Schule gestalten

Ein Essay über Ziele und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse mit Blick auf Luxemburg

Schule hat einen gesellschaftlichen Auftrag, sie trägt für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen eine enorme Verantwortung. Denn sie ist nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern auch des sozialen Miteinanders. Dementsprechend hoch ist das Interesse moderner Gesellschaften und ihrer politischen Gremien an der Gestaltung von Schule.

Ob, wie und wie erfolgreich der Staat das Schul- und Bildungswesen steuern kann, wird in der Forschung jedoch seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert. So wurde vielfach auf eine Diskrepanz zwischen der Formulierung von Bildungszielen und der Diskussion um die Steuerbarkeit von Erziehung und Bildung und die Gestaltbarkeit von Bildungszielen hingewiesen.

Auch die Luxemburger Schulentwicklung war seit dem 19. Jahrhundert von ambitionierten Bildungszielen geprägt. Angefangen von den ersten staatlichen Lehrplänen und Schulgesetzen bis hin zum Luxemburger Bildungsbericht 2018 zeigt sich dabei eine bemerkenswerte Konstanz der Probleme des Luxemburger Schulsystems, das mit seiner starken Stratifikation und seinen mehrsprachigen Strukturen eine gewisse Resistenz gegenüber der Formulierung neuer Bildungsziele zeigte.

Bedeutet das, dass das Luxemburger Bildungssystem in der Setzung und Erreichung seiner Bildungsziele gescheitert ist? Oder zeigt dies vielmehr die Komplexität von Bildungszielsetzungen als soziale Aushandlungsprozesse? Wo steht Luxemburg im Hinblick auf seine Bildungsziele, und wo will es hin? 

Diesen Fragen wird der Artikel nachgehen. Insbesondere soll nach einem theoretischen Abriss der nationale Bildungsbericht aus dem Jahr 2018 genauer beleuchtet und – auch vor dem Hintergrund der anderen Beiträge in diesem Dossier – problematisiert werden.

1. Bildungsziele sind normative Ziele

Eine alte Weisheit besagt: Ein Ziel ist nicht in erster Linie zum Erreichen da, sondern zum Zielen. So plakativ diese Erkenntnis klingt, so sehr legt sie aber auch den Finger in die Wunde politischer und wissenschaftlicher Debatten um Bildungsziele, die zwischen Utopien, Krisenglauben, Hilflosigkeit und Gestaltungswillen oszillieren: Nahezu kein Bildungsziel der Moderne blieb als zu weitreichend, nicht weitreichend genug, zu exklusiv oder zu allgemein unkritisiert; oftmals stehen sich unterschiedliche Expertenmeinungen gegenüber. Im Gefüge aller Bildungsziele wurde vielfach auf eine Überfrachtung der Schule mit inkonsistenten und teils auch widersprüchlichen Zielen hingewiesen, aber ebenso oft auf eine Einschränkung der kreativen Möglichkeiten von Schule durch Bildungsstandards. Auch wurde hinterfragt, ob Schule mit einer Definition von Bildungsstandards nicht hinter dem zurückbleibe, was sie ohne eine derartige Definition leisten könne. Die Vielfalt denkbarer Bildungsprozesse werde so reduziert. Denn genauso gibt es Aufgaben, die das Schulsystem quasi avant la lettre leistet: in diesem Fall sind Bildungsziele dem aktuellen Stand nachlaufend. Auch könnte eine Standardisierung zu einer Nivellierung von Spitzenleistungen und lokaler Vielfalt führen.1 Und schnell langen diese Diskussionen auch bei den Grundsatzfragen an, ob Schule denn überhaupt politisch gestaltbar ist, wie sich Wirkungen von Reformen nachvollziehen oder messen lassen und ob Schule überhaupt politisch gestaltet werden soll. ­Nur: Kein modernes Schulsystem kam bislang trotz der Kritikanfälligkeit von Bildungszielen ohne Zielsetzungen aus.

Jede Veränderung am Schulsystem bewirkt zweifellos etwas. Und auch jede Bildungszielsetzung bewirkt zweifellos etwas. Ob dies zur Erreichung des Ziels auch beiträgt, wird sich nur in den seltensten Fällen zweifelsfrei belegen lassen. Dennoch haben sich Bildungsziele als wichtig aus demokratisch-politischer Perspektive erwiesen. Sie bilden ein Aufbäumen gegen den Determinismus. Sie sollen Kinder in die Lage versetzen, ihren eigenen Lebenslauf durch Lernen zu gestalten.

