Smart Cities, ‚big politics‘ und die Privatisierung der urbanen Governance

Die Diskussion über Smart Cities hat in den letzten Jahren einen regelrechten Hype in Stadtpolitik, -forschung und -wirtschaft hervorgebracht. Die digitale Optimierung von Gebäuden, Quartieren oder ganzen Stadträumen, so könnte man Smart Cities definieren, hat auch Luxemburg erfasst. Während das Wirtschaftsministerium die Vision einer intelligenten digitalen Spezialisierung verfolgt, präsentiert sich die Hauptstadt seit geraumer Zeit als Bühne der Smart City. Als Kontrast zu diesen Bildern analysieren wir ein prominentes Beispiel, das die Vision einer kontrollierten, technologisch und ökonomisch durchoptimierten Stadt vermittelt – Quayside, das Konversionsprojekt der Alphabet Inc. in Torontos Hafengebiet.

Das Konzept der Smart City ist komplexer als vielfach suggeriert wird, und es hat eine Reihe kritischer Nebenwirkungen. Blickt man auf die internationale Debatte, so sind die Bewertungen zweigeteilt: Im praktischen Diskurs werden nahezu Wunderdinge von neuen Technologien erwartet, insbesondere mit Blick auf wirtschaftliche Entwicklungen sowie auf die Reduzierung des Energieverbrauchs durch die intelligente Steuerung von u.a. Kühlschränken, Beleuchtung und Verkehr. Alle wollen „smart“ sein. Im wissenschaftlichen Diskurs über digitale Städte werden hingegen verstärkt die Schattenseiten thematisiert, die mit dieser neuen Smartness verbunden sind. Digitalisierung und neue Technologien werden nicht nur das Handeln der Konsumenten verändern, sondern auch die Städte an sich.1 Um nur ein Beispiel zu nennen: Ohne Internet und Smartphone gäbe es vermutlich keine Billigflieger, und ohne Easyjet und Ryanair keine Explosion des Flugverkehrs, kein Airbnb und kein overtourism. Aber ist das gleich smart, also intelligent?

Obwohl die Digitalisierung zweifellos viele Vorteile mit sich bringt, sind speziell die Städte und der Urbanismus mit einer Reihe von ungelösten Problemen konfrontiert. Erstens gibt es eine wichtige Facette, die hinter der Produktion von großen Daten, Algorithmen und digitalem Design situiert ist: Daten sind nicht wertfrei. Daten sind ein Endprodukt technologischer und politischer Methoden und des damit verbundenen Framings, also von Prozessen der spezifischen Sinngebung. Neue Technologien können bestehende sozio-ökonomische Ungleichheiten reproduzieren, und sie sind keineswegs als universeller Problemlöser bekannt.2

Zweitens wirft die weltweite Verbreitung von Daten die Fragen auf, wer ihr Eigentümer ist und wer sie reguliert. Diese Unsicherheit ist nicht neu. Allerdings sind die Möglichkeiten und Handlungsspielräume von privatwirtschaftlichen Akteuren auf datengesteuerten Märkten scheinbar unbegrenzt, so dass die entsprechende Governance bereits als algorithmischer oder „Überwachungs-Kapitalismus“ bezeichnet wurde.3 Darin verlieren die Endnutzer das Eigentum, die Souveränität und die demokratische Kontrolle über die produzierten Daten.

Drittens wird die Smart-City-Agenda primär von Technologieunternehmen verfolgt, die die Digitalisierung städtischer Umgebungen als einen wachsenden Markt für ihre Produkte betrachten. Rob Kitchin sieht hier unerwünschte Nebenfolgen: a) die Kommerzialisierung öffentlicher Dienstleistungen, wie sie von und für den privaten Profit erbracht werden; und b) technologische Lock-in-Effekte, die dazu führen können, dass die Stadt weniger widerstandsfähig gegen Bugs, Viren, Abstürze und Hacks wird.4

Ein weiterer Punkt aus der wissenschaftlichen Kritik betrifft die Frage des Transfers: Zentraler Punkt ist hier, dass städtische Politik kein Produkt ist, das beliebige Rezepte liefert, die von einem Ort zum anderen übertragen werden können. Local context matters. Dies ist eine wichtige Botschaft an digitale Content Provider, die ihre Produkte auf einem Bildschirm, in einem Büro oder Labor entwickeln und dann zu exportieren versuchen – und vor allem für politische Entscheidungsträger, die Lösungen suchen. Wir wollen diese These und unsere Kritik an der universalistischen Smart City-Ideologie an einem Beispiel illustrieren, das nur auf den ersten Blick sehr weit entfernt erscheint.

