Smartphoneisierung

Internetsucht im Zeitalter von Big Data

Das Internet ist eine tolle Sache: Man kann sich von seinem Bett aus ins Weltgeschehen einstöpseln, sich im Home Office-Hoodie in eine Video-Konferenz einklinken, mit Verwandten am andern Ende der Welt vom Sofa aus quatschen – das alles führt uns die Coronakrise nahezu lehrbuchartig vor Augen.

Seit es das Internet gibt, scheint es Menschen1 wie durch eine magnetische Kraft an sich zu binden – eine Tendenz, die in den letzten Jahren durch Smartphones nochmals verstärkt wurde. Es wurden gar zwei sehr niedlich klingende Neologismen eingeführt, um eine regelrechte Smartphonesucht begrifflich zu fassen: Maids und Nomophobie. Forscher warnen vor Maids (Mobile and Internet Dependency Syndrome), das den Drang beschreibt, das Leben stets nach Netzzugängen ausrichten zu müssen, und das ferner die Angst vor leeren Batterien umfasst. Nomophobie steht für „No-Mobile-Phone-Phobia“ und beschreibt sozusagen im Umkehrschluss die Angst vor mobiler Unerreichbarkeit.

Tatsächlich begannen in Psychologenkreisen bereits 1996 Diskussionen über Internetabhängigkeit. Bald schon wurde deutlich, dass das Phänomen nur schwer zu diagnostizieren ist, da das Medium (Internet) immer zugleich an süchtig machende Erfahrungen gebunden ist, die nicht allein dem Medium zuzuschreiben sind. Obwohl das Internet im Gegensatz zu harten Drogen i. d. R. keine Menschenleben fordert – sieht man zumindest von den potenziell verheerenden Folgen, die Verschwörungstheorien, Fake News oder terroristische Online-Netzwerke bergen können, ab –, überwiegt der Nutzen des Internets durchaus in vielerlei Hinsicht.

Der Preis für diese Vorteile geht allerdings nicht gegen Null: Ein Großteil der digitalen Nutzeroberflächen ist so angelegt, dass sie die „Rumklickerei“ möglichst begünstigen. Zusammengebastelt werden sie von Privatunternehmen, die aus Aufmerksamkeit Geld machen und die Nutzer dazu verleiten, möglichst viel Zeit im Internet zu verplempern, um Daten zu generieren, die im Rahmen von Werbe- und Verkaufsstrategien weiterverwertet werden können. Wir wissen heute, dass vor allem zwei Stichworte die Probleme der Digitalisierung recht gut fassen: Personalisierung und Privatisierung (und eine daran anknüpfende Monopolisierung).

Der User kann den Lockrufen der digitalen Welt nur wenig entgegen setzen, immerhin arbeiten laut Google-Mitarbeiter Tristan Harris die klügsten Statistiker und Informatiker der Tech-Branche daran, die Willenskraft der Nutzer zu brechen. So wie einst die Tabakindustrie die Attraktivität des Rauchens pries und die Sucht des 20. Jahrhunderts vorantrieb, legen sich Tech-Unternehmen für die Sucht des 21. Jahrhunderts ins Zeug.

Designte Sucht – Soziale Medien als Glücksspiel

Um zu verstehen, was den Reiz sozialer Medien und Smartphones ausmacht und deren obsessive Nutzung intensiviert, kann die ethnografische Studie Addiction by Design weiterhelfen.2 Darin untersucht Natasha Schüll die Anziehungskraft von Glücksspielautomaten. Schülls Informanten schildern, wie sie vom mechanischen Rhythmus des elektronischen Glücksspiels in einen tranceähnlichen Zustand versetzt werden. Dieser Zustand, von Schüll „Zone“ genannt, reduziert das Körperbewusstsein der Spieler und lässt ihre täglichen Sorgen und sozialen Anforderungen in den Hintergrund rücken. Einmal in der Zone angelangt, ginge es den Spielern gar nicht ums Gewinnen, sondern darum, so lange wie möglich weiterzuspielen, um den Zustand der Sorgenlosigkeit und das Gefühl der Losgelöstheit aus dem Hier und Jetzt aufrecht zu erhalten. Die Grenze zwischen Mensch und Maschine, Zwang und Freude, Kontrolle und Selbstbetrug verwische dabei zusehends.

