Sozialdialog am Ende?

Der soziale Friede in Luxemburg unter der Lupe

Unter den Luxemburger Sozialpartnern rumort es seit langem. Black box, Dialog der Gehörlosen, Totengräberstimmung und unbedingte Wiederbelebung sind nur einige der Stichworte, die immer wieder auftauchen. Folgende Zeilen für und wider das sogenannte Luxemburger Sozialmodell versuchen sich in Aufklärung.

Als Ende 2013 die neue blau-rot-grüne Regierung den Mikrofonen anvertraute, die ins Stocken geratenen Tripartite-Verhandlungen neu zu beleben, misstrauten gewerkschaftliche Kreise der Koalitionsaussage. Dies taten sie umso mehr, als die Sparpolitik im Fokus der Dreierkoalition stand und der politische Wechsel mit einer deutlichen Präsenz von Effizienzspezialisten und Beratungsexperten einherging. Das Interesse an einer Wiederherstellung des Sozialdialogs flaute dann auch rasch ab, abgesehen von der vom neuen Kammerpräsidenten Mars Di Bartolomeo angebotenen Vermittlerrolle der Abgeordnetenkammer, die, ernsthaft erwogen, eine durchaus sonderliche Maßnahme gewesen wäre, hebelten doch die in der Tripartite getroffenen Entschlüsse regelmäßig die Entscheidungsautonomie des Parlaments aus. Solch ein laues Interesse spiegelt nach Wolfgang Streeck1 das Muster vieler Regierungen wider, eine Sparpolitik mit Sozialpakt einer ohne Sozialpakt vorzuziehen. Die Umstrukturierung des Wohlfahrtsstaates mit gewerkschaftlicher Zusammenarbeit sei attraktiver als ohne, wenn die grundlegenden Erfordernisse der Wirtschaftsliberalisierung nicht in Frage gestellt werden.

Nach der Schlappe der Regierung beim Referendum im Jahre 2015 ließ diese dann aber ein größeres Entgegenkommen in sozialen Fragen erkennen. In der wiederaufgenommenen Tripartite war es nun am Patronat, der im liberalen Elan geschwächten Regierung ihren Unmut und Unverständnis auszusprechen. Sie fühlten sich bei der angekündigten Reform des Arbeitszeitgesetzes von der Regierung verraten, weil diese eigenhändig den ihnen vorgestellten Kompromiss zugunsten der Arbeitnehmer verändert hätte. Der Dachverband aller Unternehmervereinigungen (UEL) forderte deshalb im Juni 2016 die Regierung auf, den Sozialpartnern Gesetzesvorentwürfe fortan nur getrennt zu unterbreiten. Sozialdialog auf Landesebene zu dritt sollte lediglich in wirtschaftlichen Krisensituationen geführt werden. Zu sehr „mediatisiert“2 sei die Tripartite geworden, was jedoch nicht für den ausdrücklich gelobten Sozialdialog auf betrieblicher Ebene gelte.

Vergleichbares hört man zurzeit wieder von der UEL. Im ständigen Beschäftigungsausschuss (CPTE) solle weiterhin ein Dialog geführt, aber nicht mehr verhandelt werden. Eine andere Methode solle her, effizienter und näher an der Realität. „Politisch motivierte arbeitsrechtliche Gespräche führt man besser zu zweit“, behauptet ihr Präsident Nicolas Buck.3 „Da wird nichts zu dritt verhandelt“. Und jene Themen, die zu dritt diskutiert werden dürfen, sollen vertraulich bleiben. Prompt organisieren die aufgebrachten Gewerkschaften ein Protestpiquet. Die Regierung bleibt stumm.

Fast könnte man meinen, das angebliche Liebäugeln der Regierung mit Arbeitnehmerpositionen über die letzten Jahre – andere sprechen vom Breittreten von punktuellen Sozialleistungen – wäre abgemacht gewesen: Die DP und insbesondere die Familienministerin Corinne Cahen konnten ihre Sozialkompetenz ins Schaufenster stellen, während sich der UEL zu guter Letzt ein Alibi bot, den Sozialdialog zu verlassen: „Wir werden gepiesackt und vorgeführt“4. Nicolas Buck verdeutlicht denn auch, dass durch die Schwächung der LSAP die Gewerkschaften wieder aufblühen könnten.5

Auf Betriebsebene aber soll der Dialog unangetastet bleiben. Für die Unternehmerseite ist hier das Kräfteverhältnis günstiger, die Gewerkschaften dagegen schätzen die Mitbestimmung, denn die sozialpartnerschaftliche Rhetorik ermöglicht es ihnen, sich als gleichberechtigte Partner wenn schon nicht zu fühlen, so doch zumindest nach außen hin und im Verhältnis zu ihren Mitgliedern darzustellen6.

