- Geschichte, Gesellschaft, Kultur, Politik
Schule ohne Lehrer
Der Abgabetermin rückt näher, wird überschritten. Es gibt Notizen, aber noch keinen Text, oje. Jetzt: Hinsetzen, schreiben. Für mich, wie für die meisten forum-Autorinnen und -Autoren, eine vertraute Situation. Warum wohl mute ich mir den Abgabe-Stress immer noch zu? Weil ich das Projekt forum nach über 25 Jahren immer noch mag!
Jeder Schreiber ist ein Leser. Das soll nicht nur ausdrücken, dass unsere Art, zu schreiben, von dem, was wir lesen, beeinflusst wird. Auch die Lust, für forum zu schreiben, entsteht beim forum-Lesen. Und noch davor kommt die Lust am Denken. Wer sich in Luxemburg für fortschrittliche Politik interessiert, kommt an dieser Zeitschrift nicht vorbei. Doch forum ist mehr: Die Artikel zu Humanwissenschaften und Religion, zu Geschichte und Kunst, zu Neuen Medien und Kino stellen ein Tor zur Welt dar, eine Einladung, sich mit dem zu beschäftigen, das jenseits des beruflichen oder freizeitlichen Horizonts liegt. forum hat etwas von der vormodernen Kultur des Universalgelehrtentum.
Das hat mich mit 22, als ich das erste forum-Heft in der Hand hielt, schon fasziniert. An das Dossierthema erinnere ich mich nicht mehr, aber das Cover war orangefarben. Wie in jener Zeit alle Cover – eine großartige Innovation gegenüber der schwarz-weißen Anfangszeit, die auch ich nur vom Hörensagen kenne. Ein paar Jahre später, von der Uni zurückgekehrt, habe ich mich zuerst abonniert und dann mit der Redaktion Kontakt aufgenommen. 1990 erschien mein erster Beitrag, eine Buchrezension zum Thema biologische Waffen und Gentechnologie.
Pionier für Pacs und gegen Banken
Mit diesem Dossier „Gentechnik – Fluch oder Segen?“ nahm forum, wie mit vielen anderen, eine Pionierrolle für die politische Gegenkultur in Luxemburg ein. Das war der zweite Grund, warum ich mich von der Zeitschrift angezogen fühlte – bis heute. Den dritten entdeckte ich über die Jahre bei den Redaktions- und Dossiertreffen: Man begegnet dort klugen Frauen und Männern, sowohl innerhalb der Kernredaktion als auch im Kreis der Autorinnen und Autoren.
Beim Verfassen dieses rückblickenden Beitrags habe ich einen knappen Regalmeter forum-Hefte durchforstet und kann versichern: Der Pionierrolle wurde die Zeitschrift auf bemerkenswerte Weise gerecht. So gab es 1991 ein erstes Dossier zum Thema Flüchtlinge in Luxemburg – noch vor dem Zustrom aus Ex-Jugoslawien. Ich erinnere mich auch an eine Diskussion – damals oder wenig später – über die Chancen und Risiken einer Europäisierung der Flüchtlingspolitik. Mittlerweile scheint diese Entwicklung an ihrem Umkehrpunkt angelangt zu sein. Und die Pessimisten von damals haben leider recht behalten.
Andere Themen, bei denen forum Entwicklungen vorweggenommen hat, sind die Abschaffung von Aufnahmeexamen und Religionsunterricht, die Einführung von Euthanasie und Pacs, die Entstehung der Globalisierungskritik (1999: „Sleepless in Seattle“) und das Ende des Bankgeheimnisses (2000: „Unser Ruf kann uns nicht egal sein“). Auch das Dossier zum Islam 1993 war seiner Zeit voraus – ausgelöst wurde es aber bereits damals durch die Konfrontation mit latenter Islamfeindlichkeit. Leider ist hier keine Entwicklung zum Besseren eingetreten. So wenig wie in Sachen Grenzpendler und Zusammenwachsen der Großregion – 1995 Thema des Dossiers „Transfrontalièrement vôtre“.