In vorliegendem Dossier spiegelt sich dieser Gedanke auch im Begriff der Resilienz wider. Eine Erhöhung der Resilienz der Schulkinder soll, so bekräftigen die Beiträge von Francis Schartz und Olga Roster in diesem Dossier, Unsicherheiten der Zukunft bewältigen helfen. Im Spannungsfeld zwischen einer unbestimmten Zukunft und einer gegenwärtigen Pluralität äußerer Erziehungserwartungen2 definieren bildungspolitische Zielformulierungen auch einen gewissen Überschuss an Fähigkeiten. Dabei werden diese zunehmend auch unter dem Eindruck globaler Verflechtungen in der Bildungspolitik ausgehandelt. Internationale und supranationale policy actors entwickeln hierbei Bildungsziele mit einem universellen Geltungsanspruch. Ein Beispiel sind die Bildungsziele der Agenda Bildung 2030 der Vereinten Nationen, die aus deren sustainability goals abgeleitet werden.

Bildung, so vertritt es die Agenda der UN, ist ein Schlüsselsystem zur Erreichung von Nachhaltigkeit. Sie ermöglicht es dem Einzelnen, der Armut zu entkommen, und soll verhindern, dass Armut weitervererbt wird. Sie kann dazu beitragen, die Gesundheit der Menschen zu verbessern, etwa durch präventive Maßnahmen. Sie soll Kinder mit den Fähigkeiten und Werten verantwortlicher Weltbürger*innen ausstatten und ihnen die Achtung von Menschenrechten, die Gleichberechtigung, ökologische Nachhaltigkeit ebenso vermitteln, wie auch Fähigkeiten und Fertigkeiten, um Infra­struktur aufzubauen, Stadtplanung und Gesellschaftsaufbau zu betreiben, Ressourcen effizienter zu nutzen, den Klimawandel einzudämmen, Biodiversität und Ökosysteme zu erhalten und letztlich Demokratie, Toleranz und Politikbeteiligung zu fördern.3 Im Spannungsfeld solcher internationaler Bildungsansprüche sowie nationaler Erwartungshaltungen entwickeln sich nationale Bildungsziele.

Hierin zeigt sich eine wesentliche Problem­konstellation bei der Definition von Bildungs­zielen, nämlich die Aushandlung letztlich normativer Ziele in einem hyperkomplexen und in seinen Wirkungswegen opaken und heterogenen gesellschaftlichen Subsystem. 

2. Die Idee des Kindes – und ihre (Nicht-)Erreichbarkeit

Christoph Horst schreibt in diesem Dossier, bei Bildungszielen gehe es um die Idee eines Kindes. Dabei, so Horst, sei weniger die Pädagogik leitend als vielmehr die Wirtschaft, die Jugendliche mit Schlüsselqualifikationen benötigt, und die Politik, die auf mündige Bürger angewiesen ist. Das ist nicht von der Hand zu weisen und ein entscheidendes Charakteristikum nationalstaatlicher Schulsysteme.

Ruth T. McVey beschrieb die Institutionalisierungsprozesse der Moderne als Chimäre aus zwei eigentlich nicht kompatiblen Prinzipien: Die Nation bedeutet kollektives Engagement, ihre Impulse sind egalitär. Der Staat hingegen präsentiert sich als hierarchisch, sein Element ist die Stabilität und Kontrolle.4 Es geht darum, Bürger*innen dazu zu bringen, sich freiwillig an Vorgaben zu halten, und zwar nicht, weil sie es nicht besser wissen, sondern gerade, weil sie Einblicke in gesellschaftliche Prozesse gewonnen haben und sich entschließen, mitzuwirken. Und so zielte auch das Luxemburger Schulsystem nicht nur auf die Ausbildung von Arbeiter*innen, Steuerzahler*innen und folgsamen Staatsbürger*innen, sondern auf willige Arbeiter*innen, liebende Luxemburger*innen und verständige Steuerzahler*innen.5

