellen Informationen dürfte eigentlich überhaupt nichts gezeigt werden. Wir erleben einerseits nur ein winziges Fragment und andererseits wird alles sogleich interpretiert; das Gesehene wird immer gemäß vorheriger (Seh-)erfahrungen und Erwartungshaltungen wahrgenommen. In diesen Momenten der Stille wird unsere Aufmerksamkeit auf die ‚Spuren der Herstellung‘ gelenkt, also darauf, dass sie nicht vorgeben, eine faktische Realität zu sein oder etwas Bestimmtes zu sagen oder zu zeigen. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Momente weder etwas bezeichnen, noch ausdrücklich nicht bezeichnen. Hier wird dem Publikum nicht vorgegaukelt, dass es sich beim Serienschauen lediglich zurückzulehnen und berieseln lassen muss. Ganz im Gegenteil: Eine aktive Denkleistung wird verlangt. Was geht wohl gerade in diesem Menschen vor? Was will mir der_die RegisseurIn mit dieser Kameraeinstellung sagen? Welchen Stellenwert hat diese Szene innerhalb des Films? So bleibt es dem Publikum überlassen, bestehende Lücken zu füllen, es wird zur Teilnahme gezwungen. Es erlebt in diesem Moment nicht nur diesen Menschen, sondern auch den eigenen Akt des Wahrnehmens und Interpretierens. Hier wird uns erst bewusst: Wir betrachten gerade einen Menschen, wir sehen ihn in einem ganz intimen Moment.

Die Serie Routwäissgro ist nicht nur beobachtete Realität – sie ist so viel mehr: Jede Folge ist nicht lediglich das Porträt eines Menschen, sondern auch der Blick der jeweiligen FilmemacherInnen sowie die Bedeutung, die die ZuschauerInnen an das Gesehene herantragen. Auch wenn ein Dokumentarfilm per Definition keinen gelebten Alltag vermitteln kann, sondern lediglich eine künstlerische Herstellung davon, wurde die Serie demgemäß gestaltet, dass sich der Zuschauer in die dokumentarische Darstellung versenken kann, gelegentlich aber daran erinnert wird, dass es sich dabei um gefilterte Realität handelt.

 

1 Wilhelm Roth, Der Dokumentarfilm seit 1960. München-Luzern: Bucher. 1982: S.185.
2 Sandra Schillemans, „Die Vernachlässigung des Dokumentarischen in der neueren Filmtheorie“ . In: Hattendaorf, Manfred (Hg.): Perspektiven des Dokumentarfilms. Diskurs Film. Münchner Beiträge zur Film- philologie. München: Diskurs-Film. 1995. S.17.
3 Thorsten Lorenz, „Pausen, Wiederholungen, Des-Informationen. Die mediale Inszenierung des Nichts“ In: Niklas, Annemarie: Nichts. Tun. Interdiszip- linäre Beiträge zur aktuellen Bildungsdiskussion. Würzburg: Königshausen & Neumann. 2010.
4 Erwin Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbst- darstellung im Alltag. Übersetzung Peter Weber-Schä- fer. München: Piper Verlag. 1998 [1959 engl. Orig.]:
5 David Bordwell, Narration in the Fiction Film. London. 1985.

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