Die Mitarbeit an solchen Dossiers war für mich ein Segen. Zum Islam, zur Groß-region, zu vielen anderen Themen habe ich Paradigmen aufgegriffen und weiterentwickelt, die mir auch heute noch bei der Analyse vieler Ereignisse nützlich sind. Und ich war wohl nicht der Einzige, dem es so ging. Über die Jahre gab es in der Redaktion ein Kommen und Gehen zahlreicher Interessenten und Interessentinnen. Und seit 1997 ein gutes halbes Dutzend Koordinatorinnen und Koordinatoren. Den Anfang machte Jürgen Stoldt – mittlerweile ein forum-Urgestein – nachdem Dominique Schlechter diesen Job in den langen Jahren der Anfangszeit innehatte. Immer noch stolz bin ich auf die damals verfasste, als Artikel verkleidete Stellenanzeige („Wie entsteht eine forum-Nummer“, Nr. 175), mit der es uns gelang, Jürgen zu verführen – sie gibt einen guten Einblick in Freud und Leid des Redaktionsalltags. Für Dominique, für ihn und für ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger war die Arbeit im Herzen des forum-Teams gewiss auch intellektuell sehr bereichernd.
Kluge Dossiers, kluge Leser
Außerdem war die Mitarbeit nicht nur für mich der erste oder zweite Schritt auf dem Weg in den Journalismus. Interviews führen, Recherche betreiben, Konferenzen besuchen und Bücher rezensieren – auch bei forum wird Brot-und-Butter-Journalismus gepflegt. Doch neben den groß angelegten Interviews – gerne erinnere ich mich an jene mit Jean-Claude Reding, Jeannot Krecké und Jean-Claude Juncker – bot forum mir, wie anderen auch, Gelegenheit, kreativere Formate auszuprobieren: eine Rock-Reportage hier, eine Klima-Satire dort und sogar ein Renten-ABC habe ich in jenen Jahren verfasst. Seit ich fest bei der woxx arbeite, ist forum eher zum Medium geworden, für das ich grundsätzliche Analysen und Positionen ausarbeite, die mir später im Alltagsjournalismus bei der Orientierung helfen – zum Beispiel zur Überwachung, zur Migration oder zur digitalen Pressehilfe.
Die Gelegenheit dafür bietet sich meistens bei einem Dossier – dem Herzstück des publizistischen Projekts. Als Leser freut man sich über diese Kompendien von Wissen und Meinungen zu einem bestimmten Thema, die einem meistens einen guten Überblick verschaffen. Als Journalist nutzt man sie gerne – für keine Kurzmeldung verwende ich so viel Zeit wie für die Ankündigung einer forum-Ausgabe in der woxx, weil ich dafür große Teile des Dossiers und der Nummer verschlinge. Für das forum-Team sind die gut vorbereiteten Dossiers besonders ergiebig. Interne Diskussion, Vorbereitungstreffen mit Experten zum Thema, Suche nach weiteren Autoren. Und noch intensiver ist dieser Prozess für die Person, die das Dossier koordiniert. Ob beim Thema Économie sociale, Kosovo, Wasser oder China – für mich war es immer sehr anstrengend, aber es hat sich jedesmal gelohnt.
Anspruchsvolle Dossiers – aber für wen? Die Frage, welches Publikum forum erreichen will, stellt sich seit langem – seit die Zeitschrift über ihre ursprüngliche Rolle als Sprachrohr von Linkskatholiken hinausgewachsen ist. Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre konnte es scheinen, als etabliere sich forum als Referenz für den intellektuellen Mainstream: Highlights wie die Feierkrop-Nummer und jene zu Wirtschaftskriminalität und dunklen Bankgeschäften sorgten für Aufmerksamkeit weit über die Grenzen der gewachsenen Leserschaft hinaus. Daraus entsprang wohl der Versuch, das EU-Referendum mit dem Medium Internet abzudecken – technisch gelungen und damals wegweisend. Aber die Konsolidierung, zum Beispiel in Form einer öffentlichen Finanzierung für die geleistete politische Bildungsarbeit, blieb aus.
