„Sicherheit ist eine Konstruktion“

Ein Interview mit Veith Selk (Institut für Politikwissenschaft der TU Darmstadt) über Angst als politisches Instrument

„In Teilen des alten Kontinents ist das rationale Aushandeln konkurrierender Interessen der Phobokratie gewichen: der Herrschaft der Angst.“1 Stimmen Sie dieser Aussage zu?

Veith Selk: Nein, denn Angst selbst herrscht ja nicht und mit Angst allein kann man auch nicht herrschen. Es sind konkrete Personen, die Herrschaft ausüben oder ausüben wollen. Angstkommunikation kann ein Mittel dafür sein und eine bestimmte Art von Kommunikation, eine Kommunikation über Angst, ist dabei ausschlaggebend. Das kann auch dabei hilfreich sein, Interessen durchzusetzen.

Welche Akteure benutzen das Mittel der Angst?

V.S.: Zum einen haben die regierenden Politiker die Verpflichtung auf sich genommen, verschiedene Ziele zu verwirklichen, in erster Linie die Sicherheit. Marx hat einmal gesagt, Sicherheit sei der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft. Da scheint etwas dran zu sein. Deshalb gehört es zum Geschäft, öffentlich zu kommunizieren, dass für Sicherheit Sorge getragen wird. In diesem Fall handelt es sich eher darum, Ängste einzudämmen und das geht nur kommunikativ. Zum anderen ist nichts von Natur aus politisch, d.h. Themen müssen als politisches Problem in der Öffentlichkeit behandelt und somit politisiert werden, damit man mit ihnen Politik machen kann. Angstkommunikation spielt dann z.B. eine Rolle, wenn die Notwendigkeit einer Reform gerechtfertigt oder bestritten werden soll. In diesem Fall wird u.a. auf einen möglichen Verlust der nationalen Wettbewerbsfähigkeit oder von Arbeitsplätzen hingewiesen.
Darüber hinaus ist Angst ein Mittel terroristischer Akteure. Ihre Anschläge haben nicht die Funktion siegreich eine Schlacht zu gewinnen. Sie sollen zwar Opfer hervorbringen, aber das hat eine kommunikativ-symbolische Seite. Die Gewalt und die Bilder der Zerstörung richten sich an ein Publikum: Potentiellen Unterstützern sollen sie Tatkraft signalisieren und bei den Bürgern der angegriffenen Staaten sollen Angst und Unsicherheitsgefühle aufkommen. Für Terroristen gilt es die zentrale Funktion des Staates, Sicherheit zu gewährleisten, zu minimieren.

In einem gewissen Sinne ist auch die Ökonomie ein Schauplatz von Angstpolitik. Max Weber hat darauf hingewiesen, dass Angst bei der Entstehung des Kapitalismus eine wichtige Rolle gespielt hat und zwar als Angst vor Verdammnis, die der gute Christ durch rastlose Berufsarbeit abwenden wollte. Heute hat man eher Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder davor, im Wettbewerb abgehängt zu werden. Und wer über Kapital verfügt, hat Angst vor dem Sinken der Profite. Mit all dem kann Politik gemacht werden.

Das Instrument der Angst wird also sehr vielfältig eingesetzt…

V.S.: Ja, denn z.B. auch Protestbewegungen, die in den 1980er Jahren stark waren, nutzten dieses Mittel, um ihre Ziele zu erreichen. Man verbreitete und kommunizierte Angst vor einem weiteren Weltkrieg oder einer verseuchten Erde durch Atomkraft. Hier ging es darum, als problematisch wahrgenommene Sachverhalte durch Angstkommunikation zu politisieren. Zudem nutzen populistische Bewegungen und Parteien Angst, um Bedrohungsszenarien zu konstruieren, wie die Angst vor Immigration, aber auch vor der Erosion der angeblich heilen Familienwelt.

Handelt es sich hierbei um eine doppelte Konstruktion: heile Familienwelt einerseits und die Bedrohung von außen andererseits?

V.S.: Es handelt sich nicht um eine bloße Konstruktion, denn es ist eine Reaktion auf gesellschaftliche Prozesse, die tatsächlich stattfinden. Institutionen sind nicht mehr fraglos gültig, sondern werden als kontingent, d.h. veränderbar durchschaut. Die zunehmende Individualisierung bringt Freiheit und Entscheidungsmöglichkeiten mit sich, sie sorgt aber ebenfalls für Verunsicherungen. Im Entwurf für das Parteiprogramm der AfD nimmt die Familie z.B. einen ganz großen Stellenwert ein: Es geht um den Schutz und die Wiederherstellung der Familie. Die Genderthematik spielt ihrerseits eine große Rolle. Es gibt Teile der Bevölkerung, die ein Problem mit der Idee des Gendermainstreamings haben. Sie befürchten, dass ihre Kinder in der Schule eine Sexualkunde bekommen, die Geschlechtsidentitäten als veränderbar beschreibt. Diese Angst wird dann von rechtspopulistischen Bewegungen aufgegriffen und thematisiert.