Heikler Prozess

Die Ursachen, weshalb die Unternehmer heute verstärkt vom neo-korporatistischen Modell des Sozialdialogs abrücken, sind vielschichtig. Während bis in die Nuller Jahre die vor Ort lebenden Patronats- und Gewerkschaftsvertreter Virtuosen der horizontalen Organisierung des politischen Interessenausgleichs waren, sind die heutigen, meist international verankerten Unternehmer weniger am Verhandeln von Kompromissen interessiert, dafür aber umso mehr am Wettbewerb und an der Schöpfung und Abschöpfung von kommerziellen Werten.

Dabei benötigen Arbeitgeber im Gegensatz zu Gewerkschaften gar kein institutionalisiertes System der Arbeitsbeziehungen, wenn sie eine ernsthafte Rolle spielen wollen. Unternehmen können bei Bedarf ohne die Vermittlerrolle von Verbänden mit Regierungen verhandeln und Lobbyarbeit leisten. In der Tat mögen sie diese Art der Beeinflussung vorziehen, da es direkte Belohnungen für ein einzelnes Unternehmen in Form von Regierungsaufträgen bringen kann. Auf der Arbeitnehmerseite gibt es kein Äquivalent dazu. Die Marginalisierung und Kontraktion des Systems ist daher für Arbeitgeber immer eine Option.7

Auch nutzen die Arbeitgeber den Verlust an Rückhalt der Gewerkschaften in der Arbeitnehmerschaft. Gewerkschaften haben sich nur mit Mühe an die postmaterialistische Gesellschaftsveränderung und den Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft angepasst. Außerdem leiden sie daran, dass viele neue ausländische Arbeitskräfte den Gewerkschaften fernbleiben, weil der hochinstitutionalisierte luxemburgische Sozialdialog ihnen fremd ist. So ist der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten allein zwischen 2002 und 2012 um fast zehn Prozent gesunken.

Der Rückzug der Unternehmerverbände aus dem sozialpartnerschaftlichen Gremium ab dem Jahre 2010 hatte aber weitere Ursachen: Die hinter verschlossenen Türen verordnete Stille der Tripartite-Runden war durch die Offenlegung der Verhandlungspositionen gestört worden. Die Gewerkschaften fühlten sich nicht mehr an das Stillhalteabkommen gebunden. Die Arbeitnehmerseite sieht nämlich in der Öffentlichkeit einen Verbündeten und bejaht eine „offene Tripartite“, während für die Unternehmervertreter eine Veröffentlichung vertraulicher Eckdaten keineswegs in Frage kommt. Ihre Positionen sind in der Öffentlichkeit nämlich weniger mehrheitsfähig als diejenigen der Gewerkschaftler. Um Indiskretionen zu vermeiden, möchte die UEL deshalb ihre Positionen nicht mehr in Tripartite-Runden zur Diskussion stellen, sondern sie den politisch Verantwortlichen nur noch in vertraulichen Zweiergesprächen unterbreiten.

