Liebe Freund*innen!

Früher war alles anders: Man konnte spontan in den Urlaub fahren oder in ein Konzert gehen – und war dann für zwei Wochen oder drei Stunden einfach nicht erreichbar. Keine E-Mail und keine SMS, kein Facebook und kein Instagram. Ruhe oder Musik pur. In den letzten eineinhalb Jahren pendelten manche zwischen Arbeitsstelle und Zuhause, andere hatten die Wahl zwischen Wohn- und Esszimmer. Aber alle waren immer erreichbar. Und das kann einem gehörig auf die Nerven gehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Das ist auch der Grund für die Richtlinie, die die EU-Kommission jetzt auf den Weg bringen will: Das „Recht auf Nichterreichbarkeit“, in Luxemburg auch vom Conseil économique et social gefordert, soll kommen. Denn wenn wir nicht abschalten können, werden wir krank. Die Momente, in denen man ohne ökonomischen Verwertungszweck etwas tut oder auch nichts tut, sich um die Familie oder ehrenamtlich um gesellschaftlich Sinnvolles kümmert, werden immer wertvoller. Nichterreichbarkeit wird zur größten Sehnsucht in einer verkorksten Welt.

Auch das Mantra vom ewigen Wachstum – schneller, höher, weiter – wird zunehmend in Frage gestellt. Der Absturz der Seilbahn in Norditalien ist eine Variation auf die Geschichte von Ikarus: Hier höher, dort schneller sollte es gehen, am Ende stand der Tod. Das gleiche Schicksal droht unseren Wirtschafts- und Finanzsystemen, so grün sie sich auch immer anstreichen. Man muss nicht den Club of Rome in Erinnerung rufen, um zu wissen, dass Wachstum Grenzen und Größen-wahn Folgen hat. Besinnung auf das Notwendige, wozu auch Schlaf und Nichterreichbarkeit gehören, muss sich durchsetzen, wenn die Zukunft nicht nur für wenige, sondern für viele erträglich sein soll. Das gilt für Einzelne, Nationen, auch den Globus. In diesem Sinne sind auch die rezenten Urteile aus Karlsruhe und Den Haag zu verstehen (siehe Edito), die den wachstumsbedingten Folgen der Klimakrise Grenzen setzen wollen. Der neue Weg wird kein leichter sein, um mal einen bekannten Verschwörungssänger zu zitieren. Aber, alles ist möglich, um auch noch der Autoindustrie einen Slogan zu entwenden. Doch stimmt das? Ist tatsächlich alles möglich? Welche hypothetischen Chancen jemand haben mag, der sich im System der absoluten Selbstausbeutung in den Herzinfarkt gearbeitet hat und nun auf Wiedergutmachung klagt, weil dieses System ihn hat fallen lassen, das lesen Sie in diesem Heft im Beitrag von Alex Bodry über die von Félix Braz angestrengten Gerichtsverfahren.

Dass die neue Sensibilität für diese Probleme keine Erfindung verblendeter Achtsamkeitsfetischisten oder ewiggestriger Kapitalismuskritikerinnen ist, zeigt wiederum unser Dossier aufs Vorzüglichste. Nach der Lektüre sollte jedem klar sein, dass eine Gesellschaft, die die mentale Gesundheit ihrer Bürger*innen nicht schützt, keine Zukunft hat. Das umfangreiche Dossier hat übrigens Samra Cindrak verantwortet. Es ist gleichzeitig ihre Abschiedsarbeit für forum, das sie nach vier Jahren in diesem Monat verlässt. Wir bedanken uns herzlich bei Samra für Ihr Engagement in stürmischen und schönen forum-Zeiten und wünschen ihr für die zukünftigen Herausforderungen Freude und Lust und nur das Beste!

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