So dunkel hier
Ein Gespräch mit der Autorin Elise Schmit über ihr Gustav Simon-Stück
Über den Tod Gustav Simons – des ehemaligen Gauleiters und Chefs der Zivilverwaltung Luxemburgs – ranken sich bis heute die wildesten Gerüchte. Während die offizielle Version lautet, dass der sogenannte „Giftpilz von Hermeskeil“ sich im Dezember 1945 in seiner Zelle in der Nähe von Paderborn erhängt haben soll, während er auf seine Auslieferung nach Luxemburg wartete, gibt es bis heute zahlreiche alternative Erzählungen in Luxemburg, in denen Simon ermordet wird. Die Autorin Elise Schmit ist mit diesen Simon-Erzählungen aufgewachsen und hat sie – in ihrem ersten Theaterstück – zum Gegenstand einer szenischen Auseinandersetzung gemacht. Wir haben Elise Schmit getroffen und mit ihr über die Simon-Erzählungen und ihre sinnstiftende Funktion für die luxemburgische Nachkriegsgesellschaft gesprochen.
forum: Elise, im Programmheft zur Inszenierung in neimënster liest man, dass du als Kind schon mit den Gerüchten um den Tod von Gustav Simon in Berührung gekommen bist und dass dich diese Erzählungen damals schon fasziniert haben. Kannst du die Atmosphäre beschreiben, wie das für ein Kind ist, das all diese Gerüchte über den Tod des Gauleiters hört? Wie das ist, wenn man als Kind dieses Munkeln und dieses Vomhörensagen vernimmt und diese Äußerungen: Ja, ich kenne jemanden, der war dabei. Oder: Ich kenne jemanden, der davon gehört hat von einem, der dabei war.
Elise Schmit: Kinder haben ja zu Verbrechen ein ganz anderes Verhältnis als Erwachsene, weil sie, glaube ich, nicht so sehr nach den Gründen fragen. Mord oder überhaupt Verbrechen sind für sie per se etwas Schlimmes, Böses, etwas, was nicht passieren darf. Höchstens im Märchen, im fiktionalen Kontext. Wenn jemand absolut böse ist, wie die böse Hexe, dann wirkt ein Mord für Kinder als gerechtfertigt. Ich glaube, dass das so seltsam und irritierend an dieser Geschichte war, dass ein Mensch aus der wirklichen Welt als dermaßen böse vorgestellt wurde, dass der Mord gerechtfertigt war.
Hat das Kind Elise also mitbekommen, dass der mögliche Mord an Simon eine gute Tat war?
Ein Unbehagen scheint schon vorhanden gewesen zu sein. Es wurde immer entschuldigend hinzugefügt, dass man die Leute, die so wütend waren, eben verstehen müsse. Ich kann mich übrigens nicht erinnern, wann ich das erste Mal davon gehört habe. Diese Geschichten waren einfach da, immer schon. So wie diese Figur Gustav Simon einfach da war. Als Kind wusste man, der gehört zu den absolut Bösen. So wie Hitler oder Saddam Hussein. Die waren für mich als Kind Verkörperungen des Bösen.
Ich weiß, dass du schon vor vielen Jahren angefangen hast, an diesem Stück zu schreiben. Haben dich die Simon-Geschichten dein Leben lang begleitet? Oder gab es irgendwann eine Initialzündung, sodass du gesagt hast, jetzt mache ich was damit?
In Luxemburg haben viele Familien eine Kriegsgeschichte. In unserer Familie war das vor allem eine meiner Großmütter, die viel mit uns über den Krieg gesprochen hat. Sie hat ihre Jugend im Krieg verbracht, und sie hat bis zu ihrem Lebensende immer wieder von ihren Erfahrungen gesprochen. Wir kannten diese Geschichten bis aufs Wort. Die haben sich auch nicht verändert, die wurden immer wortgleich erzählt.