Schüler- statt Proffen-Zeitung
Das Zielpublikum lässt sich am ehesten aus Dauerthemen wie Umgang mit Geschichte, Nord-Süd-Verhältnisse, Universitätspolitik und – immer seltener – Religion ableiten: intellektuell engagiert bis akademisch. Und gewiss kein Mainstream. Mein Eindruck ist auch, dass in jüngster Zeit wieder mehr gut gemachte Dossiers die Themen aufgreifen, die die Zivilgesellschaft beschäftigen: Klima und Nachhaltigkeit, Datenschutz und Überwachung, Verfassung und Wahlrecht sowie TTIP. Dabei werden die Ressourcen der Uni Luxemburg, Forscher und Studierende, sinnvoll einbezogen – eine Möglichkeit, die Qualität der Zeitschrift zu verbessern, die es vor 20 Jahren einfachnicht gab. Auch wenn die Geschäftsgrundlage vermutlichdie zivilgesellschaftliche Einbindung ist und bleiben wird, stellt sich die Frage nach der Rolle als Mittel der politischen Bildung oder als Unterstützung der Identitätsbildung der Uni Luxemburg. Mit der Bestimmung des Zielpublikums hängt eine weitere Frage zusammen, die die Redaktion seit Jahrzehnten beschäftigt: Was soll in welchen Sprachen veröffentlicht werden? Bleibt man beim „luxemburgischen“ Mehrsprachen-Mix, der dem etablierten forum-Publikum gerecht wird? Müssten Texte systematisch übersetzt werden? Soll Französich als Lingua franca der Zivilgesellschaft die Haupt-sprache werden? Oder etwa Englisch, als der kleinste gemeinsame Nenner der universitären Akteure?
Solche manchmal bedrohlich erscheinenden Dilemmata sollten nicht vergessen machen, dass das Projekt forum heute durchaus gut funktioniert und dabei ist, sich weiterzuentwickeln. Ein Grund, warum ich für die Zeitschrift schreibe, ist jedenfalls, dass ich sie immer noch gerne lese. Da gibt es die vor anderthalb Jahren eingeführte Strandgut-Rubrik, die mich zum Schmunzeln bringt. Oder die neuen Cover, die – meistens – die Lust wecken, im Dossier zu blättern. Und nicht zuletzt die Webseite, die bei allen Unzulänglichkeiten doch immerhin übersichtlich und praktisch ist – und einen Schritt in Richtung Internetmedium darstellt.
Als forum-Autor, hauptberuflicher Journalist sowie Konsument und Beobachter der Medienszene sehe ich den sweet spot für das Projekt forum irgendwo zwischen Autorenzeitschrift und journalistischer Publikation. Die Dossiers mit den vielen „gelehrten“ Artikeln waren meistens nicht die besten. Und den geschliffenen Umgang mit der politischen Aktualität wie ihn die Tagespresse pflegt, vermisst man nicht wirklich. Klar ist, dass Nicht-Journalisten als Autoren eine große Bereicherung darstellen können – sie sind es, die häufig Erhellendes und Originelles zu einem Thema zu sagen haben –
weil sie sich wirklich dafür interessieren. Klar ist auch, dass die Ressourcen von hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitern, wenn es um journalistische Tugenden wie recherchieren, überprüfen und redigieren geht, manchmal an ihre Grenzen stoßen.
Das ist nicht schlimm. forum kann keine „Journalisten“-Zeitung sein. Es sollte auch keine Ansammlung hochkorrekter, aber langweiliger, akademischer Artikel sein. Salopp gesagt, mir ist forum lieber als Schüler- denn als Proffen-Zeitung. In meinen Augen sollte die Zeitschrift eine Plattform sein, auf der die Zivilgesellschaft im weiten Sinne – also bis hinauf in die Elfenbeintürme der Wissenschaft –ressortübergreifend nachdenken und debattieren kann. Diese Funktion erfüllt forum zum Teil schon heute und sie ist künftig unabdingbar – egal, ob auf Papier gedruckt oder in Bits gefasst.
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