Mit einer verstärkten Verrechtlichung der Schulwesen im Rahmen der Demokratisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts6 wurden Bildungsziele noch umfassender und konkreter ausgeformt. Schon damals ging es um Mündigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Schüler*innen, kritisches Denken, individuelle und ganzheitliche Förderung, psychosoziale und emotionale Förderung. Viele dieser Ziele sind bis heute nicht flächendeckend erreicht. Die Entwicklung der Schule wird begleitet von einer Vielzahl gescheiterter Reformen. Wie diese zu interpretieren sind, darüber herrscht große Uneinigkeit. Roland Reichenbach etwa hinterfragt, ob sich nicht in diesem Scheitern der demokratische Anspruch der Schule zeige, nach welchem, wenn nicht Herkunft über Zukunft bestimmen soll, es nur Leistung und Lernerfolg sein kann, was zu permanenten Reformbestrebungen der Schule in einem Versuch-Irrtum-Verfahren führt.7 Kurz: Es ist die Frage, ob Schulen nicht „erfolgreich scheitern“.

Am bekanntesten in diesem Kontext ist die These von David Tyack und William Tobin von der Grammar of Schooling, die von der Existenz einer Kerngrammatik von Schule ausgeht, welche Schule insgesamt schwer reformierbar und gestaltbar macht.8 Zu dieser Grammatik gehören etwa curriculare Grundstrukturen von Schule.

Curriculum, so identifiziert es Jessy Medinger in diesem Dossier, ist ein maßgeblicher Aushandlungsort für die Formulierung von Bildungszielen. Jedoch werden gerade an den Einflüssen von Lehrplänen und curricularen Vorgaben auf die Unterrichtspraxis und die tatsächlichen Kompetenzen der Schüler*innen unter Erziehungswissenschaftler*innen Zweifel laut.9 Die Lehrplanforschung hat immer wieder alle Arten von geplanten und ungeplanten und sogar unerwünschten Ergebnissen der Schulbildung in den Blick genommen. In der Folge hielt das „versteckte Curriculum“ Einzug in die Curriculum-Forschung, die sich damit befasst, was in der Schule tatsächlich gelernt wird, ohne offiziell im Curriculum als Bildungsziel verankert zu sein. Es muss zudem eingeräumt werden, dass viele Curricula mehr darüber aussagen, was die Beteiligten dachten, was in der Schule gelehrt werden sollte, als was tatsächlich gelehrt wurde.

Curriculum, als die praktische Kondensierung von Bildungszielen, ist eben auch eine Schnittstelle zwischen kulturellen Erwartungen einerseits und der Organisation des Schulwesens andererseits, es ist immer das Produkt in einer spezifischen gesellschaftlichen Situation und resultiert aus vielfältigen Erwartungen und Erfahrungen und komplexen sozialen Aushandlungen.

3. Bildungsziele – Messziele oder Gestaltungsziele

Auch unter dem Eindruck dieser Debatten versuchte die Politik ab Mitte der 1990er Jahre die Steuerung von Schule zu verändern, sie anpassungsfähiger und effektiver zu gestalten. Auch unter dem Eindruck des Siegeszugs des New Public Management hat sich die Steuerung von Schule in den letzten Jahrzehnten an einer output­orientierten, evaluationsbasierten Steuerung, basierend auf Qualitätsmanagement und datengestütztem Schulmanagement, versucht. In der Forschung wird teilweise von einer regelrechten „Messkultur“ gesprochen.10

Ziel ist die Steuerung anhand evidenzbasierter Erkenntnisse bei größter Selbstverantwortung der Schulen, wobei die Erkenntnisse über internationale Schulleistungsstudien (wie TIMSS oder PISA), aber auch durch eine nationale Bildungsberichterstattung gewonnen werden, wie sie auch in Luxemburg etabliert ist. Das Gesetz zum Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (Script) von 2017 sieht alle drei Jahre einen nationalen Bildungsbericht vor. Der letzte hiervon erschien 2018.11

Eine Besonderheit evidenzbasierter Ziele ist jedoch, dass sie eher Messziele als Gestaltungsziele sind – sie blicken auf den Ist-Zustand des Bildungswesens. Aber Reformen in der Schule zeigen ihre Effekte erst langfristig. Der Bildungsbericht bildet somit die „Erfolge“ oder „Misserfolge“ der Reformen der 1990er und 2000er Jahre ab. Dies führt Pit Mischo in diesem Dossier zu dem Urteil, der Bildungsbericht bestehe aus einer „inkohärenten Aneinanderreihung von Studien zu Lesefähigkeiten, Mathematikverständnis, Anwendungen von Grammatik, Produktivität, language awareness, Kompetenzrängen“, während etwa Nachhaltigkeitsziele nicht zu finden seien.