Und doch gab es einen besonderen Moment, eine Initialzündung, wie du eben sagtest. An der Uni gab es so einen Moment. Da hat André Heller, den ich oft schwierig finde, seinen Dokumentarfilm über Hitlers Sekretärin Traudl Junge vorgestellt: Im toten Winkel. Heller filmt Traudl Junge dabei, wie sie erzählt, wie sie zu Hitler kam, wie sie die Arbeit über die Jahre erlebt hat und wie sie bis zum Schluss im „Führerbunker“ bei ihm geblieben ist. Sie war eine der letzten Personen, die den Bunker verlassen hat. Das Interessante an dem Film ist, dass Heller diese Frau drei Monate nach den ersten Filmaufnahmen mit ihren Aussagen konfrontiert hat. Er hat ihr die Aufnahmen gezeigt und sie dann noch einmal gefilmt. Und da sitzt sie und kommentiert sich selbst. Bei den ersten Aufnahmen ist sie sehr zurechtgemacht. Sie spricht sehr klar, bildet ganze Sätze, alles wirkt so, als hätte sie sich jahrelang darauf vorbereitet, diese Geschichte zu erzählen. Und dann sitzt sie drei Monate später da, mit zerzaustem Haar, ganz aufgeregt, und sagt die ganze Zeit: So und so war das aber nicht. Sie korrigiert sich permanent, sie dekonstruiert ihre eigene Erzählung. Dieser Film hat mich sehr aufgewühlt und ich habe sehr lange darüber nachgedacht. Und ich fand es beeindruckend, wie eine Frau innerhalb von drei Monaten ihre eigene Geschichte, mit der sie durch die Filmaufnahme konfrontiert wird, in Frage stellt und neu erzählt, auch wie persönlich und menschlich der Blickwinkel ist. Von dort kam ich auf die Erzählungen von Gustav Simons Tod, die vielen Alternativen seines Todes, und habe mich gefragt, ob es nicht einen Blickwinkel gibt, aus dem sich dieser Todesfall plausibler – eben auch menschlich nachvollziehbarer – erzählen lässt.
„Unser Strick muss es sein“
Das, was du über Traudl Junge erzählst, erinnert an Versuche von Schriftsteller*innen, ihr Leben mittels verschiedener Autobiografien neu zu schreiben. Klaus Mann etwa hat drei verschiedene geschrieben. Und so ist das ja auch bei Kollektiven, also Kollektive schreiben sich auch immer wieder neu. Und genau das zeigst du in deinem Stück: Da entstehen Erzählungen, die konkurrieren, sich ablösen, gleichzeitig existieren. Was für eine Funktion erfüllten die Erzählungen über den Tod von Gustav Simon für die luxemburgische Gesellschaft?
Im Stück lasse ich den luxemburgischen Justizminister Victor Bodson sagen: „Unser Strick muss es sein.“ Ich glaube, dass der Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit das auslösende Moment war. Die Luxemburger Bevölkerung wünschte sich, selbst die Strafe ausführen zu können. Die Version, dass Simon sich selbst getötet hatte, war so, als hätte man ihnen etwas weggenommen. Hanns Alexander, der Simon nach Kriegsende in seinem westfälischen Versteck aufgespürt hatte, sagte zwar laut Presseberichten, ihm tue es leid, dass er Gustav Simon nicht lebendig habe nach Luxemburg bringen können, aber Simon habe ja letztendlich den Strick bekommen, den er verdient habe. Aber so funktioniert das nicht, so funktioniert Bestrafung nicht. Es reichte nicht aus, dass der Gauleiter tot war. Die Luxemburger wollten die Urheber dieser Strafe sein. Der offizielle Bericht ließ den Tod Simons eher wie eine Erlösung wirken. Ich denke, dass das einer der Gründe ist, warum sich alternative Versionen verbreitet haben.
Ich habe verschiedene Geschichten zu Simons Tod von unterschiedlichen Leuten gehört und gelesen, und bei allen gab es diverse Zusätze, Ergänzungen, jeder berief sich auf angeblich verlässliche Quellen. „Ich kenne jemanden, der dabei gewesen ist, ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der dabei gewesen ist“, und so weiter. Die persönliche Beteiligung wurde immer hervorgehoben. Das hat mich stutzig gemacht. Warum will jemand an einem Mord beteiligt gewesen sein oder jemanden kennen, der daran beteiligt war?