Soziale Netzwerke funktionieren vom Grundmuster her oft ähnlich. Facebook und Twitter bieten einen bodenlosen Newsfeed an, wobei das Scrolling das Casinospiel imitiert: Nur noch ein bisschen weiterscrollen, dann erwischst du das große Los, tütest die großen News ein, erwartet dich der Witz des Tages. Gerade die ungewisse Belohnung ist verführerisch. Irgendwann weiß der User gar nicht mehr, was er sucht, sondern wischt rum und klickt, likt und scrollt. Der unendliche Unterhaltungsstrom ist dabei als Standardeinstellung programmiert, Net­flix spielt die nächste Episode automatisch ab, durch Benachrichtigungen, Empfehlungen, Eilmeldungen erstreckt sich das Surfen zum nimmer enden wollenden Erlebnis. Wer im Unterhaltungsstrom des Internet badet, scheint sich auch in einer Art Zone zu befinden, die jener des Glücksspiels nicht unähnlich ist. Wer sich nach Gegenwartsflucht sehnt, kann auf Knopfdruck in sie eintauchen. Vor allem Snapchat spielt mit Anreizen, die jenen Sog der Glückspielmaschinen imitieren: Mit jedem Schnappschuss werden Punkte und Trophäen verliehen. Wer zu lange aussteigt, verliert die akkumulierten Punkte und muss sie wieder von vorn ansammeln.

Der Netzwerkeffekt und die Sofort-Kultur

Hinzu kommt der Netzwerk-Effekt: Je mehr Bekannte einen Dienst nutzen, desto beliebter wird er und desto eher steigt die Erwartungshaltung an Einzelne, den Dienst ebenfalls zu nutzen. Laut BEE SECURE nutzen 75 Prozent der luxemburgischen Bevölkerung Facebook, gefolgt von Instagram mit 33 Prozent – dies ungeachtet des Alters.3 Bei Jugendlichen dürfen WhatsApp und der Fotodienst Snapchat auf keinem Handy fehlen.

Laut Roberto Simanowski begünstigt das Smartphone eine Sofort-Kultur. So würden illegale Downloads nicht unbedingt deshalb getätigt werden, weil User zu geizig seien, um für Produkte zu zahlen, sondern viel eher noch, weil Online-Piraten es nicht abwarten können, bis beispielsweise ein Film im Kino erscheint. Dieser Jetzt-Drang weite sich auch zunehmend auf zwischenmenschliche Beziehungen aus. Wer hat nicht schon einmal ein Gespräch mit jemandem geführt, der durch das Gewische auf dem Handy den Redefluss ins Stocken brachte? Genau das stört angeblich die meisten, aber kaum jemand will davon ablassen: 82 Prozent der befragten Amerikaner gaben in einer Umfrage an, dass Handynutzung schädlich für soziale Interaktionen sei. 89 Prozent der Studienteilnehmer gaben allerdings zu, in sozialen Situationen ihre Finger nicht vom Handy lassen zu können.4

Was das in Fleisch und Blut bedeutet, erläutert der Journalist Christian Honey folgendermaßen: „Neulich tapste mein 18 Monate alter Sohn im Wohnzimmer auf mich zu und streckte mir strahlend ein Kinderbüchlein entgegen. Er wollte wohl, dass ich ihm etwas über die Tiere darin erzähle. Ich aber bekam davon nichts mit. Denn ich war versunken, verschwunden, verloren in den Untiefen einer Twitter-Debatte – auf meinem Smartphone. Erst als meine Frau sagte: ‚Jetzt schau doch mal! Da will dir jemand was zeigen‘, schaute ich hoch. Und schämte mich: Wie konnte ich meinen Sohn für mein Telefon übersehen?“5

In Zeiten des physical distancing brauchen wir Smartphones und Co. jedoch, um soziale Nähe zu Personen herzustellen, mit denen wir nicht zusammenwohnen, aber auch zu jenen, die wir vielleicht nicht einmal kennen, mit denen wir jedoch ein gemeinsames Schicksal teilen; kurzum: der ganzen Menschheit. Denn das Coronavirus zeigt uns: Vor dem Virus sind wir alle Menschen, unabhängig unserer Nationalität. Dennoch gilt auch in Coronazeiten: Das Internet ist, was die Menschheit daraus macht.

