„So viel Staat wie nötig, so wenig Staat wie möglich.“ Jahrzehntelang gehörte der Spruch zum rhetorischen Standardrepertoire von Liberalen aller Schattierungen. Den einen ging es dabei um ungehindertes Wirtschaften und Wertschöpfen, den anderen um Menschen- und Bürgerrechte. Allen gemein war ein grundlegendes Misstrauen gegenüber dem Staat, jenem natürlichen Feind der individuellen Freiheit, der vor allem zwei Dinge im Schilde führt: Enteignen und Umverteilen, Drangsalieren und Überwachen. Der Staat als anonymes, bürokratisches, geldverschlingendes, ineffizientes Ungeheuer, als genetisch mutierter Leviathan.
Sah Thomas Hobbes, Autor des gleichnamigen Standardwerks von 1651, im Staat noch den einzig denkbaren, sozialvertraglich verbrieften Garanten für ein zivilisiertes Miteinander, reklamierten Liberale und Libertäre im 20. Jahrhundert dessen Rückbau auf das absolute Minimum, d. h. auf strikt hoheitliche Aufgaben, die nicht auf private Träger übertragbar sind: 1) äußere Sicherheit; 2) innere Sicherheit und öffentliche Ordnung; 3) Rechtsetzung und Rechtsprechung; 4) Haushaltshoheit; 5) Währungsmonopol. Doch selbst bei diesen fonctions régaliennes werden je nach Opportunität Ausnahmen oder Aufweichungen in Kauf genommen, etwa in Form von privaten Söldnerarmeen, Sicherheitsdiensten oder Schiedsgerichten.
Unter Diktator Pinochet in Chile wurde das marktfundamentalistische Konzept des schlanken Staates ab 1973 in die Praxis umgesetzt, um dann mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan in den 1980er Jahren unter dem Motto „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“ seinen Siegeszug um die Welt anzutreten. Spätestens um die Jahrtausendwende hatte das Virus mit seinen Proteinen Privatisierung und Deregulierung auch die Sozialdemokratie angesteckt.
Schon in der Weltfinanzkrise vor einem Jahrzehnt sprachen viele vom epochalen Comeback des lange verpönten Staates. In Wirklichkeit aber ging es „nur“ um die billionenschwere Rettung der als systemrelevant betrachteten Banken. Zwar richtete die Eurozone darob Frühwarn- und Schutzmechanismen ein, doch bald übernahmen die „Märkte“ (wer ist das eigentlich?) wieder das Ruder. Woraufhin sich in der Schuldenkrise insbesondere die südeuropäischen Staaten gezwungen sahen, ihre Sozial- und Gesundheitssysteme bis auf das Knochengerüst abzubauen.
Seit Anfang März 2020 erleben wir einen historischen (oder erneut vorübergehenden?) Paradigmenwechsel. Mit dem Coronavirus hat sich die eingangs zitierte Devise urplötzlich in ihr faktisches Gegenteil verkehrt. Unausgesprochen heißt es jetzt, mit einer endlosen Reihe Ausrufezeichen: „So viel Staat wie möglich!“ Flehten unsere im 17. Jahrhundert von der Pest heimgesuchten Vorväter noch zur Trösterin der Betrübten, fliehen wir neuerdings unter Schutz und Schirm des vermeintlich allmächtigen Staates. Ohne Murren akzeptieren wir Beschneidungen elementarster Grundrechte, halten es uns als staatsbürgerliche Tugend zugute, wie Kleinkinder bevormundet zu werden. Das Vertrauen in die Politik und die sie umringende Expertenzunft der Virologen und Epidemiologen erscheint grenzenlos.
Auch die Wirtschaft hat die existenzielle 180-Grad-Kehrtwende in Rekordzeit vollzogen, fordert mit einem beherzten „Whatever it takes“ die Öffnung der Schleusentore, auf dass eine nie dagewesene Geldflut Kapital und Arbeit vor dem drohenden Generalkollaps rette. Schwarze Null, Schuldenbremse, Konvergenzkriterien, monetäre Orthodoxie… es geht um die Wurst, also weg mit dem lästigen Korsett!
Das alles scheint nicht nur, sondern ist fürs Erste vernünftig, gut und richtig. Dennoch sind auch wir, die Privilegierten jener Länder, deren Gesundheitsversorgung zu den weltweit besten zählt, schon nach wenigen Tagen mit gravierenden Problemen konfrontiert, die unseren Glauben, wir seien die Hauptnutznießer eines globalisierten Wirtschaftssystems, das einzig auf ökonomische Ratio und maximalen Mehrwert getrimmt ist, endgültig Lügen strafen. Schmerzhaft erkennen wir, dass weder der am Gemeinwohl uninteressierte Markt noch der fürs Gemeinwohl verantwortliche Staat, der eindringliche Pandemiewarnungen aus der Wissenschaft über Jahre ignorierte, dafür Sorge trugen, dass z. B. jederzeit und allerorts genügend Schutzkittel und -masken für den sanitären Ernstfall bereitstehen.
Sofern der Staat, unser aller Leviathan, neben den hoheitsrechtlichen Prärogativen auch für die Daseinsvorsorge zuständig sein sollte, gilt es jetzt und nach der Katastrophe ernsthaft und auf breiter Ebene darüber nachzudenken, was es mit diesem Begriff in seiner potenziellen Breiten- und Tiefenwirkung überhaupt auf sich hat. Und ob dazu nicht auch so unorthodoxe, bis dato als Schnapsidee belächelte Dinge wie ein bedingungsloses Grundeinkommen zählen könnten.
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