Vielleicht, weil man es nicht ertragen hat – du hast es eben angesprochen –, dass Simon sich selbst das Leben genommen hat. Denn wenn man selbst ihn getötet hätte, wäre das auch eine Art symbolische Wiedergutmachung für die dunkle Seite Luxemburgs während der Besatzung gewesen, für die Kollaboration.
In den Diskursen um 1945 wurde die Kollaboration nicht als Teil des luxemburgischen Selbstverständnisses thematisiert. Für uns heute aber ist sie wichtig. Seit dem Artuso-Bericht reden wir in Luxemburg offener über die luxemburgische Beteiligung.
Warum ist in deinen Augen das Theater der richtige Ort, um sich mit dem Simon-Stoff auseinanderzusetzen? Was kann das Theater, was die Prosa oder erst recht die Geschichtswissenschaft nicht kann?
Die Faktenlage zu Simons Tod ist so dünn, dass es sehr schwer ist, zu beweisen, dass eine Version der Geschichte stimmt. Man ist von vornherein auf Spekulationen angewiesen, und damit ist man ja schon im Bereich des Geschichtenerzählens und nicht nur der Geschichte. Warum Theater? Es schien mir relativ früh wichtig zu sein, verschiedene Positionen gegeneinander stellen zu können, sie aufeinander loszulassen. Im Stück geht es um Schuld, und dafür ist die Tragödie natürlich prädestiniert, für das Unschuldig-schuldig-sein. Wer ist überhaupt schuldig? Und woran trägt er Schuld? Darum geht es eigentlich die ganze Zeit: um Schuld, Bestrafung und Vergeltung.
Das Spiel mit den Narrativen
Dieses Diffuse der verschiedenen Simon-Narrative, die aufeinandertreffen, findet sich ja in der Struktur deines Textes wieder. Es gibt vier Monologe, die, so die Regieanweisung, keinen fest von dir vorgesehenen Platz haben. Auch ermunterst du dazu, bestimmte Dialoge wahlweise nacheinander oder versetzt inszenieren zu lassen.
Richtig. Jede*r Regisseur*in soll mit den Schauspieler*innen selbst überlegen, wo in ihrer Inszenierung die Monologe Sinn ergeben. Dadurch erzählen sie die Geschichte auf eine bestimmte Art und Weise, die sich von Inszenierung zu Inszenierung ändern kann. Bei der Uraufführung in der Regie von Anne Simon wird am Ende der ehemalige Bürgermeister der Stadt Luxemburg, Richard Hengst, herausgestellt, der dann auch noch im hohen Alter im Nachkriegsdeutschland geehrt wird für seine vielen Verdienste um das Gemeinwohl; das hat natürlich eine sehr bittere Note zum Schluss eines solchen Stücks. In einer deutschen Aufführung wäre das eine Anklage ans Publikum: Seht her, wie ihr nach dem Krieg mit diesem Verbrecher umgegangen seid! Aber so muss man das nicht machen. Man hätte auch genauso gut mit einem ganz anderen Ausblick aufhören können, mit Léone Muller etwa, die im Auftrag der Alliierten luxemburgische Häftlinge aus ausländischen Lagern zurück nach Luxemburg brachte und die im Stück, gemeinsam mit Hanns Alexander, den beiden Nazis Hengst und Simon gegenübergestellt ist. Es wäre als Pointe des Stücks nicht weniger gültig gewesen.
Wenn man so will, versammelst du in deinem Stück kleine Narrative: die Simon-Gerüchte. Durch das Kompilieren zu einem Text schreibst du aber selbst ein neues Narrativ: das der Narrativ-Diversität. Und das wiederum kann dann von jeder*m Regisseur*in ganz neu zusammengesetzt werden.