In welchem Zusammenhang stehen Terrorismus, Medien und Regierungen?

V.S.: Diese drei Akteure sind sicherlich miteinander verbunden. Einerseits sollen Terroranschläge eine Botschaft übermitteln und vor allem Angst auslösen. Das funktioniert aber nur, wenn diese dementsprechend medial behandelt werden. Es scheint, dass Anschläge eine gewisse „Faszination“ bei den Medien auslösen, sie springen auf den Wagen, liefern Bilder und Live-Aufnahmen. Regierungen müssen ihrerseits  reagieren, in der Regel tun sie dies mit Law and Order-Politik. Die Funktion der öffentlichen Sicherheit rechtfertigt nicht nur die Staatsgewalt, sie macht die Regierungen auch verantwortlich für die Sicherheit der Bürger. Manchmal reagieren politische Vertreter aber so, dass die Antwort auf die Anschläge wiederum breit in den Medien kommuniziert wird. Ein Beispiel wäre die Reaktion des französischen Innenministers, Manuel Valls, als er nach den Pariser Attentaten verkündete: „Wir sind im Krieg.“ Dies spielt den Terrorgruppen in die Hände, weil sie vielleicht wirklich das Ziel verfolgen könnten, einen Krieg vorzubereiten. In dem Sinne wäre es dann eine Vorstufe zum Krieg, wenn man die Terroristen als Kombattanten anerkennt. Wenn Repräsentanten des Staates diese Vorstufe öffentlich bestätigen, geben sie den Terroristen rhetorisch gesehen eine Vorlage.

Wie könnte man diesen Kreis öffnen?

V.S.: Die Medien könnten sich mehr zurückhalten und nicht 24-Stunden Live-Ticker und diverse Smartphone-Aufnahmen aus den Anschlagsorten bringen. Von Seiten der Regierung könnte man eine Rhetorik erwarten, die nicht so stark auf Krieg fokussiert ist, sondern eher auf das Kriminalitäts-
paradigma. Demnach könnte sie Anschläge nicht als Akte des Krieges, sondern als bestimmte Formen der politischen Kriminalität darstellen. Letztlich hängt es aber von den Bürgerinnen und Bürgern ab; es ist entscheidend, wie sie auf den Terrorismus reagieren.

Können traditionelle Medien tatsächlich auf Dauerberichterstattung in Zeiten der sozialen Medien
verzichten?

V.S.: Es stimmt, dass soziale Medien jedem ermöglichen, Berichterstatter zu werden. Soziale Medien werden die Dauerberichterstattung also weiterführen, auch wenn traditionelle Medien darauf verzichten würden. Recherchierte Hintergrundinformationen und -analysen bieten jedoch nach wie vor einen Mehrwert und auf diesen sollten sich traditionelle Medien fokussieren.

Hat sich Ihrer Ansicht nach die Angstpolitik der Regierungen nach 9/11 verändert?

V.S.: Nach 9/11 hat sich sicherlich eine Tendenz zum Präventionsstaat entwickelt. Viele BürgerInnen erwarten, dass der Staat bestimmte Formen der Kriminalität präventiv verhindert. Die Ermittlungen werden also, im Gegensatz zu einem zurückgenommen liberalen Staat, stärker ins Vorfeld verlagert. Die Behörden haben weite Zugriffsrechte, die zum Teil sehr vage formuliert sind. Dies ist gefährlich, auch für Regierungspolitiker, denn man befindet sich in der Pflicht zu liefern. Der ehemalige deutsche Innen-
minister Hans-Peter Friedrich beispielsweise erklärte Sicherheit zu einem „Supergrundrecht“, d.h. Sicherheit trumpfe alles andere, so Friedrich. Mit Blick auf Terrorismus ist dieses Recht aber nicht einlösbar, denn bestimmte Formen des Terrorismus werden sich meiner Meinung nach nie verhindern lassen, jedenfalls nicht durch eine repressive Sicherheitspolitik. Zudem besteht die Gefahr, dass Rechtsstandards abgesenkt werden und dies wird in ruhigeren Zeiten häufig nicht mehr rückgängig gemacht.

