Slow journalism oder: die Geschichte hinter der Nachricht
Microblogs und Kurznachrichten, Breaking News, Pop-ups und Live Streams – die heute ungebremst und ständig eintreffenden Informationshäppchen stoßen aufgrund ihres geringen Nährwertes immer häufiger dem einen oder anderen Leser übel auf.
Doch es gibt Alternativen zum schnelllebigen Einheitsbrei – wohlschmeckende Appetizer in diesem Genre, wahre Highlights der Nachrichtenkochkunst, welche sich Leser mit Zeit und Muße in Ruhe auf der Zunge zergehen lassen können. Denn Zeit ist mit das Wichtigste beim Slow journalism – sowohl bei der Zubereitung als auch beim Verzehr.
McDonalds und Marshmallows
Seit 2007 steht Slow journalism für langformatige Berichterstattung mit einem besonderen Qualitätsanspruch, mit Tief- und Hintergrund. Der Name entstand in Anlehnung an die Slow-food-Bewegung, die 1986 in Italien als Protest gegen die Eröffnung der ersten McDonalds-Filiale in Rom entstand.
„We get basic news cheaply, on air and online. In the middle is traditional print journalism, the sector that is losing readers. At the luxury end, there should be a growing market for essays, reportages and other non-fiction writing, that takes its time to find things out, notices stories that others miss, and communicates it all to the highest standards: ‘slow journalism’ “1, schreibt Susan Greenberg von der University of Roehampton im Jahr 2007 und prägte damit den Begriff. Slow journalism oder Slow media, stellt aber nicht nur eine besondere Herausforderung an den Produzenten, sondern auch an den Rezipienten.
„Slow Media lassen sich nicht nebenbei konsumieren, sondern provozieren die Konzentration der Nutzer. So wie die Herstellung eines guten Essens die volle Aufmerksamkeit aller Sinne eines Koches und seiner Gäste erfordert, können Slow Media nur in fokusierter Wachheit mit Genuss konsumiert werden“, postuliert 2010 das erste Slow-Media-Manifest.2
Seit dem sogenannten Marshmallow-Experiment, in dem es 1986 an der Universität Stanford um die Reaktion auf Belohnungsaufschub ging, besteht kein Zweifel mehr an der Bedeutung von Geduld, Selbstkontrolle und Ausdauer für späteren Erfolg und Lebenszufriedenheit. Könnte es hinsichtlich dessen also einen optimistischer anmutenden Titel für ein Slow-journalism-Magazin geben als „Delayed Gratification?“
Delayed Gratification: ‘Slow news is good news’
Vom Guardian in seinem 2017 „Christmas Gift Guide“ für die besten Geschenkabos empfohlen, ist Delayed Gratification ein seit sieben Jahren bestehendes britisches Print-Magazin. Es hat mit einem Startkapital von 9 000 Pfund angefangen (umgerechnet rund 10 200 Euro), erscheint vierteljährlich und kostet im Jahresabo 48 Pfund (ca. 54 Euro).
Das Besondere: der sehr ernstgemeinte Anspruch, als letzter von einem Geschehen zu berichten. So erscheinen die Geschichten jeweils mit einer Verzögerung von drei Monaten. Die Leser wüssten um das faktuelle Geschehen der letzten Monate, aber nicht zwingend um seine Bedeutung und Entwicklung. Und genau hierinsieht Delayed Gratification seinen Mehrwert: „Like the other slow movements, we take time to do things properly. Instead of desperately trying to beat Twitter to the punch, we return to the values we all want from journalism – context, analysis and expert opinion“.3
Ständige Déjà-vus begleiten die Lektüre. „Da war doch was“ – Themen wie der Anschlag auf Charlie Hebdo, der Transfer von Neymar zum PSG, die Brandkatastrophe im Grenfell Tower, das Grubenunglück von Soma mit mehreren hundert Toten oder der Ukraine-Konflikt werden mit ihren mittelfristigen Konsequenzen belichtet.
Das Heft zeichnet sich zudem durch seine sehr schicken Infografiken und durch seine ins Auge stechenden Cover aus, welche, wie bei forum, von jungen Künstlern gestaltet werden.
Der Herausgeber bietet außerdem monatliche Workshops zum Infografiedesign und Magazinvertrieb sowie Schreibwerkstätten an.