Der Regierungswechsel im Jahre 2013 besiegelte den Entscheid der Unternehmer. Während Premier Jean-Claude Juncker in seinem personalisierten Stil eine gleichsam paternalistische Rolle im Sozialdialog einnahm, war diese Eigenschaft dem nachfolgenden Regierungschef fremd. Einerseits fehlt dem eher visionsfreien Xavier Bettel die hierzu erforderliche Führungskompetenz, andererseits war diese Rolle nie von seiner Partei vorgesehen. Mit Junckers Abgang endete wohl die Zeit eines der christlichen Soziallehre angenäherten Sozialdialoges. Dass ihm am Modell gelegen war, offenbarte sein damals bereits nicht mehr in die Zeit passender Vorschlag beim Neujahrsempfang für die Presse im Jahre 2011, als er die Tripartite-Runden auf einen engeren und nicht zuletzt vertraulicheren Gesprächsrahmen für einige wenige Spitzenleute zu begrenzen versuchte, um die Gefahr von Indiskretionen wieder auf das gewohnte Maß zu senken. Der Premier wusste sehr wohl, dass der Sozialdialog als System der Interessenvermittlung auch bei einer recht umfassenden Repräsentation der sozio-ökonomischen Kräfte immer auch Benachteiligungen zuungunsten verschiedener sozialer Gruppen erzeugt. Deshalb konnten die am Parlament vorbeilaufenden Verhandlungsrunden nur unter Bewahrung strengster Diskretion zwischen den Beteiligten stattfinden. Wurden Teile des auszuhandelnden Paketes aber vorzeitig veröffentlicht, war der gesamte Prozess hinfällig.

Sozialdialog und Demokratie

Sozialpartnerschaften sind nur bedingt demokratisch legitimiert, da die im institutionalisierten Dialog zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften vertretenden Interessengruppen die Gesamtgesellschaft nur zum Teil repräsentieren. Die demokratische Legitimation der von einer Tripartite getroffenen und vom Parlament meist nur noch durchgewinkten Abkommen sinkt mit immer weniger breit aufgestellten Interessenverbänden.

Außerdem dienen die alle fünf Jahre stattfindenden Sozialwahlen zwar dazu, die Gewerkschaftsvertreter aus dem Produktionsprozess zu bestimmen, die durch den Wertewandel in den letzten Jahrzehnten hin zum Postmaterialismus stark entwickelte Zivilgesellschaft aber bleibt außen vor. So ist gerade in Zeiten des Klimanotstands auffallend, dass im Sozialdialog zwar wirtschaftliche und soziale, aber nicht ökologische Interessen vertreten sind.

Würde man den Sozialdialog abschaffen, käme dies einer Aufwertung der exekutiven und legislativen Gewalten gleich. Bei einem pluralistischen Modell, wie es in den angelsächsischen Ländern vorherrscht, bringen gesellschaftliche Interessengruppen ihre Belange durch Lobbying zur Geltung. Hypothetisch schafft dies zwar eine umfassende Repräsentation aller Interessen, allerdings können Unternehmer ihre Interessen wirksamer einbringen als Arbeitnehmergruppen. Um sich Gehör zu verschaffen, müssten Gewerkschaften in einem solchen System weitaus militanter auftreten.

Da der einmal eingeschlagene Weg eines stark institutionalisierten luxemburgischen Trilogs mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter verfolgt wird8, gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens, den Status quo. Diese voraussichtlichste Option geht einher mit der Gefahr eines institutionalisierten, kaum beschlussfähigen und wenig umfassenden Sozialdialogs. Nach Calmfors–Driffill9 nimmt die Produktivität der Wirtschaft in diesem System ab. Zweitens, der Sozialdialog wird reformiert, und das bestehende Modell wird umfassender gestaltet. Die Frage, ob weltweit vernetzte Arbeitgeber bereit wären, sich an einem nationalen Sozialdialog mit mehr Partnern zu beteiligen, bleibt allerdings unbeantwortet. Zunehmend ins Abseits gedrängte Gewerkschaften sind aber bereits heute bereit, sich „inklusiv“ zu verhalten und sich, zumindest diskursiv, mit neuen Akteuren zu verbünden.10 So sah man beim kürzlich im Hémicycle auf Kirchberg stattgefundenen Kongress der Gewerkschaft OGBL zwei junge Aktivistinnen von Youth for Climate unter vielen männlichen, meist älteren Gewerkschaftsmitgliedern. Die neue OGBL-Präsidentschaft von Nora Back mag optimistisch stimmen, doch ist eine gewisse Skepsis angebracht, ob eine Annäherung möglich ist angesichts des Grabens zwischen ausschließlich aus dem Produktionsprozess stammenden, stark institutionalisierten Interessengruppen und pluralistisch-fluiden Protestbewegungen ohne formalisierten Zugang zu politischen Akteuren. Soziale Bewegungen sind nämlich politische Herausforderer, während Gewerkschaften korporatistische Akteure des politischen Systems sind. Neokorporatismus und Protest korrelieren umgekehrt: die stärksten Auswirkungen der Sozialpartnerschaft sind gerade die Mäßigung von Streikbereitschaft und Störung der öffentlichen Ordnung.11

