- Gesellschaft, Politik
„…“ sagte sie. – „…“ sagte ich.
Über die Schwierigkeit und die Notwendigkeit, mit Kindern über den Tod zu sprechen
Spricht man mit Kindern über den Tod? Wie spricht man mit Kindern über den Tod? Wann und warum sollte man mit Kindern über den Tod sprechen? Wo spricht man mit Kindern über den Tod?
Spätestens nach dem 13.11.2015 ist der Tod auch in den Klassensälen angekommen. Paris hat neben vielen anderen Dingen auch gezeigt, dass wir in unserer sicher geglaubten Welt alles andere als in Sicherheit sind. Das Leben ist ein prekärer Zustand, es kann genügen, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein, um diesen Zustand nachhaltig zu beenden.
Der Tod ist nichts außergewöhnliches, auch wenn er jeden von uns nur ein einziges Mal heimsucht, doch wir alle erleben fast täglich, wie andere Menschen von ihm eingeholt werden.Dabei ist der durch Gewalt verursachte Tod in unseren Ländern eher die Ausnahme – vielleicht einmal abgesehen von Verkehrsunfällen und Suiziden – in der Regel ist es das Alter oder sind es Krankheiten, die dem Leben ein Ende setzen. Jeder Mensch ist ein einmaliges, einzigartiges Wesen und sein Verschwinden löst somit in uns Gefühle wie Trauer, Verlust, Wut, Sehnsucht, vielleicht sogar Angst oder Hass aus. Die meisten Erwachsenen sind kaum in der Lage, mit diesen Gefühlen umzugehen, sie zuzulassen, zu akzeptieren, mit ihnen fertig zu werden. Wie sollte dies dann Kindern gelingen?
Kinder sind per Definition keine Erwachsenen, ihre Fähigkeiten sind noch nicht entwickelt, sie wachsen in allen Hinsichten, sind noch nicht „reif“ und brauchen demnach… unsere Hilfe, die Hilfe der Erwachsenen. Die Frage, die sich an diesem Punkt stellt, ist die folgende: Kann ein Erwachsener, der selbst kaum in der Lage ist, mit der schwierigen Situation, in die der Tod eines nahen Bekannten/Verwandten ihn gebracht hat, einem Kind helfen? Versteht er das Kind? Die Trauer bei Kindern ist eine ganz andere als die Trauer bei Erwachsenen: Kinder sind sprunghaft, können selbst in dem tiefsten Leid auch einmal ausgelassen umher tollen …
Und ist dieses „Können“ ein „Können“ im Sinne eines „Wissens“: Weiß er, der Erwachsene, wie er helfen kann? Oder bezieht sich das „Können“ auf die Fähigkeit, im Bewusstsein des eigenen Schmerzes die Kraft zu haben, dem Kind zu helfen? Auch kann man sich in Anbetracht der Verantwortung, die man für das Kind trägt, fragen, ob „Können“ ausreicht, ob nicht eher „Müssen“ das treffendere Verb ist. Muss der Erwachsene aus seiner überlegenen Position heraus nicht schon a priori dem Kind helfen, im Sinne einer moralischen Erziehungsverpflichtung?
Allzu schnell fühlen wir uns alle dabei überfordert, sind uns bewusst, dass wir „müssten“, fühlen aber irgendwie, dass wir nicht „können“ und … schweigen. Der Tod als stiller Meister, sozusagen. Er verschlägt uns die Sprache. „Ich wollte es nicht noch schlimmer machen!“, hört man, „Ich hab gewartet, bis das Kind von selbst kommt!“, „Ich fand die Worte einfach nicht!“, „Irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt da.“ Der Erwachsene lässt das Kind nicht selten allein mit sich und seinen Ängsten, macht sich deswegen Vorwürfe und setzt sich unter Druck.
Wie so oft bleibt die Hoffnung, dass andere das tun, was wir nicht wollen, jedoch müssen, aber nicht können. Hier kommt die Schule ins Spiel; Kinder suchen diesen Ort auf, um etwas zu lernen und – seit einiger Zeit auch – um erzogen zu werden. Da scheint es doch mehr als logisch, dass in der Schule dieses unbequeme Thema abgehandelt wird, ja, dass es vielleicht schon präventiv behandelt wird. Das Ministerium, die Nöte und Bedürfnisse der
Gesellschaft immer im Blick, stellt dann auch „Unterrichtsmaterial“ zum Thema zur Verfügung. Mit Themen, Texten und Tests wird dem „Lerngegenstand“ auf gewohnt frontale Art und Weise entgegengetreten und dies gleich in mehreren Fächern: nämlich Deutsch, „Religion“, „Morale“ und Französisch. Ja doch, Sie haben richtig gelesen, Französisch: Für den C4.1, das frühere 5. Schuljahr, gibt es einen Text, der die Kinder regelmäßig und zuverlässig wütend und traurig macht und demnach ein sehr guter Text ist! Er hat die Abschlachtung von Delfinen durch japanische Fischer zum Inhalt. Auch im neuen Fach „Leben und Gesellschaft“ / „Vie et société“ taucht der Sensenmann unter der Rubrik „Große Fragen“ zumindest zweimal auf: einmal im C3 und einmal in der 11. Klasse.