Im Hinblick auf die Wirkung aktueller Reformen und auf die Gestaltung zukünftiger Schule kann der Bericht maximal agendasetzend wirken – der Stärke der Bildungsberichterstattung, ihre Evidenzbasierung, sind hier enge Grenzen gesetzt. Solche Agendasetzung ist im Bildungsbericht aber in der Formulierung weitergehender Forschungsfragen durchaus zu finden, und in diesen unterscheidet sich der Luxemburger Bildungsbericht von vielen seiner internationalen Pendants, die im Wesentlichen auch für ihren reduktionistischen Charakter kritisiert wurden, der Schule auf eine reine Qualifikationsfunktion herunterbreche. Die Vielfältigkeit darüberhinausgehender, insbesondere psychosozialer Zielsetzungen von Schule, die aus dem Bildungsbericht herauszulesen sind, sollen in der Folge genauer dargelegt werden.

So wirft der Bericht die Frage nach der Wirksamkeit der frühkindlichen Sprachförderung, der sprachlichen Flexibilität der Sekundarschule, der neuen Kompetenzzentren für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen (wie Lernschwierigkeiten, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen, Hochbegabung), der digitalen Offensive und der gezielten Förderung von sogenannten entrepreneurial skills auf (S.10). Auch fragt er nach einer Chance, Bildungsungleichheiten durch die 2016 erfolgten Veränderungen im schulischen Orientierungsprozess und das hieraus resultierende gestärkte Mitspracherecht der Eltern zu verringern (ebd.) und identifiziert somit potenzielle zukünftige „Messfelder“ expliziter und impliziter Bildungsziele.  

Insbesondere bei der Frage, wieviel kognitives Potenzial aufgrund von Schwierigkeiten mit der Mehrsprachigkeit verloren geht, werden Messziele nicht nur definiert, sondern auch deren Implementierung in die Schulpraxis anvisiert: So wird ein Ausbau des Schulmonitorings vorgeschlagen – als Maßnahme gegen soziale Benachteiligung (S. 57). Frühere Evaluationen nach dem ersten Schuljahr (S. 36), standardisierte Tests und Screenings (S. 36) sollen verhindern, dass Lernrückstände entstehen. Hier zeigt sich die Outcome-Orientierung einer derartigen evidenzbasierten Bildungszielsetzung, die sich an einer Verbesserung des Ist-Zustands nach gegebenen Kriterien orientiert. Eine gewisse Orientierung an realen oder angenommenen Defiziten einzelner Schüler*innen ist dabei nicht von der Hand zu weisen.

4. Der Luxemburger Bildungsbericht – Wo steht Luxemburg im Einzelnen?

4.1. Sprachunterricht als Weg zur Bildungsgerechtigkeit

Die große Klammer der verschiedensten Studien des Bildungsberichts ist die Frage nach der Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit im Luxemburger Schulsystem. Das Ziel der Bildungsgerechtigkeit wird evidenzbasiert operationalisiert in der Untersuchung aktueller Bildungsverläufe. Hier wird aufgezeigt, wie Bildungskarrieren durch unterschiedliche Ressourcenausstattung und Bildungsentscheidungen (eine frühe Aufteilung auf Schulzweige) stark geprägt werden. Aber auch das Lernklima und eine materielle Ausstattung sind hier wirkmächtig.

Ein Großteil des Berichts widmet sich dem Sprachunterricht als nachhaltiges soziales Bildungsziel – dieser dient dabei nicht nur zum Erlernen einer Sprache, sondern auch dazu, Kommunikation zu ermöglichen (wie Francis Schartz in diesem Dossier nochmals bekräftigt). Auch Olga Roster zeigt in diesem Dossier auf, wie wichtige Aktualitätsthemen im Sprachunterricht behandelt und hier weitgehende gesellschaftliche Diskurse geprägt werden.

Das Problem der vielfältigen Sprachen im Luxemburger Schulsystem führt dazu, dass das tatsächliche kognitive Potenzial der Schüler*innen zum Teil unerkannt bleibt (S. 38). Der Wechsel der Unterrichtssprache zwischen Grund- und Sekundarschule erschwert beispielsweise vielen Kindern den Zugang zu MINT-Fächern. Frühe Sprachförderungsprogramme – insbesondere für Kinder ohne luxemburgischen Sprachhintergrund – könnten, so der Bildungsbericht, hier ausgleichend wirken. Der Bericht demonstriert auch die Wichtigkeit, die Alphabetisierung mit (Zweit-)Sprachenunterricht zu fördern. 