Im tendenziell fragilen Kleinstaatengefüge Luxemburgs mag eine solche Annäherung noch schwieriger sein als woanders. Dort, wo riskante und innovative Entscheidungen auf tiefgreifendes Misstrauen stoßen, tendieren Individuen dazu, offene Konflikte im Interesse von Stabilität und Kompromiss zu minimieren oder zu mildern. Als die Salariatskammer (CSL) zusammen mit der Nichtregierungsorganisation Mouvement Ecologique Anfang Dezember eine Konferenz zum Thema der nachhaltigen Steuerreform12 veranstaltete, hielt dort ein mit der luxemburgischen Wirtschaft nachweislich vertrauter Diplom-Volkswirt aus dem deutschen Umweltministerium einen buchstäblichen Lehrbuchvortrag, ohne aber luxemburgische Nischenpolitikpraktiken zu erwähnen. Lediglich eine aufgebrachte Wortmeldung aus dem Publikum kam schlussendlich zur Sache, indem diese die Metapher des „Elefanten im Raum“ bemühte.

Insbesondere die langjährigen Sozialpartner haben die Lektion Jean-Claude Junckers verinnerlicht, „gelegentlich das Recht einzufordern, den Mund halten zu dürfen“13. Doch sogar Nichtregierungsorganisationen üben sich in der Untugend, sich mit dem Schweigen als Form der nonverbalen Kommunikation abzufinden. In einem Land wo jeder jeden kennt, gilt es, es sich nicht mit den Entscheidungsträgern zu verscherzen. In dem Sinne sind wohl nur neue „Empörungsbewegungen“ fähig, sich diesem Trend zu widersetzen. Ob diese aber mit den Gewerkschaften, den Protestvereinigungen von früher, paktieren, hängt von der gewerkschaftlichen Militanz ab. Soweit sind wir nicht.

  1. Wolfgang Streeck, „The study of organized interests: before ‚The Century‘ and after“, in: Colin Crouch und Wolfgang Streeck (Hg.), The Diversity of Democracy, 2006, S. 3-45, hier S. 25.
  2. Romain Hilgert, „Lieber im Stillen“, in: d‘Lëtzebuerger Land vom 24. Juni 2016.
  3. Annette Welsch, „Es gibt kein Recht auf Verhandlungen“, in: Luxemburger Wort vom 28. November 2019.
  4. Marc Hoscheid, „Trio impossible“, in: Luxemburger Wort vom 1. Oktober 2019.
  5. Pol Schock, „Vierzig Jahre gefickt worden“, in: d‘Lëtzebuerger Land vom 15.11.2019.
  6. Wolfgang Streeck, „Nach dem Korporatismus: Neue Eliten, neue Konflikte“, MPIfG Working Paper, Mai 2005.
  7. Colin Crouch, „Neo-corporatism and democracy“, in: Crouch/Streeck (Hg.), Diversity, a.a.O., S. 46-70, hier S. 59.
  8. Im RTL-Background-Interview vom 14. Dezember 2019 gab sich Finanzminister Pierre Gramegna zuversichtlich. Zu einer vom Patronat hervorgerufenen Unruhe verhieß er: „Ech mengen, dat werd sech klären.“
  9. Zur Hypothese über den Zentralisierungsgrad der Lohnverhandlungen als inverse U-Kurve siehe Lars Calmfors/John Driffill, „Bargaining Structure, Corporatism and Macroeconomic Performance“ in: Economic Policy, 3 (1988), 6, S. 13-61.
  10. Colin Crouch, „Neo-corporatism and democracy”, a.a.O., S. 59.
  11. Donatella Della Porta, „From corporatist unions to protest unions? On the (difficult) relations between organized labour and new social movements“, in: Crouch/Streeck, Diversity, a.a.O., S. 71-98, hier S. 73
  12. http://www.meco.lu/de/blog/documentcenter/auf-dem-weg-zu-einer-nachhaltigen-steuerreform/ (letzter Aufruf: 11. Dezember 2019)
  13. So Juncker beim Neujahrsempfang für die Presse im Jahr 2011.

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