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Spielbergs wahre Helden
Zur Rolle der Kinder in Steven Spielbergs Filmen
Steven Spielberg ist es schon vor Jahrzehnten gelungen, in Hollywood den Blockbuster mit dem Autorenkino zu verbinden. Nun wendet er sich in seinem neuesten Film erneut vertrauten Themen zu. Bei The BFG – Big Friendly Giant handelt es sich um die Verfilmung der gleichnamigen Romanvorlage von Roald Dahl, welche 1982 erstmals erschien und die Geschichte des Waisenkindes Sophie (Ruby Barnhill) und des freundlichen Riesen (Mark Rylance) erzählt. Letzterer bläst unbemerkt mit seiner Trompete angenehme Träume in die Schlafzimmer der Kleinen, wird aber eines Nachts dabei von Sophie ertappt und nimmt sie mit ins Riesenland. Nach anfänglichem Zögern freundet sich das Mädchen mit dem Riesen an. Jedoch muss sie feststellen, dass nicht alle Riesen so liebenswürdig sind wie ihr neuer Freund und erfährt, dass manche sich sogar als Menschenfresser entpuppen… The BFG1 ist der neunundzwanzigste Spielfilm in der sechzigjährigen Karriere Spielbergs. Ein Anlass dafür, die Filme eines der bekanntesten Regietalente der Filmgeschichte Revue passieren zu lassen.
Mit Kinderaugen sehen
Die eben geschilderte Anfreundung eines Kindes mit einem nicht-menschlichen, übernatürlichen Wesen sowie phantastische Traumwelten sind Themen, die im Spielberg-Kosmos nicht ganz neu sind. Zudem zwingen sich Vergleiche mit E.T. – The Extraterrestrial (1982) und weiteren Filmen förmlich auf. Durch das explizite Thematisieren des Konfliktes zwischen Kindern und Erwachsenen hebt sich E.T. jedoch von Spielbergs anderen Werken ab. So ist deren Inszenierung in E.T. nicht nur angsteinflößend, sondern wirkt gar bösartig: Die Erwachsenen fungieren als antagonistische Machtinstanz. Schon die Anfangsszene des Films legt dies offen: Der Außerirdische E.T. wird von Seinesgleichen auf der Erde zurückgelassen und bereits wenig später eröffnet eine Gruppe Erwachsener die Jagd auf ihn. Der symbolische Kontrast des Lichts ist in diesem Film unmissverständlich: Das liebenswerte Wesen E.T. leuchtet aus dem Innern, es ist das Licht der Wärme sowie der Liebe und suggeriert folglich das Emotionale, das Menschliche dieses nicht-menschlichen Anderen. Die Scheinwerfer der herbeistürmenden Fahrzeuge strahlen hingegen grelles Licht aus; diese äußere Lichtquelle impliziert die Kälte der Welt der Erwachsenen. Letztere werden gesichtslos gezeigt und von der Kamera hauptsächlich untersichtig erfasst. Sie adaptiert die Perspektive des kleinen Außerirdischen, gleich der eines Kindes, auf das Geschehen. Hinzu kommt das immer wiederkehrende Motiv des Schlüssels, einem Symbol der Macht, das hier sinnbildlich für das Einsperren von Kindheit und Träumen steht. Somit ist E.T. ein Film, der sich ganz klar für Kindheit, Phantasie und das Magische ausspricht – für Kinder und nicht primär für Erwachsene. Angesichts des Unverständnisses und der Brutalität der Polizisten, der NASA und der Ärzte kann man sogar behaupten, es sei explizit ein Film gegen Erwachsene.