The Atavist Magazine: „For the love of stories“
The Atavist Magazine 4 tritt seit 2009 mit einer langformatigen Geschichte pro Monat und einer eleganten Aufmachung an. Er wird dabei von einem breiten Netzwerk von Journalisten und Illustratoren gespeist. Einer der drei Gründer ist Nicholas Thompson, aktueller Chefredakteur von Wired und früherer Chefredakteur von newyorker.com.
Zudem erscheint hier auch die Liste der Investoren markant. Mit dabei sind beim Atavist unter anderem der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt sowie der Gründer von Netscape, Marc Andreessen. Ein Jahres-Abonnement kostet 25 Dollar (ca. 21 Euro) und bietet Zugriff auf interessante, tiefergehende und griffig zu lesende Berichte, teilweise noch ergänzt mit zusätzlichem Audio- und Videomaterial.
Beachtliche Artikellängen fordern dabei ihren Raum – zwischen 10- und 20 000 Wörter kommen da schon zusammen. Damit wird es eindeutig länger als ein Magazin-Beitrag, aber deutlich kürzer als ein Buch. Die Geschichten werden vielschichtig aufgebaut und bleiben so mit ihren wichtigen Details ausgestattet, die an anderer Stelle längst dem Platzmangel zum Opfer gefallen wären. Wie in den Artikeln intensiv nachzulesen ist über den Umgang mit den Leichen von getöteten IS-Kämpfern oder über einen professionellen Clown, der im Auftrag der UNO in Kriegsgebieten mit den unterschiedlichen Kriegsparteien deutlich effektiver verhandelte.
Seit 2015 kommerzialisiert Atavist seine technische Digital-Storytelling-Plattform und bietet hierfür kulturellen Institutionen und Non-Profit-Unternehmen einen besonderen Tarif.
Codastory: „Stay on the story“
Coda – in der Musik der Begriff für das Finale einer Partitur, welche alle Charakteristiken des Werkes noch ein letztes Mal in sich vereint, ist das gleichnamige Magazin und seit 2016 auch der Name für ein journalistisches Projekt ohne Gewinnzweck.
Es hat sich zum Ziel gesetzt, ein relevantes Thema über einen Zeitraum von bis zu einem Jahr intensiv mit Journalisten zu besetzen, ehe daraus ein tiefgründiger Beitrag von gesellschaftlichem Interesse wird: „In music a Coda is a distinctive passage, usually towards the end, which defines the entire composition. In journalism, Coda is a stand-out voice that helps to define a crisis“.5 Diskriminierung der LGBT-Szene in Russland, osteuropäische Desinformationskampagnen, sowie Migration sind momentan die Hauptthemen.
„Clash of narratives“ ist ein neues, sehr interessantes Feature von Coda, welches zwei gegensätzliche Standpunkte aufeinander prallen lässt. Aktuell werden hier die beiden unterschiedlichen politischen Visionen über die Zukunft Georgiens thematisiert, was auf diesem Wege auch zum Aufbrechen von Echokammern beitragen soll. Coda finanziert sich hauptsächlich durch Beiträge von Stiftungen, durch monatliche Spenden und Mitgliedsbeiträge, die zwischen 7 und 25 Dollar liegen (rund 6 bis 21 Euro) und je nach Höhe zum Beispiel die Teilnahme an virtuellen Redaktionskonferenzen ermöglichen.
Die Beiträge erscheinen anschließend frei im Netz und auf Partnerseiten, wie etwa auf der Internetseite des Guardian. Am 16. Januar 2018 wird das Projekt mit dem „Alfred I. DuPont-Columbia University-Award“ ausgezeichnet. Der Preis wird für einen 53-minütigen Audiobeitrag über Homophobie in Russland verliehen, der in Zusammenarbeit mit dem „Reveal-Centre for investigative reporting“ produziert wurde.
Von der Entdeckung der Langsamkeit in Zeiten der Hektik
Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern, aber gleichwohl ist wenig so erkenntnisbringend wie ein frischer Blick auf eine alte Story.
Diese Qualität gibt es allerdings meist nicht umsonst, ja – kann es nicht umsonst geben! Denn so manch Slow journalism-Produktion erinnert eher an ein kinematographisches Werk als an ein traditionelles Presseprodukt.
1. Greenberg, Susan. 2007. “Slow Journalism.” Prospect, February 26. http://journalism.nyu.edu/assets/BylinePDFs/slowjofeb07.pdf
2. www.slow-media.net/manifest
3. www.slow-journalism.com
4. https://magazine.atavist.com
5. https://codastory.com/about
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