Jugendliche: nachts bis zu 200 Nachrichten

Besonders beliebt ist das Smartphone bei Luxemburgs Jugendlichen: Laut einer TNS-Ilres Umfrage können sich 38 Prozent der 16-24-Jährigen nicht vorstellen, zwei Tage ohne mobiles Internet zu leben. Ein kleiner Wermutstropfen: Mit dem Alter steigt immerhin die Bereitschaft, es wegzulegen.6 Und es liegen weitere Zahlen zum Umgang mit dem allgegenwärtigen Internet vor, zumindest was die Digital Natives betrifft. Während eines BEE SECURE-Coachings gaben zwei Drittel der Schüler einer Schulklasse an, das Smartphone oder Tablet nach 23 Uhr noch einmal heimlich in die Hand zu nehmen. Und tatsächlich würden besonders nachts eine Menge Nachrichten über die diversen Kommunikationsplattformen hineinflattern. So hielt einer der BEE SECURE-Trainer in seinen Notizen fest: „Die Zahl der Nachrichten von Abend bis zum frühen Morgen betrug bei manchen Schülern 50-200. Mädchen bekamen insgesamt viel mehr Nachrichten als Jungs. Generell bleibt bei den Schülern der Eindruck, dass sie ‚viel zu viele Nachrichten‘ erhalten.“7 Herausforderung für viele Schüler bleibt überdies, dass Freunde „peinliche Fotos“ posten, die „man aushalten muss“8. Hinzu kommt, dass viele Jugendliche YouTube-Stars nacheifern. Das Prinzip der geschickt platzierten Schleichwerbung identifizieren die meisten jungen Schüler aber kaum. Ob die Lobeshymnen auf Produkte tatsächlich persönlichen Empfehlungen entsprechen oder doch nur von den im Hintergrund agierenden Geldbeuteln gelenkt werden, soll man denn auch möglichst nicht erkennen können.

Roberto Simanowski geht in seinem Medien-Pessimismus jedoch noch weiter. Die Selfie- und Instagramsucht führe dem Medientheoretiker zufolge in „die mechanische Reproduktion von Realität ohne deren sinnliche Wahrnehmung“9. Er lehnt die These der Emotionssteigerung durch geteilte Erfahrung per Smartphone ab: Fotografieren heißt für ihn, das Sehen und Fühlen ans Smartphone zu delegieren. Statt Orte und Situationen bewusst zu verarbeiten, mache man ein Foto. Simanowski zufolge habe die Versprachlichung aber Vorrang vor dem visuellen Festhalten: Man könne etwas als Foto zeigen, ohne es gesehen zu haben, jedoch nicht „etwas beschreiben, ohne es gedacht zu haben“10. 3,5 Millionen Snaps werden täglich weltweit verschickt, auf Instagram mehr als 100 Millionen Beiträge täglich hochgeladen. Dabei sind es nicht mehr nur Fotos, sondern zunehmend Videos, deren Anzahl sich 2019 zum Vorjahr vervierfacht hat.11

Raubbau an Mensch und Natur

Internetsucht ist nur eine der Nebenwirkungen von schlecht gebauten Digi-Plattformen. Die 100 Millionen Beiträge, die täglich auf Instagram hochgeladen werden, setzen Server voraus, die diese Mengen an Bildmaterial verarbeiten können. Das Internet ist nicht nur virtuell, es ist auch materiell; auf Erden realisierter Monismus: Metaphysik und Physik verschränken sich in der Online-Sphäre. Dennoch wird die Digitalisierung zuweilen als Zauberformel für die Probleme des Klimawandels angepriesen. Den Zahlen nach zu urteilen, könnte sich die Zauberformel von heute allerdings als Problem von morgen entpuppen. Der Medientheoretiker Matteo Pasquinelli schreibt in seinem Essay Der Automaton des Anthropozäns, der Datenkapitalismus sei stets auf die Datensteigerung angewiesen, sie ist der Treibstoff des Geschäftsmodells.12 Je mehr Daten ausgequetscht, verarbeitet und generiert werden, desto mehr Ressourcen verbrauchen die Server. Es handele sich um ein gefräßiges System, das auf Steigerung angewiesen ist, da Mehrwert nur entstehen kann, wenn die bereits vorhandene Datenmenge überschritten ist und neues Material angeboten werden kann. Letztlich finde ein Raubbau sowohl an der Natur als auch am Menschen statt. Die Nomophobie also lohnt sich, zumindest für die Unternehmen.

