Sicher in die Zukunft

Wie frühkindliche Trennungssituationen die Entwicklung unserer Gesellschaft beeinflussen

Nachdem in der vergangenen Ausgabe (forum 368) in einem ersten Teil hauptsächlich die Bedürfnisse und Wünsche von Jugendlichen aus Scheidungs- und Trennungsfamilien untersucht wurden, geht es im Folgenden konkret um deren Beziehungsfähigkeit.

Erste wichtige Erfahrungen

Die Fähigkeit, sich auf eine auf Vertrauen basierende Beziehung einzulassen, entwickeln wir gleich nach der Geburt. John Bowlby (1907-1990), ein international anerkannter Bindungsforscher, hat in den sechziger und siebziger Jahren Pionierarbeit auf dem Gebiet der Bindungsforschung geleistet. Er hat unzählige frühe Mutter-Kind-Interaktionen beobachtet und diese in Verbindung mit der Befriedigung emotionaler Bedürfnisse von Säuglingen und Kleinkindern gebracht. Dabei hat er festgestellt, dass die beiden ersten Lebensjahre ausschlaggebend für die Entwicklung eines gesunden Bindungsverhaltens sind, welche ihren Höhepunkt im zweiten Lebensjahr erreicht. Während der ersten Lebenswochen ist der Säugling an keine spezifische Person gebunden, lernt jedoch relativ schnell zwischen der ihm vertrauten Stimme seiner Mutter und einer fremden Stimme zu unterscheiden. Spätestens im Alter von drei Monaten wendet er sich mit seinen Signalen und seinem Bindungsverhalten bewusst an seine Mutter respektive an die Person, die sich bis dahin vorrangig um den Säugling gekümmert hat. Diese Bindungsperson ist von nun an nicht mehr ohne weiteres austauschbar und eine längere Trennung würde mit erhöhtem Stress einhergehen.

Durch Herumtragen, beruhigendes Streicheln und sanftes Wiegen unterstützt die Mutter den Säugling intuitiv bei der Regulation seiner emotionalen Zustände. Dabei benötigen Säuglinge mit einem schwierigen Temperament wesentlich mehr Beruhigungshilfen als solche mit einer niedrigen Erregungsintensität und einer positiven Grundstimmung. Aufgrund der wachsenden neurologischen Verbindungen, die sich durch diese Regulationshilfen bilden, schafft das Kind es zunehmend, seine Emotionen selbst zu regulieren.1 Bei häufigem Wechsel der Pflegeperson werden diese Schritte der Selbstregulation und Reifung jedoch erschwert.

Woran ist eine sichere Mutter-Kind-Bindung erkennbar?

Kinder haben ein angeborenes Bedürfnis, sich an eine einzige Person zu binden und sind – aus entwicklungspsychologischer Sicht – während der ers-ten zwei bis drei Lebensjahre auf eine kontinuierliche Versorgung durch diese Bindungsperson angewiesen. Letztere ist nur kurzzeitig durch wenige andere Personen wie den Vater, die Großmutter oder eine zusätzliche Pflegeperson austauschbar. Erlebt der Säugling oder das Kleinkind regelmäßig Trennungssituationen und ist die Anzahl der sich abwechselnden Pflegepersonen (mehr als drei) während der ersten Lebensjahre zu hoch, gerät das Kind zunehmend unter Stress. Ihm fehlt die Sicherheit und Vertrautheit der primären Bindungsperson.

Zahlreiche Studien belegen mittlerweile, dass die Beziehungs- und Bindungserfahrungen während der ersten Lebensjahre einen Einfluss auf den gesamten weiteren Lebensverlauf haben. Mary Ainsworth, eine amerikanisch-kanadische Entwicklungspsychologin (1913-1999), vertiefte das Wissen um die Bindungstheorien. Um den Einfluss der Trennung von Mutter und Kind auf die kindliche Entwicklung in all ihren Ausprägungen zu erforschen, unterschied sie zwischen verschiedenen Bindungstypen, welche sich im Laufe der ersten Lebensmonate durch die Interaktionserfahrungen des Kindes mit seiner primären Bindungsperson entwickeln.