Die Mutter des menschlichen Hauptcharakters Elliott (Henry Thomas) erkennt E.T. – neben all den Spielsachen im Schlafzimmer der Kinder – nicht, sie sieht ihn nicht. Dieses Unvermögen des Sehens resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass sie ein Alter erreicht hat, in dem sie die Perspektive eines Kindes nicht mehr einnehmen kann. Es ist der unschuldige, unvoreingenommene Blick der Kinder, für den Spielberg sich ausspricht: Elliott lernt den Außerirdischen bei einem Ballspiel kennen, danach entwickelt sich ihre Freundschaft. Ferner gelingt die Wiederbelebung von E.T. nur durch Elliotts tiefe Freundschaft zu ihm. Die hier geschilderte Beziehung resultiert aus gegenseitigem Verständnis und beruht nicht auf äußeren Wahrnehmungen oder vorgefertigten Zuschreibungen. Erwachsene haben in Spielbergs Filmen öfters eine eingeschränkte Sicht: Da wo sie in E.T wegen seines andersartigen Aussehens primär Fremdheit sehen und zu vorschnellen Urteilen kommen, nehmen die Kinder das Wesen in erster Linie als einen Spielkameraden wahr. E.T. wird zum Freund, unabhängig von seiner Herkunft.
Glauben durch Berührung
Der Sinneseindruck bleibt in Spielbergs Filmen jedoch nicht auf die Sicht reduziert. Gleich mehrere Filme suggerieren, dass für Spielberg der Glaube an die Wahrnehmung nur durch Berührung erfolgen kann. Die haptische Wahrnehmung bestätigt erst die visuelle. Im Märchen Hook (1991) reicht die kindliche Perspektive der „Verlorenen Jungen“ nicht aus: Sie müssen Peter Banning (Robin Williams) erst die Brille abnehmen und sein Gesicht berühren, damit sie ihn wiedererkennen; ihn sehen. Der Glaube an die Wahrnehmung erfolgt durch Berührung. Erst wenn Peter am Esstisch anfängt, seine kindlich verspielten Seiten zu entdecken, indem er nach den Speisen greift und damit um sich wirft, kann er plötzlich das Essen auf dem Tisch sehen, was ihm vorher verwehrt geblieben war. Ebenso schließen im zuvor besprochenen Science-Fiction-Werk Elliott und E.T. über die Berührung der Fingerspitzen – in Anlehnung an Michelangelo – das Bündnis der Freundschaft. Auch die Parkbesucher im Abenteuerfilm Jurassic Park müssen die Dinosaurier mehrmals anfassen, um glauben zu können, was sie da sehen.
Spielbergs höchstes Gut: die Familie
Der kindliche Wunsch nach Geborgenheit manifestiert sich bei Spielberg häufig. Die kleine Sophie aus The BFG wächst in einem Waisenhaus auf, hier fehlt das familiäre Glück und gerade deshalb wird sie vom Riesen aufgesucht und das Abenteuer nimmt seinen Lauf. Für Spielberg ist die familiäre Sphäre besonders wichtig, weil an eben diesem Ort das Kind ganz Kind sein kann. In Hook kommt dies in expressis verbis zum Tragen, so etwa wenn Großmutter Wendy (Maggie Smith) die wichtigste Regel in ihrem Haus erläutert: „No growing up, stop this very instant!“ Am Ende des Films schließt die Erzählung mit einem für Spielberg typischen Bild: jenem der wiedervereinten Familie.2 In Jurassic Park (1993) sehen wir in einer der letzten Einstellungen, wie die Kinder Lex (Ariana Richards) und Tim (Joseph Mazzello), deren Eltern geschieden sind, an die Schulter Alan Grants (Sam Neill) gelehnt, schlafen. Ihm gegenüber sitzt Ellie Sattler (Laura Dern) und lächelt ihm zu. Beide Paläontologen sind während der Erlebnisse im Park zu einer Art Ersatzeltern für die beiden Kinder geworden. Sogar Grant, der anfangs eine abweisende Haltung gegenüber Kindern hatte, scheint nun väterliche Gefühle zu entwickeln.