Wer aus dem Smartphone-Glücksspiel aussteigen will, kann sich ein Light-Phone beschaffen. „Designed to be used as little as possible“ und „a phone for humans“ versprechen die Macher auf ihrer Internetseite. Es handelt sich um ein Steinzeittelefon, das auf seine basischen Funktionen abgespeckt wurde. Mittlerweile ist eine zweite Version auf dem Markt, die vor der Produktion auf der IT-Seite Golem angekündigt wurde: „Mit dem Light Phone 2 will das Startup Light ein Mobiltelefon schaffen, das den Nutzer vom Stress sozialer Medien, E-Mails und Messenger fernhält.“13 Bemerkenswert ist, dass das Unternehmen Smartphones nicht ablösen möchte, sondern ein Produkt entwickelt hat, das neben dem Smartphone verwendet werden soll. Dementsprechend lesen wir auf Golem: „Das Telefon soll User dazu bringen, ihr Smartphone auch mal zu Hause zu lassen.“14 Ein interessantes Erlösungsprinzip: Man zahlt also zunächst für jede Menge Apps, um sich dann davon freizukaufen. Das Smartphone spukt im Hintergrund herum, damit der Einzelne nicht vergisst, wovon er sich freikauft. Wer sich kein Light-Phone anschaffen will, kann sich mit der WasteNoTime-App gelegentlich den Wlan-Saft abdrehen lassen.

Das Internet könnte eine tolle Sache sein. Durch die Smartphoneisierung der Welt, die einen zwanghaften Umgang mit sozialen Medien und einen beschleunigten Datenraubbau von kapitalkräftigen Privatunternehmen begünstigt, gerät diese rezente Erfindung allerdings zusehends in Verruf. Aber paradoxerweise öffnet das asoziale Coronavirus eine Tür, um das Internet zu resozialisieren: Tracing zwingt die Politik dazu, zügig über Datenschutz nachzudenken.

  1. Wer oder was ein Mensch, User, Forscher und Internetnutzer ist, muss jeder Leser mit sich selbst abklären. Der Internetnutzer kann eine Frau, ein Mann oder vielleicht beides sein; minderjährig oder volljährig, Albino, schwarz, weiß, geringverdienend oder Milliardär, körperlich und geistig beeinträchtigt oder auch nicht – denken Sie kurz an die Diversität der unterschiedlichen Bewusstseinsformen, die diese Welt bewohnen. Der Lesbarkeit halber werden diese Fragen im Rahmen des vorliegenden Textes nur einmal verhandelt.
  2. Natasha Dow Schüll, Addiction by Design. Machine Gambling in Las Vegas, Princeton, Princeton University Press, 2012.
  3. http://www.land.lu/page/article/338/336338/FRE/index.html (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden am 22. April 2020 zuletzt aufgerufen).
  4. https://www.pewinternet.org/2015/08/26/americans-views-on-mobile-etiquette
  5. https://www.zeit.de/digital/mobil/2018-04/smartphone-abhaengigkeit-handysucht-unterschied
  6. https://www.tns-ilres.com/news/questions-du-mois/sans-smartphone-durant-48-heures/
  7. https://www.bee-secure.lu/de/publikation/feedback-kompakt-eindruecke-aus-den-bee-secure-schulungen-2017-2018, S. 13. Die Beobachtungen basieren auf dem Austausch der BEE SECURE-Mitarbeiter und den Schulklassen im Jahr 2017/18.
  8. Ebd. S. 9.
  9. Roberto Simanowski, Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien, Berlin, Matthes & Seitz, 2017, S. 94.
  10. Ebd.
  11. https://de.statista.com/themen/2506/instagram; https://www.omnicoreagency.com/instagram-statistics; https://www.pewinternet.org/2015/08/26/americans-views-on-mobile-etiquette
  12. https://www.academia.edu/25459844/The_Automaton_of_the_Anthropocene_On_Carbosilicon_Machines
  13. https://www.golem.de/news/light-phone-2-das-mobiltelefon-fuer-abschalter-1803-133110.html
  14. Ebd.

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