4.2. Allgemeinbildung neu denken: Bereicherung durch den non-­formalen Bildungsbereich

Vorsichtig deutet der Bildungsbericht an, dass Fragen der Partizipation, Inklusion, körperlichen und psychosozialen Gesundheit, demokratischer Werteerziehung und sozial-emotionaler Lebenskompetenzen, die im non-formalen Bildungsbereich bereits stärker etabliert sind, auf die Schule ausgreifen könnten. 

Hier zeigt sich auch die Anschlussfähigkeit des Bildungsberichts an wissenschaftliche und politische Initiativen zur Demokratisierung der Schulstruktur, etwa zur Etablierung einer partizipativen Partnerschaft zwischen Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften, Schüler*innen und Erziehungsberechtigten. Auch in der Debatte um die Multi­professionalität der Schule könnte die Schule von den Einflüssen non-formaler Bildungsbereiche profitieren. Auch Impulse zur Inklusion und Interkulturalität der Allgemeinbildung könnten hier mitgedacht werden. 

Die Digitalisierung wird bei einer Redefinition der Allgemeinbildung im Bildungsbericht nicht explizit berücksichtigt. Insbesondere im Weiterbildungsbereich können hier Impulse gefunden werden. Die Wichtigkeit der digitalen Kompetenzen betont der Artikel von Claire Flammang und Martine Wiltzius in diesem Dossier. Digitale Techniken werden zukünftig in nahezu allen Lebens- und Arbeitsbereichen eine entscheidende Rolle spielen. Demzufolge muss auch Allgemeinbildung neu gedacht werden. Eine Thematisierung digitaler Prozesse in der Schule trägt dazu bei, dass Kinder sich als kritische Bürger*innen in der heutigen Informationsgesellschaft bewegen können. 

4.3. Das System anpassen, nicht die Schüler*innen

Eine implizite Folgerung aus dem Bildungsbericht zielt in Richtung schulischer Struktur. Die im Bildungsbericht geschilderten Diskrepanzen zwischen Lebens­realität der Schüler*innen und der Struktur des Schulsystems mit seiner hohen Stratifikation, starren Schultypen und wenig Flexibilität, um Heterogenität zu adressieren, zwingen zu der Überlegung, inwiefern das System an sich anzupassen ist. Der Bildungsbericht führt aus, dass 49 % der Schüler*innen mit luxemburgischer Staatsbürgerschaft Richtung Enseignement secondaire orientiert werden, während es bei den Schüler*innen portugiesischer Nationalität lediglich 10,9 % sind. (S. 32) Dabei zeigt der Bericht auf, dass eine individuelle Förderung bei hoher Durchmischung der Schüler*innenschaft höhere Bildungschancen für benachteiligte Schüler*innen bewirkt (S. 64). 

Luxemburg hat im europäischen Vergleich enorm hohe Raten an Wiederholer*innen und Schulabbrecher*innen und eine geringe Aufwärtsmobilität zwischen den einzelnen Schulformen. Um dies zu ändern, muss zunächst die Schulstruktur flexibler werden. Damit ist der Bildungsbericht auch anschlussfähig an Zielüberlegungen, wie sie Manou Worré in vorliegendem Dossier formuliert, die auf die Etablierung einer neuen Lernkultur, individueller Schulprofile und neue zeitliche und räumliche Formen des Lernens zielen.