Im Zentrum eines weiteren Science-Fiction-Streifens, nämlich War of the Worlds (2005) steht die getrennte Familie der Ferriers. Ray Ferrier (Tom Cruise), Vater des jugendlichen Robbie (Justin Chatwin) und der zehnjährigen Rachel (Dakota Fanning), arbeitet als Kranführer in einem Containerhafen. Er muss die Trennung von seiner Frau Mary Ann (Miranda Otto) verkraften, welche einen neuen Partner gefunden hat. Nachdem Aliens die Erde invadieren und der Krieg der Welten entfacht wird, wird Ray im Laufe der Handlung von seinen Kindern getrennt. Am Schluss des Films, nachdem der Krieg ein Ende genommen hat, ist er jedoch wieder mit Frau und Kindern vereint.3 Die Invasion der Erde durch Aliens und der anschließende Krieg der Welten können als äußere Metapher für den Konflikt in Ferriers Innerem gelesen werden. Unter familiären Spannungen leidet auch der junge Frank Abagnale (Leonardo DiCaprio) in Catch Me If You Can (2002). Er muss die Scheidung seiner Eltern recht früh durchleben und seine Bemühungen, den familiären Einklang wiederherzustellen, sind zum Scheitern verurteilt. Es verwundert angesichts dieser Gegebenheiten nicht unbedingt, dass der alleingelassene Frank eine kriminelle Laufbahn als Betrüger einschlägt und eine Bezugsinstanz im Ermittler Carl Hanratty (Tom Hanks) sucht.
Spielbergs „Helden“
Spielbergs Helden suchen sich ihre Abenteuer und Missionen nicht aus. Bereits im Action-Thriller Duel (1971) wird ein Handlungsreisender (Dennis Weaver) ohne triftigen Grund in eine Verfolgungsjagd verwickelt und muss um sein Leben fürchten. Ein Kampf auf Leben und Tod beginnt. Polizeioffizier Martin Brody (Roy Scheider) muss in Jaws (1975) einen monströsen Hai jagen, eine Aufgabe, die er sich nicht ausgesucht hat, viel eher wurde sie ihm zugetragen. Es ist eine Mission, für die es erst einmal gilt seine Angst vor dem Wasser zu bewältigen. In Hook muss Peter Banning seine entführten Kinder aus den Fängen des titelgebenden Captains (Dustin Hoffman) retten, indem er wieder in die Rolle des Peter Pan schlüpft – umso ironischer wirkt hierbei die Tatsache, dass Banning Höhenangst hat. In Saving Privat Ryan (1998) verhält es sich ähnlich; Captain Williams (Tom Hanks) nimmt die Mission, den Soldat James Ryan (Matt Damon) zu retten, mit Widerwillen an. Und auch in seinem rezenteren Werk Bridge of Spies (2015) ist der Anwalt James Donovan (Tom Hanks) anfangs alles andere als erfreut, als er erfährt, dass ihm die Verteidigung eines mutmaßlichen sowjetischen Spions aufgetragen wurde.
Diesen Figuren ist jedoch gemein, dass sie nach anfänglichen Ängsten und Zögern in ihre jeweiligen Rollen hineinschlüpfen und an der Herausforderung wachsen. In Jaws entwickelt Brody sich im Laufe des Films zu einem erfahrenen Seemann und triumphiert über den Hai. Peter Banning findet in seine alte Rolle als Peter Pan zurück, lernt fliegen und befreit seine Kinder aus den Fängen von Kapitän Hook. Auch Donovan nimmt die Verteidigung seines Mandanten an und handelt sogar einen Gefangenenaustausch aus.
In Spielbergs futuristischem Science-Fiction-Thriller Minority Report (2002) leidet der Spezialagent John Anderton (Tom Cruise) unter dem Tod seines Sohnes und der Trennung von seiner Frau. Er befindet sich laut der Voraussage der „Pre-Cogs“, dreier übernatürlicher Wesen, die zukünftige Morde vorhersehen können, im Visier seiner eigenen Leute und wird von diesen gejagt. Anderton wird plötzlich zum Einzelgänger auf der Suche nach der Wahrheit. Der Held ist in diesem Fall ein gebrochener Mann, dessen zerstörtes Familienglück ihn in die Depression und Drogenabhängigkeit getrieben hat. Die irreparable Störung der familiären Harmonie kann bei Spielberg nur den Absturz bedeuten, wie nicht zuletzt auch A.I. – Artificial Intelligence suggeriert.
