„Schmidt, sagte Schmidt in den Hörer. Dabei war es nicht seine Art, sich mit dem Namen zu melden. Schon gar nicht um diese Zeit. Aber vielleicht war es gerade diese Zeit und sein Zustand zu dieser Zeit, die ihn dazu brachten, etwas zu tun, was er normalerweise nicht tat. Sich mit dem Namen melden.“

So beginnt die Geschichte von Schmidt, dessen Bruder René zu Tode kommt. Ein Bruder, den Schmidt erst post mortem begreifen kann. Die Todesnachricht selbst erscheint ihm anfänglich als Witz. Als kleiner Spaß, vom Bruder inszeniert, um Schmidt zu dessen Wohnort zu locken. Erst langsam wird ihm klar, dass sein Bruder wirklich tot ist. Die Umstände sind unbegreiflich, surreal. So erlebt er auch die ersten Tage danach. Er wandelt wie im Schlaf. Kann den Tod nicht verarbeiten, seinem Leben nichts abgewinnen. Der eigene Bruder bleibt ein Mysterium. Langsam, Schritt für Schritt dekodiert er dieses, beginnt die Zusammenhänge zu verstehen.

Die Erzählung beginnt verworren, was sich auch im Schreibstil und der Sprache widerspiegelt. Wortspiele, Wiederholungen, Affirmationen, die zu Negationen werden, intensivieren die konfuse Szenerie. Auch dienen sie dem Autor als Instrument, um dem Leser die Gefühlswelt des Protagonisten näherzubringen. Allmählich entwirren sich die Handlungsstränge. Der Schreibstil wird klarer, um die eigentliche Pointe der Geschichte herauszuschälen.

Neben dem überaus interessanten Verlauf der Handlung ist es wohl auch der komplexe Aufbau, der fasziniert. Durch den Tod seines Bruders wird Schmidt in eine Welt katapultiert, die nie seine war. Er gerät in einen Gewissenskonflikt, weil er den Tod seines Bruders emotional nicht greifen kann. „Was tun traurige Menschen außer weinen? Was erwartet man von traurigen Menschen, dass sie tun? Zu Hause hocken? Vor sich hinstarren? Die Welt um sich vergessen? Wie konnte Schmidt die Welt um sich vergessen?“

Er hält Zwiegespräche mit dem toten Bruder, sucht Antworten auf Fragen, die er sich bis dato nie gestellt hat, was den Konflikt noch verstärkt. Ist es normal seinen eigenen Bruder so wenig zu kennen? Es beginnt ein Reifeprozess. Seine Reflektionen gewinnen an Tiefe. Er erwacht und beginnt aktiv die Geschichte um die Umstände des Todes von René aufzudecken. Und langsam wird er, der Anti-Held, zum Helden. Neben den eigentlichen Handlungen lässt der Autor die Geschichte um zwei Brüder sich langsam entwickeln, die unterschiedlicher nicht sein können. Dabei reflektiert er immer wieder, inwieweit familiäre Zugehörigkeit überhaupt Verbundenheit stiften kann. Durch den fortwährenden Konkurrenzkampf zwischen den Brüdern distanziert sich ihr Verhältnis. Jedoch ist auch die Familiengeschichte verwirrend. Die emotionale Kälte zwischen den Eltern und den Söhnen ist für den Leser greifbar. Diese verstärkt sich als die Eltern versterben. Durch den Verlust des Elternhauses werden beide heimatlos, sowohl geographisch als auch gefühlsmäßig.

Wie ist René wohl gestorben? Durch Mord, einen Unfall oder Selbstmord? Die ungeklärten Todesumstände des Bruders bringen Schmidt dazu, genauer hinzusehen, seinen Blick auf sein Umfeld zu schärfen und seine lethargische, egozentrische Haltung zu überdenken, was ihn erwachsener und aufmerksamer werden lässt. Der Tod des eigenen Bruders ruft eine tiefgehende Veränderung hervor. Schmidt wird nie wieder in sein altes Leben zurückkehren, weder emotional noch geographisch.

Dem Autor ist ein bemerkenswerter Krimi gelungen, der in der Literaturszene nicht unentdeckt bleiben wird. Die Nominierung zum Friedrich-Glauser Preis, mit dem im deutschsprachigen Raum die besten Kriminalromane ausgezeichnet werden, ist ihm bereits sicher.

 

Raoul Biltgen ist 1974 in Luxemburg geboren. Sein Schauspielstudium führte ihn nach Wien, wo er seit 1993 auch lebt. Er arbeitet als freier Schriftsteller, Schauspieler, Theatermacher und Psychotherapeut. Über 40 seiner Theaterstücke wurden in Ländern wie Österreich, Deutschland, Luxemburg, Ungarn, Griechenland, China und Mexiko aufgeführt. In der Sparte Kurzkrimi war Raoul Biltgen bereits zweimal nominiert. Nach Jahrhundertsommer ist dieser Roman der zweite, der im Verlag Wortreich erschien. Andere Veröffentlichungen sind Einer spricht, perfekt morden, Heimweg : Trilogien, Manchmal spreche ich sie aus : Gedichte, Danke für den Apfel.

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