5. Fazit

Heinz-Elmar Tenorth konstatiert, Bildungsziele könnten nicht von Wissenschaftler*­innen als Teil einer wissenschaftlichen Allmachtsfantasie in die Welt gesetzt werden, sondern sie bedürften der politischen Entscheidung und Legitimation.12 Auch evidenzbasierte Studien, Messungen und wissenschaftliche Vorlagen ändern nichts daran, dass die Setzung von Bildungszielen letztlich normativ ist und politisch ausgehandelt werden muss. Dies kann kein Bildungsbericht leisten. Mit den Handlungsfeldern, die der Bericht aufweist, kann er aber einen entsprechenden Diskurs befördern und initiieren: einen Diskurs um Nachhaltigkeit, Bildungsgerechtigkeit, die Aktualität des derzeitigen Schulsystems, Flexibilisierung, Öffnung für non-formale Anreize und neue Wege der Allgemeinbildung. Die Frage, wer an Zielformulierungen partizipiert, ist dabei die zentrale. Hier wird ein breiter inklusiver Prozess benötigt, der nicht an den Lehrer*innen und anderen am Schulleben Beteiligten vorbei stattfindet, da das System sonst mit Immunisierungsstrategien reagiert; er darf auch insbesondere nicht die Schüler*innen ausklammern, da diese die Bildungsziele auch akzeptieren müssen. Um legitimiert zu sein, darf er aber auch nicht ohne die Bürger*innen insgesamt geschehen. Denn letztendlich sind Bildungsziele gesamtgesellschaftliche Ziele, und ihre Anpassung ist auch Ausdruck eines demokratischen Anspruchs. 

Wissenschaftliche Bildungsexpertise kann aber flankierend unterstützen. Insofern ist es auch positiv hervorzuheben, dass der Bildungsbericht sich nicht nur auf die Schule konzentriert, sondern auch die Forschungsinfrastruktur selbst in den Blick nimmt. Der Bildungsbericht beklagt die fehlende Forschungsinfrastruktur im frühkindlichen Bereich (S. 21). Als weiteres Forschungsdesiderat wird durchweg die Untersuchung psychosozialer und emotionaler Herausforderungen aus dem Bildungsbericht deutlich.

Ziele sind ohne Ressourcen nicht umzusetzen. Die Rolle von Bildungsinvestitionen, materieller Ausstattung, aber auch der Dauer von Schulzeit wird noch näher zu beleuchten sein. Schließlich verlangt genau dieses Zusammenspiel zwischen demokratischer Teilhabe und wissenschaftlicher Expertise – trotz der geschilderten relativierenden Einschätzungen wissenschaftlicher Bildungsexpertisen und trotz der offensichtlichen Schwierigkeit der Durchsetzbarkeit und Erreichbarkeit –, dass Bildungsziele (auch und gerade sobald sie kodifiziert sind) kontinuierlich auf den Prüfstand gestellt werden.

  1. Heinz-Elmar Tenorth, „Bildungsziele, Bildungsstandards und Kompetenzmodelle. Kritik und Begründungsversuche“, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 51 (2003), 2, S. 156-164, hier S. 156f.
  2. Ebd., S. 158.
  3. https://www.unesco.de/bildung/agenda-bildung-2030/bildung-und-die-sdgs (letzter Aufruf: 25. August 2021).
  4. Ruth T. McVey, „Building Behemoth: Indonesian Constructions of the Nation-State“, in: Daniel S. Lev / Ruth T. McVey (Hg.), Making Indonesia, Ithaca/NY, Cornell University Press, 2018, S. 11-25.
  5. Catherina Schreiber, Curricula and the Making of the Citizens. Trajectories from 19th and 20th Century Luxembourg, Dissertation Universität Luxemburg 2014.
  6. Lutz Rainer Reuter, „Erziehungs- und Bildungsziele aus rechtlicher Sicht“, in: Hans-Peter Füssel / Peter Roeder (Hg.), Recht – Erziehung – Staat. Zur Genese einer Problemkonstellation und zur Programmatik ihrer zukünftigen Entwicklung, Weinheim, Beltz Verlag, 2003, S. 28-48, hier S. 28.
  7. Roland Reichenbach, „Kompetenzen und Insuffizienzen: Bemerkungen zur neuen Lust, schulische Bildung zu kontrollieren, zu steuern und zu messen“, in: Aktuell vlm (Dezember 2007), S. 11-29.
  8. David Tyack / William Tobin, „The ,Grammar‘ of Schooling: Why Has It Been So Hard to Change?“, in: American Educational Research Journal 31 (1994), 3, S. 453-479.
  9. Reuter, „Erziehungs- und Bildungsziele“, a. a. O., S. 28.
  10. Mechtild Gomolla, „Schuleffektivität und die Verschiebung von Gerechtigkeitsdiskursen im Bildungsbereich“, in: Swiss Journal of Sociology 39 (2013), 2, S. 245-265.
  11. Der Bericht kann hier heruntergeladen werden: https://www.script.lu/de/publications?field_categorie_target_id=9 (letzter Aufruf: 25. August 2021).
  12. Tenorth, „Bildungsziele“, a. a. O.

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