Und wem dies immer noch nicht reicht, der sei auf das erzieherische Potential der „Maisons relais“ verwiesen, in denen viele Kinder große Teile ihrer Kindheit verbringen und hier viele/alle möglichen Sozialisationserfahrungen
machen. Regelrechte Programme wie in der Schule gibt es nicht, doch sind die Erzieher und Erzieherinnen „geschult“, um das Thema aufzugreifen, wenn sie es sich denn „zutrauen“, und wenn „der richtige Zeitpunkt gekommen ist“, also wenn „auch das Kind bereit ist“… Man höre und staune: Oftmals scheitert das vertrauliche Gespräch zwischen Erzieher/Erzieherin und Kind ganz einfach an den fehlenden Räumlichkeiten. Es gibt in den überfüllten Einrichtungen einfach keinen Platz für dieses so wichtige Miteinander, für diesen so wichtigen Austausch, oder anders formuliert, für etwas Menschlichkeit im immer wissenschaftlicher evaluierten und qualitätsgemanagten Umfeld der „Maisons relais“. Und dann wird es eng. Wer könnte es sonst noch tun? Wer bleibt jetzt noch übrig?
Omega 90 hebt bereitwillig die Hand: „Gebt uns den schwarzen Peter! Wir sind dazu in der Lage und das ist unser Job!“. „Omega mécht Schoul“ heißt das „innovative Projekt“ und „kann ab jetzt von den Grundschulen gebucht werden“1. Irgendwie typisch für unsere Gesellschaft, denke ich, als ich in der digitalen Fassung der November-2015-Nummer des Courrier de l‘Éducation nationale2 „herum scrolle“, wenn Eltern, Schule und „Maison Relais“
scheitern, dann schlägt die Stunde der Spezialisten. Kann dies somit als eine andere Form des Outsourcing, die in Richtung „Privatisierung“ der öffentlichen Schulen zielt, gesehen werden?
Stopp! Nein! Solches Denken sollte man sich im Zusammenhang mit Tod und Teufel strengstens verbieten, gibt es doch kaum eine demokratischere Instanz. Begrüßen wir also die Initiative von Omega 90 nach dem Motto: „Einer muss es ja tun!“ Weisen auf der anderen Seite aber auch darauf hin, dass der „Ansprechpartner für das Kind in immer weitere Ferne gerückt wird.“ Im Beisein der Lehrer erhalten die Kinder in einem geschützten Rahmen die Möglichkeit, sich intensiv und auf kreative Art und Weise mit den Themen Werden und Vergehen, Krankheit und Leid, Sterben und Tod, Trauer und Trost auseinanderzusetzen. Die Mitarbeiter von Omega 90 sind aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung in der Lage, diese schwierigen Themen kindgerecht, ehrlich und offen zu begleiten.3 Hier sind alle Kinder der Klasse betroffen, nicht nur das betroffene …
Bleibt also noch die „neue Nummer gegen Kummer“4; das „Kanner- a Jugendtelefon“5, welches eine gewisse Intimität bietet und im Notfall Leben retten, das eigentliche Problem aber nicht lösen kann. Auch die „A.s.b.l. Trauerwee“ bietet den Eltern und vor allem den Kindern Begleitung und Betreuung an.
Denn das eigentliche Problem ist die Beziehung. Über Trauer, Schmerz, Wut und Angst kann man eigentlich nur in einer Atmosphäre des Vertrauens und der Empathie kommunizieren. Mit Kindern ist eine solche Beziehung möglich, wenn sie authentisch ist, wenn also auf alle theatralischen Aspekte verzichtet wird und niemand eine spezifische Rolle spielt: Die Eltern sind einfach Menschen und drücken das aus, was sie zu dem Zeitpunkt fühlen, die Lehrer und Lehrerinnen steigen aus ihrer Lehrerrolle heraus, werden somit verletzlicher und auch angreifbarer, genau wie Erzieher und Erzieherinnen.