Aktuelle Erfahrungen aus Sidewalk, Toronto, Kanada

Im Jahr 2017 gewann Sidewalk Labs – eine Tochtergesellschaft der Google-Holding Alphabet Inc. – den internationalen Wettbewerb zur Entwicklung von Quayside, einem Brachland am Ontariosee. Gemeinsam mit der öffentlichen Einrichtung „Waterfront Toronto“ soll Quayside zur besten Smart City aller Zeiten entwick­elt werden. Durch seine „Single Digital Platform“ (SDP) würde Sidewalk alle vorstellbaren Aspekte von Nachhaltigkeit erfüllen. Quayside würde umwelt- und klimafreundlich sein, es entstünden flexibel und vielseitig einsetzbare Passivhäuser. Müll würde automatisch entfernt, intelligente Autos beförderten Menschen, und Sensoren überwachten die Luftqualität. Quayside würde sozial sein, da die Entwicklung partizipativ geschieht.

Sidewalk Labs investierten 50 Millionen US-Dollar in Public Relations, öffentliche Roundtables, Nachbarschaftstreffen, Workshops, Designstudios, Kindercamps etc. Quayside, so das Argument für die immensen Investitionskosten, würde schließlich zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Sidewalk verspricht Wohnungen erschwinglich zu machen, damit würde der Trend der Gentrifizierung umgekehrt, von dem die Stadt bereits massiv erfasst ist. Weiterhin, würden die Verwaltungskosten sinken, weil neue Technologien entwickelt werden sollen, um Regierungsaufgaben zu automatisieren bzw. zu ersetzen.

Quayside wurde der Öffentlichkeit als die digitale Stadt der nächsten Generation präsentiert. Diese Ambition hat zwangsläufig die Aufmerksamkeit der Medien und der globalen Tech-Community geweckt: „Alphabet joins the grand tradition of master-planned cities, places built from near-nothing with big social goals in mind“.5 Andere fragten sich allerdings, warum ein werbefinanziertes High-Tech Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 110 Milliarden US-Dollar in die Stadtentwicklung einsteigt.6

Tatsächlich gibt es eine starke Diskrepanz zwischen dem Optimismus von Sidewalk und den Unsicherheiten und der Kritik daran. Seit Vorstellung des Projekts sind kritische Stimmen immer lauter geworden, und sie weisen darauf hin, dass diese intelligente Stadt wirklich problematisch sein kann. Diese Kritik lässt sich an aktuellen Entscheidungen von Einzelpersonen und Institutionen zu Sidewalk festmachen:

1) Prof. Ann Cavoukian wurde lange Zeit als Sidewalks Spezialistin für Datenschutz in Kanada angepriesen. Sie trat zurück, nachdem sie herausgefunden hatte, dass die Privatsphäre der Anwohner und Besucher nicht garantiert werden konnte.
2) Prof. Mariana Valverde legte die genaue rechtliche, institutionelle und räumliche Struktur von Alphabet Inc., Google LLC, Sidewalk Labs und Sidewalk Toronto offen und enthüllte damit, welche internationalen Finanzkreise dort ihre Interessen verfolgen.7
3) Saasdia Muzaffar, ehemaliges Mitglied des Digital Strategy Advisory Panel der Waterfront Toronto, schrieb, als sie von ihrer Funktion zurücktrat: „There is nothing innovative about city-building that disenfranchises its residents (…) and robs valuable earnings out of public budgets, or commits scarce public funds to (…) technology that city leadership has not even declared a need for.“8
4) Der Rechnungshof der Provinz Ontario hat bereits eine Reihe von Beamten an der Waterfront Toronto entlassen.
5) Jim Balsillie veröffentlichte eine vernichtende Kritik in einer kanadischen Tageszeitung, mit dem vielsagenden Titel: „Sidewalk Toronto has only one beneficiary, and it is not Toronto.“9
6) Die Canadian Civil Liberties Association hat erneut eine Klage gegen Waterfront Toronto und alle drei Regierungsebenen eingereicht, weil die Verträge mit Alphabet Inc. über Data Governance nicht im Interesse der Öffentlichkeit lägen und verfassungswidrig seien.
7) Roger McNamee, Silicon Valley Venture Capitalist, Facebook-Mitgründer und Autor von Zucked – Waking up to the Facebook Catastrophe, hat einen offenen Brief an das Rathaus von Toronto geschrieben: „Google’s goal is to increase efficiency by converting all human experience into data, using that data to make behavioral predictions that it can sell to marketers, and then using its algorithms to nudge human behavior in directions that favor its business.“10
8) Prof. Shoshana Zuboff, Autorin des Standardwerks The Age of Surveillance Capitalism, hat gemeinsam mit McNamee und Balsillie als Zeugin vor dem Canadian Standing Committee on Access to Information, Privacy and Ethics und dem International Grand Committee on Big Data Privacy and Democracy ausgesagt, mit kritischen Kommentaren zum Geschäftsmodell von Alphabet Inc.

Einige der talentiertesten Experten der Region haben grundsätzliche Kritik an diesem Projekt angemeldet. Dabei wurden die Risiken der Smart City offenbart: Niemand hat eine Ahnung davon, wie die Spielregeln für die neue Entwicklung aussehen sollen; niemand weiß, ob sich die Städte dieser Entwicklung ohne weiteres aussetzen sollten; und niemand weiß, warum es gut sein soll, dass High-Tech und Big-Data als neue Akteure der Stadtentwicklung auftreten. Doch auf die wachsende Kritik hat Sidewalk bisher nicht reagiert.

Lehren aus der Smart City für Luxemburg?

Eine wichtige Lehre aus Quayside ist, dass Smart City-Konzepte Gefahr laufen, den Logiken der neoliberalen Politik (marktgerechte Landnutzung, spekulative Investition, Privatisierung) vollends Zugang in die Stadtpolitik zu verschaffen. Es gibt zudem signifikante Lücken im Diskurs, vor allem im Kontext von Fragen der Data Governance. Quayside zeigt auch, dass solche Projekte oft standardisierte „Lösungen“ und Produkte promoten, die nicht ohne Weiteres zur Spezifik des Ortes passen.

Die Frage ist nun, was wir aus diesem Fall für den sehr spezifischen Luxemburger Kontext lernen können und unter welchen Bedingungen Smartness einen Beitrag zu lebenswerten Städten leisten kann. Auch hier im Land ist die Sach- und Diskurslage gespalten: hochagile Offenheit für neue Technologien und unternehmerische Ansiedlungen einerseits, ein durch mühsame Nachholprozesse geprägtes Feld von Urbanisierung und Urbanismus andererseits. Der bisherige Umgang mit dem Begriffspaar Smart City folgt einem bekannten Muster: Das Neue wird begeistert angenommen, nicht reflektiert, und es wird über Produkte diskutiert, bevor geklärt ist, wo das eigentliche Problem liegt.

Ob die luxemburgischen Gemeinden in ihrer weit überwiegenden Mehrheit „smarte“ Visionen brauchen, darf vor diesem Hintergrund bezweifelt werden. Denn sie sind mit strukturellen Rahmenbedingungen und Konflikten konfrontiert, die zunächst nach anderen, vielleicht auch weniger technischen Strategien verlangen.11 Der starke Wachstumsdruck von Bevölkerung und Sozialprodukt erzeugt enorme Probleme, diese Dynamik in geregelte Bahnen zu lenken. Dabei zugleich soziale Kohäsion und Lebensqualität zu sichern, stellt die eigentliche Herausforderung dar. Gemessen an diesen Herausforderungen sind die bisher primär technisch fokussierten Smart City-Debatten vielleicht smart, aber wenig städtisch.