Demnach handelt es sich bei sicher-gebundenen Kindern um Kleinkinder, die bei drohender Gefahr die Nähe ihrer Bindungsperson (meist der Mutter) suchen und bei gefühlter Sicherheit ihrem angeborenen Explorationsverhalten nachgehen. Dieses Bindungsmuster entwickelt sich bei Kindern mit Müttern, die feinfühlig und angemessen auf die Signale ihrer Kinder reagieren. Sie fühlen sich sicher, weil ihre Bezugsperson in Stress- und Angstsituationen anwesend ist und beruhigend auf sie wirkt. Der Aufbau einer sicheren Bindung entsteht dabei vor allem durch die zahlreichen positiven Mutter-Kind-Interaktionen. Die vorsprachliche, nonverbale Kommunikation zwischen Mutter und Kind ist eine universell angeborene Verhaltensbereitschaft. Das Kind lernt, dass es bei der Mutter positive Reaktionen bewirken kann: Zwischen ihnen entsteht eine positive Gegenseitigkeit und mit ihr der Aufbau einer sicheren Bindung.

Unsicher gebundene Kinder dagegen haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Mütter nur wechselhaft verfügbar und in ihrem Verhalten widersprüchlich und/oder emotional zurückweisend und wenig einfühlsam reagieren. Ein solches Verhalten führt zu einer unsicher-ambivalenten bzw. unsicher-vermeidenden Bindungsstrategie. Desorientiert/desorganisiert ist schlussendlich ein weiterer Bindungstyp, den Kinder aus Hochrisikofamilien, die extremen Belastungen ausgesetzt sind und bereits ein klinisch auffälliges Verhalten zeigen, aufweisen.2

Von der Forschung bestätigt

In unzähligen Studien über die Effekte der genannten Bindungsformen auf die Gesamtentwicklung der Kinder wurden signifikante Zusammenhänge zwischen frühkindlichen Bindungserfahrungen und der Entwicklung kognitiver, sozialer, motivationaler und emotionaler Fähigkeiten gefunden. Ziegenhain et al.3 haben z.B. beobachtet, dass sicher-gebundene Kleinkinder in einer experimentellen Belastungs- und Leistungssituation bessere kognitive Ergebnisse erzielen und höhere soziale Fähigkeiten aufweisen als unsicher-gebundene Kinder. Diese sind von schwierigen Interaktionsvorerfahrungen geprägt und können zusätzliche Belastungen, wie die Anforderungen einer Testsituation, nur unter hohen emotionalen Kosten bewältigen.

Szyf und Meaney4 zeigen, dass nicht nur die Gene, sondern auch die ersten Lebenserfahrungen einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung haben (in diesem Fall beruhen die Resultate auf Versuchen mit Ratten). Die von ihren Müttern während den ersten Lebenstagen vernachlässigten Rattenjungen haben geringere soziale Fähigkeiten und sind ängstlicher als die von ihren Müttern fürsorglich umsorgten Rattenjungen. Zudem neigen die vernachlässigten Ratten zu aggressivem Verhalten. Diese beobachteten Verhaltensveränderungen bestimmen ebenfalls das Leben der nachfolgenden Generationen. Die vernachlässigten Jungratten kümmern sich ihrerseits bei der Brutpflege wenig fürsorglich um die eigenen Jungen. Untersuchungen der Gehirnareale der Ratten zeigen, dass der Mangel an Fürsorge während der ersten Lebenstage die molekulare Struktur ihres Erbgutes in ihrer genetischen Ausdrucksweise über Generationen hinweg verändert. Um herauszufinden, ob die Ergebnisse aus den Rattenversuchen auf den Menschen übertragbar sind, wurden Gehirnstrukturen von erwachsenen Selbstmördern, von denen man wusste, dass sie unter schwierigen Bedingungen (z.B. frühe und lange Heimaufenthalte, körperlicher oder sexueller Missbrauch,…) aufgewachsen sind, untersucht und mit den Strukturen verstorbener Menschen ohne traumatische Kindheitserfahrungen verglichen. Dabei wurde festgestellt, dass die Menschen mit einer belastenden Kindheit an denselben Gehirnarealen Veränderungen aufzeigen wie die vernachlässigten Ratten.

Solche Forschungsergebnisse bestätigen die Annahme, dass die ersten Interaktionserfahrungen unsere Entwicklung maßgeblich beeinflussen. Die positiven Erlebnisse in der Interaktion mit der primären Bindungsperson und die daraus entstehenden mentalen Modelle sind ein Leben lang aktiv. Sie beeinflussen unsere zukünftigen Beziehungen und prägen unser späteres Weltbild langfristig.

Was muten wir unseren Kindern zu?