Ja, das muss auch so sein; alles andere wäre mir zuwider. Ich möchte auch als Zuschauerin nicht, dass das Theater mich erzieht. Das Stück behandelt ein sehr moralisches Thema, und die Konflikte betreffen ethische Fragen. Ich mag es nicht, wenn das Theater mir versucht zu sagen, was ich denken oder was ich tun soll. Hier lehne ich Brecht, so gern ich ihn lese, wirklich ab, die Idee, dass man als Theaterautor*in oder als Regisseur*in als Pädagoge*in vor das Publikum tritt. Ich möchte nicht einmal die Schauspieler*innen so bevormundend behandeln. Insofern hat mir das gut gefallen, dass sich Anne Simon und das ganze Team den Text so zu eigen gemacht haben. Sie haben auch ziemlich viel darin geschnitten, was auch gut ist, weil es das erste Stück ist, das ich geschrieben habe. Vielleicht war es zu lang, nicht so aus einem Guss, wie mir lieb gewesen wäre. Ich war dankbar für die Bearbeitung durch die Kompanie der Uraufführung. Ich begreife literarische Erzeugnisse als Diskursangebote. Und wenn schon nicht Diskurs-, dann wenigstens als Diskussionsangebote. Und das bringt ja nur etwas, wenn jemand darauf reagiert, zunächst die Menschen, die den Text auf die Bühne bringen, und anschließend das Publikum.
Das ganze Stück ist als Angebot angelegt. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir richtig abgebogen sind“, heißt es nach jeder Simon-Episode erneut. Das sind also tastende Versuche, sich den Weg durch die Geschichte zu ebnen. Versuche, die von großer Unsicherheit geprägt sind. Wurde dein Diskussionsangebot bereits aufgenommen?
Wir haben in neimënster mehrfach vor ausverkauften Sitzen gespielt. Es gibt ein Interesse an diesen Fragen und an einer klaren Benennung; das beruhigt mich. In Zeitzeugenberichten und selbst im wissenschaftlichen Umgang damit wurden Identitäten oft verschleiert. Man kann auch an Golo Mann denken, der Hitler immer nur mit „H.“ bezeichnet hat. Ich verstehe die psychologische Notwendigkeit von Verdrängung, aber für die Nachkommenschaft ist sie nicht zu gebrauchen. Gerade nach dem Artuso-Bericht ist hier in Luxemburg einfach viel passiert: ob in Ausstellungen oder öffentlichen Debatten. Ich empfand es so, dass nun ein guter Zeitpunkt wäre für mein Stück mit diesem ganz spezifischen, sehr luxemburgischen Stoff. In meinen Augen ist der Tod Simons ein Ursprungsmythos der demokratischen Gesellschaft, wie wir sie heute haben. Und diese Verbindung ist noch längst nicht aufgearbeitet. Ich dachte mir: Ich mache mal ein Angebot.
Der Tod des Tyrannen
Ich musste auch an eine Art Ursprungsmythos denken, als ich das Stück sah, konkreter: Es hat mich an den Vatermord erinnert. Der Vatermord musste sein. Den wollte man sich nicht nehmen lassen dadurch, dass der Vater Selbstmord begeht. Nur durch den Mord am Gauleiter konnte eine neue, unschuldige, demokratische Gesellschaft entstehen.
Du hast vorhin gefragt, wodurch das Schreiben des Stückes letztendlich ausgelöst wurde. Und die Heller-Episode war tatsächlich wichtig, aber initial war, glaube ich, als ich 2011 ein Foto des schwer verletzten, vielleicht sogar bereits getöteten al-Gaddafi sah. Da musste ich plötzlich wieder ganz viel über Gustav Simon nachdenken. Die Frage nach den Chancen des Arabischen Frühlings stellten sich, eine neue Zeit schien möglich. Da musste man auch entscheiden, wie man mit dem Tyrannen umgehen sollte. Mir schien, als habe man es nicht abwarten können, diese Person vor Gericht zu stellen; er musste direkt gerichtet werden, als hätte noch etwas schief gehen können. Als müsste das so sein, dass er zur Strecke gebracht wurde wie ein Tier.