Initiativen der Regierung, wie man sie in der „Research and Innovation Smart Specialisation Strategy“ (RI3S) des Wirtschaftsministeriums oder in Jeremy Rifkins Plan für eine „Dritte Industrielle Revolution“ nachlesen kann, sollen zunächst neue Märkte erschließen helfen. Sie bauen auf dem Fundament einer digitalen Infrastruktur auf, die sich nach allem, was man weiß, international durchaus sehen lassen kann. High-Performance Computing, das Internet der Dinge, FinTech, personalisierte Medizin oder Inves­titionen in künstliche Intelligenz zeigen, dass neue Nischenstrategien verfolgt werden. Mit einem Google-Datenzentrum in Bissen würde ein weiterer Meilenstein in der Kombination von High-Tech und Unternehmensansiedlung gesetzt – wie kritisch man auch immer darüber denken mag, dass hier einem nahezu ubiquitären und omnipotenten Datensammler, -verwerter und -anwender erster Güte der rote Teppich ausgerollt wird. Über mögliche Risiken seiner Produkte und Dienstleistungen ist dieses Unternehmen ähnlich verschwiegen, wie es die Regierung im bisherigen Handling dieses Projektes war. Und ähnlich still wie Sidewalk in Toronto.

Um abschließend ein konkretes Beispiel zu nennen: Im Zuge des Rifkin-Prozesses wurde eine Idee diskutiert, die zum Testfall für die urbane Brauchbarkeit smarter Strategien werden könnte. Die Ansiedlung grenznaher Bürogebäude als ‚Back offices‘ des Finanzplatzes, in deren Folge Beschäftigte nicht mehr ins wirtschaftliche Zentrum der Hauptstadt einpendeln müssten, sondern dezentral entlang der Grenze arbeiten. Auf diese Weise könnte das Sozialprodukt weiter steigen, ohne die allseits beklagten nachteiligen Wirkungen mit sich zu bringen. Allerdings muss sich die Tragfähigkeit eines solchen Ansatzes noch erweisen. Sollte er gelingen, würde dies nicht nur Luxemburg entlasten, sondern auch das jahrzehntelang diskutierte Problem des spatial mismatch, das heißt des räumlichen Auseinanderdriftens von Arbeiten und Wohnen, um eine robuste Lösung bereichern. Das wäre doch etwas, und vielleicht wäre es auch smart.

1) Vgl. Andrew Karvonen/Federico Cugurullo/Federico Caprotti (Hg.), Inside Smart Cities – Place, Politics, and Urban Innovation, New York, Routledge, 2019.

2) James Ash/Rob Kitchin/Agnieszka Leszczynski, „Digital turn, digital geographies?“, in: Progress in Human Geography 42 (2016), 1, p. 25-43.
3) Vgl. Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power, New York, Public Affairs, 2019.
4) Rob Kitchin, „Making sense of smart cities: addressing present shortcomings“, in: Cambridge Journal of Regions, Economy & Society 8 (2015), S. 131-136.
5) https://www.wired.com/story/google-sidewalk-labs-toronto-quayside/ (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 25. Juni 2019 aufgerufen).
6) https://abc.xyz/investor/pdf/2017Q4_alphabet_earnings_release.pdf
7) https://cfe.ryerson.ca/blog/2018/12/mystery-waterfront-how-smart-city-allure-led-major-public-agency-toronto-reckless-deal
8) https://www.theglobeandmail.com/files/editorial/News/sidewalk/Saadia-Muzaffar.pdf
9) https://www.theglobeandmail.com/opinion/article-sidewalk-toronto-is-not-a-smart-city/
10) https://business.financialpost.com/technology/google-critic-urges-toronto-to-dump-sidewalk-labs-because-its-surveillance-capitalism-will-subvert-democracy
11) Vgl. den Beitrag von Markus Hesse zu „Metropolisierung oder die zweite Häutung der Stadt“ in diesem Heft, S. <?>.

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