Die wichtige Erfahrung einer stabilen, wertschätzenden und liebevollen Beziehung zu einer primären Bindungsperson riskiert, falls der Wert der Familie gesellschaftlich nicht wieder anerkannt wird, in Zukunft immer mehr Jugendlichen zu fehlen. Der Fokus unserer Familienpolitik besteht momentan in einer möglichst frühen Trennung der Kinder von ihren Familien. Säuglinge und Kinder sollen so früh wie möglich von geschulten Fachleuten erzogen und gefördert werden. Die Eltern sollen schnellstmöglich auf den Arbeitsmarkt zurückkehren und die Frauen bzw. Mütter möglichst schnell wieder unabhängig gegenüber ihrem Partner werden. Doch was passiert hier gerade? Die Kindertagesstätten („crèches“) schießen wie Pilze aus dem Boden, die Gemeinden werden dazu aufgefordert, möglichst schnell eine „maison relais“ zu bauen, in der die Kinder zwischen den Schulstunden und nach der Schule versorgt werden können.

Wenn wir bezüglich der in unserem Lande propagierten frühen Unterbringung der Kinder in einer Kindertagesstätte von der Chance einer Frühförderung sprechen, dann kann dies nur für bestimmte Kinder gelten. Nämlich für jene aus Familien, in denen die Eltern an einer psychischen Erkrankung und/oder einer Suchterkrankung leiden und ihre Kinder demnach emotional und körperlich vernachlässigen. Für alle anderen Säuglinge und Kleinkinder steht der Aufbau einer sicheren Bindung zu ihrer primären Bezugsperson vor jeder institutionellen Förderung. Optimale Förderung setzt sichere Bindungserfahrungen voraus, wobei sicher-gebundene Kleinkinder (0-3 Jahre) gar keine spezifische Förderung brauchen (vorausgesetzt es handelt sich um psychisch und physisch gesunde Kinder). Bei sicher-gebundenen Kindern lässt sich die natürliche Freude am Entdecken und Lernen in einem expansiven Explorationsverhalten beobachten. Das Kind erkundet die Welt –­ ohne Aufforderung dazu. Wesentlich dabei ist, dass die soziale Lernwelt (das Kind muss sich sicher und geborgen fühlen) zum Lernen einlädt und die Lernangebote sowie -bedingungen auf das Kind abgestimmt sind. Kinder mit unsicheren Bindungserfahrungen sind wesentlich schneller gestresst und demzufolge weniger motiviert, neue Lernerlebnisse zu suchen. Sie fühlen sich in unbekannten Lernsituationen oft überfordert und riskieren auf Dauer in Leistungssituationen eine Verweigerungshaltung oder ein oppositionelles Verhalten zu entwickeln.

Was die Fortsetzung der außerfamiliären Betreuung der Kinder in einer „maison relais“ betrifft, so sind diese häufig von lärmenden, oft überreizten Schulkindern überfüllt. Die Kinder finden dort selten einen Rückzugsort, an dem sie sich geborgen fühlen oder eine vertraute Person, der sie die kindlichen Freuden und Sorgen ihres Schulalltags mitteilen können. Es fällt ihnen schwer, in diesem unruhigen und oft überstimulierenden Umfeld den Stress des Schulalltags abzubauen. Solche Überforderungssituationen können sich bei mangelnden Ausgleichmöglichkeiten und fehlender emotionaler Unterstützung in einem überreaktiven Verhalten wie Hyperaktivität, Aggressionen oder einfach nur lautem Herumschreien manifestieren. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass die Versorgung der Kinder in einer „maison relais“ ganz deutlich dem Alleingelassensein zu Hause vorzuziehen ist. Schulkinder, deren Eltern berufstätig sind, sind in einer „maison relais“ besser aufgehoben, als wenn sie alleine zu Hause vor dem PC sitzen oder auf der Straße herumlungern.

Überforderte Eltern

Die wenige Zeit, die den berufstätigen Eltern mit ihren Kindern noch bleibt, ist ihrerseits oftmals durch weitere Anforderungen belastet. Die vom Arbeitstag erschöpften Eltern versuchen in kurzer Zeit abends das nachzuholen, was sie tagsüber verpasst haben. Anfallende Hausarbeiten, unerledigte Schulaufgaben und überreizte, nach Aufmerksamkeit fordernde Kinder schließen den Kreis. Die Eltern leiden an einem schlechten Gewissen, denn sie sind sich bewusst, dass es den Kindern an gemeinsamer Zeit mit ihnen fehlt. Das schlechte Gewissen wird durch oftmals inkonsequentes Verhalten gegenüber den Kindern und durch materielle Vergünstigungen kompensiert. Den Eltern bleibt als Paar kaum noch Zeit für das Miteinander. Ihre Beziehung leidet unter dem Alltagsdruck und die Wahrscheinlichkeit einer Trennung steigt.