Glaubst du, dass in der Hoffnung, mit dem Mord des bösen Vaters, des Tyrannen, des „Teufels“, Geschichte in eine richtige Richtung zu lenken, auch eine Gefahr bestehen kann? Die Gefahr nämlich, dass man historische Strukturzusammenhänge allzu sehr personalisiert? Du hast eben Golo Mann erwähnt, der nur noch „H.“ statt Hitler geschrieben hat. Es gibt Bücher, da taucht Hitler im Personenregister nicht auf, selbst wenn er im Buch vorkommt. Erliegt man dabei aber nicht der Illusion, dass durch den echten oder den symbolischen Tyrannenmord schon alles wieder ins Lot komme? Oder noch zugespitzter gefragt: Vergisst man dabei nicht die Strukturen, die Geschichte ausmachen – etwa Mentalitätsstrukturen –, wenn man das Böse so personalisiert und dämonisiert und damit ja auch externalisiert?
Absolut, das sieht man überall. Wer Schuld auf Einzelne überträgt und diese dann auslöscht, hat für sich selbst reinen Tisch gemacht. Aber die strukturellen Gründe für das Böse sind damit nicht automatisch verschwunden. Jeder, der im Nationalsozialismus gehandelt hat, hat in einem System gehandelt. In einem System, das durch Strukturen ideologischer, ökonomischer und herrschaftspolitischer Art geordnet war. Auch durch die Verurteilung und Hinrichtung von führenden Repräsentanten dieses Systems im Zuge der Nürnberger Prozesse etwa wurden diese Strukturen ja nicht von einem Tag auf den anderen getilgt. Demokratisierung, Entnazifizierung, Mentalitätswandel – sowas geschieht nicht über Nacht. Alle persönlichen Handlungsziele von Individuen waren im Nationalsozialismus – und sind es immer – in systematische Prozesse und Strukturen eingebunden. Und was macht dann ein Nazi, der eben nicht von diesen inkorporierten Strukturen loslassen kann?
In diesem Sinn kann man das Stück auf zwei Ebenen lesen. Man kann einmal sagen: Der Simon muss immer wieder sterben. Immer wieder. Er erfährt so viele Tode in deinem Stück, dass es einem eine Genugtuung bereiten kann. Man kann aber auch sagen: Der kommt ja immer wieder zurück. Der ist jetzt zwar gerade gestorben, aber nun ist er ja schon wieder da. Der geht nicht unter. Und in dem Sinne wäre das Stück auch eine Warnung. Das Böse kann immer wiederkehren.
Schon. Im Stück ist es natürlich auch so, dass gerade das Geschichtenerzählen Simon am Leben hält, und zwar dadurch, dass wir immer wieder neue Versionen erfinden, wie und wo und warum er ums Leben gekommen sein könnte. Dadurch wird er ja eben als dieser Dämon im allgemeinen Bewusstsein gehalten.
Nie vergessen, das ist ja auch die zentrale Lehre, die, auch wenn es immer einige anders gesehen haben, wir aus dem Holocaust gezogen haben. Nie vergessen, damit es nie wieder geschieht. Aber es wurde vergessen, und es wurde verdrängt. Man denke an die Karriere von Richard Hengst, mit dem Anne Simon die Inszenierung enden lässt.
Irgendwann habe ich dieses Altenheim ausfindig gemacht, das nach Hengst benannt wurde und das immer noch nach ihm heißt. Und dann habe ich die Heimleitung angeschrieben und die haben mich an eine ehemalige Krankenschwester verwiesen, die Richard Hengst noch persönlich kennengelernt hatte. Die hat mir dann geschrieben, was für ein netter Mensch und feiner Mann Hengst gewesen sei. Und nun solle man doch die Vergangenheit bitte mal ruhen lassen.
Unfassbar.