Und Zeit braucht man, wer sie nicht hat, muss sie sich nehmen. Stundenplan und Programme, Kompetenzen und Wochenplan sind das eine. Gespräche ohne Zeitlimit, die auch am folgenden Tag noch einmal aufgegriffen werden können, sind das andere. Wer glaubt, dafür gäbe es im Klassensaal oder zu Hause keine Zeit, der sollte lieber weiter beim Schweigen, Vertagen und Ausweichen bleiben und die Kinder schnell damit abfertigen, dass
„die kleine Schwester Dakota, die letzte Woche von dem bösen, bösen Motorrad überfahren wurde, jetzt Flügel hat und irgendwo über den Wolken herumflattert, wenn diese wieder lila sind und dort, ja bestimmt, bestimmt (!) auf dich, ihre große, starke Schwester Cheyenne wartet, bis du zu ihr kommst und ihr wieder zusammen spielen könnt!“. Denn das hört sich schön, lieb, süß und niedlich an und ist es auch, bis die große und gar nicht so starke Cheyenne es einfach nicht mehr länger aushält und entscheidet, ihrer kleinen Schwester genau dorthin zu folgen.
Klar ist es wichtig und richtig, dass in der Schule, im Klassenverband das Thema Tod behandelt wird. Genauso wichtig ist dies in der „Maison relais“. Auch können Projekte wie „Kanner- a Jugendtelefon“ an „Omega mécht Schoul“ bei dieser Thematisierung helfen bzw. Rettungsring in Notfällen sein. Doch schwierig bleibt es, wollten wir allein mit ihnen zum Kern des Problems vordringen: Wie können, sollen, müssen wir heute, in der Gesellschaft, in der wir leben, mit dem Tod umgehen? Der Spruch „Früher war alles besser“ nützt hier wenig: Es ist nicht mehr früher und ob alles besser war, sei einmal dahingestellt. Fakt ist, dass den Kindern immer mehr „Bezugspersonen“ zur Seite gestellt werden und dass allein schon diese Tatsache die Situation sehr komplex macht. Wie sollen sich all diese Bezugspersonen mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen und Erfahrungen absprechen, wenn den meisten die Sprache für eben dieses Problem fehlt?
Auch ist es für Außenstehende ein Unterschied, ob die Oma eines Schülers oder einer Schülerin in hohem Alter, die Mutter nach langer Krankheit, der Freund durch einen Verkehrsunfall sterben oder ob die Schwester Suizid begeht. Wie reagiert das Kind, wieweit sind wir selbst betroffen, wie nah stand das Kind dem Toten, gibt es vielleicht Schuldgefühle oder Todesängste auch bei ihm? Dies sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie unterschiedlich die Situationen sein können und dass es deshalb auch so schwierig ist, den passenden, anschlussfähigen Zugang zu finden.
„Der Tod gehört zum Leben und das Leben geht weiter“ ist ein „Statement“ das man immer wieder hört. Falsch ist es nicht; es entspricht den Tatsachen, allerdings stellt sich die Frage, wie das Leben nach einem Todesfall im nahen Umfeld weitergeht. „Sie wollte nicht darüber sprechen, also haben wir nichts gesagt.“ Auch diese Aussage hört man immer wieder und auch sie ist nicht falsch; wer will schon gerne über den Tod sprechen. Genauso wie Kinder nicht gerne darüber sprechen wollen, wenn sie etwas ausgeheckt oder in der Schule eine schlechte Note bekommen haben.
Wie so oft im Leben ist „nicht darüber zu sprechen“ ein Teil des Problems. Nicht nur der Tod trifft uns, auch das Schweigen danach bedrückt uns, und die unausgesprochenen Gefühle und Ängste bahnen sich ihren Weg immer in irgend einer, nicht immer gewünschten Form zur Oberfläche. Reden ist also unabdingbar. Es sollte in einer ehrlichen, offenen, authentischen Art und Weise, die nichts verheimlicht und nichts verschweigt, die nichts verschleiert oder verschönt, nichts verniedlicht oder verkitscht, praktiziert werden. Dass dies nicht einfach ist, leuchtet ein, sollte aber nicht als Ausrede gelten. Schließlich haben wir die Pest besiegt, das Iphone 7 erfunden und sind zum Mond geflogen.
1 http://www.omega90.lu/?com=0I73I0I0I.
2 A11; S. 11 f.
3 Ebd.
4 http://www.lessentiel.lu/de/news/luxemburg/
story/19851867.
5 Tel.: 116 111.
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