Kinder wollen möglichst viel Zeit mit ihren Eltern verbringen. Je länger sie tagsüber von ihnen getrennt sind und je weniger Austauschmomente es gibt, umso mehr Aufmerksamkeit fordern sie. Kinder brauchen Wertschätzung und Anerkennung und dies vor allem von ihren Eltern. Diese erfahren sie in alltäglichen Interaktionen wie dem gemeinsamen Tischdecken, Kochen, Einkaufen oder Spiel. Kinder brauchen kein durchgehendes Animationsprogramm, sondern die Anwesenheit der Eltern und die gemeinsame Bewältigung kleiner Aufgaben lassen das Kind spüren, dass es den Eltern wichtig ist.

Beziehungsfähig oder nicht?

Ob junge Menschen beziehungsfähig sind oder nicht, liegt nicht an einer Trennungssituation der Eltern (dies in Bezug auf den Artikel „Getrennte Wege“, forum 368), sondern vor allem an den ersten Interaktionserfahrungen mit ihren Bindungspersonen im Säuglings- und Kleinkindalter. Junge Menschen, die von Geburt an lernen, dass Beziehungen schön, erfüllend und dauerhaft sind, werden später eher in der Lage sein, vertrauensvolle und stabile Beziehungen einzugehen als solche, die während der ersten Lebensjahre häufige Beziehungsabbrüche erlebten. Sicher-gebundene Jugendliche gehen erwiesenermaßen besser mit Belastungs- und Stresssituationen um, sind weniger ängstlich, sind beliebter bei Gleichaltrigen und haben – trotz Ablösungsprozess – eine bessere Beziehung zu ihren Eltern.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist es eher die momentane Fehlentwicklung der Familienpolitik, die unsere zukünftige Gesellschaft beziehungsunfähig macht. Unsere aktuelle Politik fördert die wirtschaftliche Entwicklung auf Kosten der psychischen Gesundheit unserer Kinder. Kompetent ausgebildetes Fachpersonal soll unsere Kinder erziehen und bestmöglichst fördern. Eltern werden dadurch indirekt in ihren erzieherischen Kompetenzen abgewertet. Wichtige Bindungserfahrungen der Kleinkinder werden auf der Strecke bleiben, die Beziehungsfähigkeit junger Erwachsener wird leiden und die Scheidungsquoten werden weiterhin steigen. Sicher-gebundene Erwachsene werden mehr und mehr von unsicher-gebundenen Erwachsenen abgelöst werden und die Gesellschaft wird aus immer mehr verhaltensauffälligen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bestehen.

Mehr in die Familie investieren

Um eine „gesunde“ Gesellschaft zu gewährleisten, muss wieder mehr in Familien investiert werden. Die Eltern sollten in ihrem Wunsch, ihre Kinder selbst zu erziehen ­– zumindest während der ersten drei Lebensjahre – unterstützt werden. Das Geld, das zurzeit in die außerfamiliäre Kinderbetreuung fließt, könnte alternativ den Eltern zu Gute kommen, die zu Hause bei ihren Kindern bleiben. Es braucht dafür jedoch auch einen höheren gesellschaftspolitischen Stellenwert für Mütter und Väter, die ihre Arbeit aufgeben, um ihre Kinder zu erziehen sowie familienfreundliche Arbeitsbedingungen, wenn sie wieder zurück in den Beruf wollen. Risikofamilien benötigen Beratung, Unterstützung und Begleitung von fachgerechtem Personal, am besten schon während der Schwangerschaft, bei der Kinderpflege und -erziehung. Wir brauchen mehr Aufklärung über die Konsequenzen häufiger Trennung von Bindungspersonen im frühkindlichen Alter und bindungstheoretische Maßstäbe, nach denen sämtliche außerfamiliären Betreuungsstrukturen (altersentsprechende Eingewöhnungsphasen, wenig Personalwechsel, angemessene Ruheräume usw.) geführt werden. Kinder brauchen ihre Eltern, sie wollen von ihnen begleitet, beschützt und geliebt werden. Nur dann können sie zu psychisch gesunden Menschen heranwachsen.

 

[1] Schore, A. Affect, Regulation and the Repair of the Self, London, W.W. Norton & Company, 2003.

[2] Main, M. und Solomon, J. „Discovery of an insecure-disorganized/disoriented attachment pattern“ in: Affective development in infancy, 1986, S. 95-124.

[3] Ziegenhain, U. et al., „Frühe Bindungserfahrungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kleinkindern in einer sozialen und kognitiven Anforderungssituation“ in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 45, 1996, S. 95-102.

[4] Cervoni, N. et al., „Epigenetic programming by maternal behavior“ in: Nature Neuroscience, 7, 2004, S. 847-854.

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