Nun, er war Beamter. Er hat keine Erschießungsbefehle gegeben. Er wurde entnazifiziert. Es gibt Zeitungsberichte über seinen Agieren vor Gericht in Luxemburg, die seinen Auftritt als arroganter Studienrat beschreiben, der alle wissen lasse, dass er etwas Besseres sei. Der Historiker Paul Dostert hat einmal zu mir gesagt, für ihn sei Richard Hengst ein gefährlicherer Nazi als Simon gewesen, weil er auf Manipulation gesetzt habe, weil er dachte, er könne die deutsche Kultur in Luxemburg durchsetzen. Er hat auf eine Zermürbungstaktik gesetzt. Das hätte funktionieren können; als er Bürgermeister der Stadt Luxemburg war, da war ein Ende des Krieges alles andere als absehbar. Und was wäre gewesen, wenn der Zweite Weltkrieg nicht sechs, sondern zehn Jahre gedauert hätte? Das sind interessante Fragen, finde ich. Anne Simon hat mir von Anfang an gesagt, Hengst sei der Schlüssel zur Handlung.
Wahrheit, Geschichte und Erzählung
Nochmal zur Pluralität der Narrative, zum Spiel mit den Gerüchten: Die Wahrheit hat dich gar nicht interessiert, oder? Dir ging es um die Narrative?
Doch, schon. Die Suche nach der Wahrheit stand am Anfang, mit einer Haltung, die ich heute als naiv bezeichnen würde. Irgendwann im Laufe der Recherchen wurde mir aber bewusst, wie uninteressant die Frage nach den tatsächlichen Ereignissen ist. Es ist vermutlich nicht ganz verkehrt, was ich mir zusammengereimt habe, aber trotzdem bleibt mein Text Spekulation, weil es keine Dokumente gibt, mit denen sich eine hundertprozentige Wahrheit rekonstruieren ließe. Es gibt keine Fotos, keine sicheren Textquellen.
Glaubst du, es würde für die kollektive Identität, wenn es sowas gibt, der Luxemburger*innen ein Problem darstellen, wenn man felsenfest beweisen könnte, dass Simon sich wirklich selbst erhängt hätte?
Das kann man nicht, vermutlich nicht ohne Grund. Und deshalb halten alle so verbissen an ihrer jeweiligen alternativen Erzählung fest.
Findest du das schön, oder findest du das gruselig?
Dass es alternative Erzählungen gibt? Weder noch. Ich finde es interessant. Ich finde es auch interessant, dass neben der offiziellen eine inoffizielle Geschichtsschreibung ohne Geschichte entsteht. Und selbst die offizielle Geschichtsschreibung muss ja rekonstruieren. Bei Heidegger gibt es den begrifflichen Unterschied zwischen Historie und Geschichte: Historie ist das, was faktisch passiert, was aber als solches unzugänglich ist. Die Geschichte ist das, was noch von Belang ist und auf uns kommt. Und das kann mehrere Formen annehmen. Die Geschichtsschreibung bietet Rekonstruktionen an, nicht das, was wirklich passiert ist – und auch ich wähle aus und rekonstruiere, wenn auch nach anderen Kriterien. Ich bin nicht fair. Ich bin auch nicht in allen Belangen akkurat. So oder so ähnlich verfahren Individuen und Kollektive, die sich einen Reim auf ihre Welt machen wollen. Das merkt man ja jetzt auch mit Corona. Wo kommt das Virus her? Schon gibt es diese Erzählung vom Virus, das aus dem Labor irgendwie herausgetragen wurde. Das ist so eine attraktive Lösung für das Problem, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass sie keinen Bestand haben wird.
Die könnte auch geopolitisch sehr gefährliche Folgen haben, wenn sie sich durchsetzt. Während die alternativen Erzählungen zu Gustav Simon sehr konstruktive Folgen hatten: Sie haben das Nachkriegsluxemburg konstituiert.
Das Thema Selbstjustiz ist ja nicht groß thematisiert worden. Und das wurde weitgehend akzeptiert. Es stellt sich aber die Frage: Wenn man einen neuen Wertekanon etablieren oder einen alten wiederherstellen will, darf man dann in einer Übergangsphase die alten oder neuen Werte aussetzen? Ich denke, man kann diese Fragen nur sinnvoll stellen, indem man nicht moralisiert. Das war überhaupt die schwierigste Aufgabe für mich: über Moral zu schreiben, ohne zu moralisieren.
Und das ist dir gelungen. Vielen Dank, Elise, für dieses Gespräch.
(Das Gespräch fand am 14. Juni 2021 statt, die Fragen stellte HM.)
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