Glauben Sie, dass der Staat das Monopol der Gewalt noch ausüben kann?

V.S.: Laut Max Weber ist der Staat nicht durch seine Ziele charakterisiert, sondern durch seine Mittel, in diesem Fall also das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit. In Bezug auf den innerstaatlichen Bereich gilt dies eigentlich noch immer. Es wird nur dann schwierig, wenn mehr und mehr Probleme als „politisch“ begriffen werden, die der Staat nicht lösen kann, jedenfalls nicht kurzfristig. In vielerlei Hinsicht leben Menschen in Unsicherheiten unterschiedlicher Art, auch in demokratischen Wohlfahrtsstaaten. Nur gelten diese oft nicht als politisch relevant: Man muss nur an den Straßenverkehr denken, wo jedes Jahr viele Menschen sterben. Wenn ein Problem aber politisiert wird und der Staat es dann nicht schafft, das Problem zu lösen oder die mit ihm verbundenen Gefahren zu regulieren, dann bekommt er ein Legitimationsproblem.

In dieser Politisierung kommen dann rechtspopulistische Bewegungen ins Spiel.

V.S.: Genau. Die Grenzkriminalität im Osten Deutschlands ist z.B. ein Thema, das lange von den aktuellen Amtsinhabern ignoriert wurde und jetzt von der AfD aufgegriffen und kommunikativ verstärkt wird. Sicherheit ist eine Konstruktion und Sicherheitsprobleme sind auch Konstruktionen. Zumindest müssen die Sicherheitsprobleme als solche öffentlich dargestellt werden, um politische Relevanz zu bekommen.

Wie entstehen Feindbilder im Rahmen der Angstpolitik?

V.S.: Angstpolitik ist das Resultat eines Prozesses, in dem Akteure zum einen eine bestimmte Identität zugesprochen bekommen und zum anderen durch ihr eigenes Handeln diese Identität bestätigen oder verändern. Allerdings gibt es auch Fälle, in denen sich die öffentliche Darstellung ohne großes Zutun der Betroffenen wandelt. Ein Beispiel wäre der Wandel in der öffentlichen Darstellung und Berichterstattung über die Flüchtlinge. Zuerst dominierten Bilder von schutzbedürftigen Menschen und dies wandelte sich zu einem Bild, was eher eine Konnotation von Bedrohung hatte. Die Medien benutzten anfangs vor allem Bilder von Familien, Begrüßungsszenen, später eher Bilder von überforderten Behörden und interessanterweise vor allem von Männern. Damit wandelten sich die zugesprochene Identität der Flüchtlinge und somit auch die entsprechende unterläufige Angstkommunikation.

Muss demokratische Politik Gefühle und Leidenschaft mit berücksichtigen?

V.S.: Parteien, die diese Elemente nutzen und deshalb auch Zulauf bekommen, sind die Rechtspopulisten. Sie haben einen affektiv-leidenschaftlichen Politikstil und ich glaube, dass sie auf einen bestimmten Mangel reagieren. Vernunft und Leidenschaft müssen sich grundsätzlich nicht gegenseitig ausschließen. Mit der Angst ist es aber schwierig, denn ängstlich aufzutreten entspricht nicht dem Berufsbild eines Politikers.

… nicht dem westeuropäischen Berufsbild?

V.S.: Das ist richtig. Allerdings gibt es verschiedene Arten, auf Ängste zu reagieren und Ängste aufzunehmen. Bernie Sanders und Donald Trump mobilisieren beide mit Angstkommunikation. Während Letzterer Szenerien des absteigenden „Empires“ zeichnet, artikuliert Sanders Angst vor einer Oligarchisierung des politischen Systems, d.h. der Schließung der Aufstiegsmöglichkeiten und dem Niedergang der Demokratie in den USA. In diesem Fall ist es sozusagen eine sozialdemokratische Version, Ängste, bzw. mit Angst zu politisieren.

Kann Angstpolitik auch positive Effekte produzieren?

V.S.: Ja, denn sie kann ja auch ein Problemindikator sein. Man kann unterschiedlich mit Angst Politik machen, es muss nicht immer in die rechtspopulistische Richtung gehen. Sie ist einerseits ein trojanisches Pferd, mit dem sich Themen in die öffentliche Auseinandersetzung einschmuggeln lassen, die manchmal aus guten Gründen dort nicht hingehören. Andererseits ist sie aber auch ein Problemindikator.

Vielen Dank für das Gespräch! 

Das Interview wurde am 7.4.2016 per Skype von KN geführt.

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