Spielbergs Helden sind eben keine wahren Helden. Nicht nur dahingehend, dass sie ihre Missionen nicht gewählt haben, sondern auch dadurch, dass deren etwaige heldenhafte Handlungen und Rettungsaktionen regelrecht ad absurdum geführt werden. Bedenken angesichts seiner Mission, die letztendlich nicht nur das Leben seiner Männer gefährdet, sondern auch sein eigenes fordert, äußert auch Captain Miller, der den Soldaten James Ryan befreien soll. In Bridge of Spies handelt Donovan den Gefangenenaustausch zwar aus, dennoch lässt die Schlussszene vermuten, dass sein Mandant Rudolf Abel (Mark Rylance) der Todesstrafe nicht entkommen kann. Munich (2005) erzählt vom jungen Mossad-Agenten Avner Kaufmann (Eric Bana), der in Europa mit seinem Team die Verantwortlichen für die Terroranschläge während der Sommerspiele 1972 in München töten soll. Kaufmann, der seine hochschwangere Frau nur ungern allein zu Hause zurück lässt, ist der Auftrag nicht nur zugewiesen, sondern auch verschleiert worden. Er hinterfragt die Mission und vermutet, dass es sich bei den Zielpersonen nicht nur um die Drahtzieher des München-Attentats handelt. Avner ist somit kein strahlender Held, eher ein schwankender, von Schuldgefühlen geplagter Agent, der mit seinen Zweifeln an der Legitimität seiner Mission allein gelassen wird. In Schindler’s List rettet Oskar Schindler (Liam Neeson) elfhundert Juden vor dem Konzentrationslager, was aber letztlich nur eine geringe Zahl darstellt, wie er selbst hinsichtlich der sechs Millionen Opfer der Naziverbrechen einräumt. Sogar in Jurassic Park entkommen die Besucher nicht dank einer heldenhaften Aktion, sondern weil die Dinosaurier sich am Ende gegenseitig angreifen und zerstören.
Demgegenüber steht dann erneut und kaum verwunderlich die Rolle der Kinder, denn in vielen Filmen Spielbergs übernehmen diese die Hauptrollen (Empire of the Sun, besonders in E.T., Jurassic Park, in der Fortsetzung The Lost World, Indiana Jones and the Temple of Doom u.a.). Sie werden zu wahren Helden: Es sind die Kinder, die E.T. vor seinen böswilligen Verfolgern retten. Es sind überhaupt erst die Kinder, die dem außerirdischen Wesen vorurteilslos und mit Freundlichkeit begegnen und dessen kindliche Seiten entdecken. Dahingegen sehen die Erwachsenen in diesem nur ein Forschungsobjekt oder Gefahren. Es ist die Computer-Expertin Lex, die den außer Kontrolle geratenen Dinopark wieder sichert, während die Erwachsenen überfordert sind. Den „glücklichen Gedanken“, den Peter Pan in Hook benötigt, um wieder fliegen zu lernen, erhält er in dem Moment, als er sich an seinen Wunsch erinnert, Vater zu werden. Indirekt sind es also erneut die Kinder, die den Erfolg der Erwachsenen ermöglichen.
Das Kind im Manne
Es sind aber nicht nur die Kinder allein, die kindliche Züge aufweisen: So ist es beispielsweise John Hammond (Richard Attenborough) in Jurassic Park, der gesteht, dass er seinen Dino-Freizeit-Park deshalb errichtete, weil er als Kind von einem Zirkus begeistert war und sich mit dem Projekt einen Kindheitstraum erfüllen wollte. Ebenso amüsiert sich der erwachsene Peter Banning, ein erfolgreicher Geschäftsmann, in Hook, indem er verspielt-kindliche Pistolenduelle mit dem Telefon nachahmt. Nicht zuletzt weist auch der junge Frank Abagnale in Catch Me If You Can4 kindliche, spielerische Züge auf. Nicht anders verhält es sich mit den Hauptdarstellern in Indiana Jones und The Adventures of Tintin (2011). Der innerliche Antrieb für deren Schatzsuchen ist häufig ein Grad an kindlicher Neugier und die spielerische Lust, Rätsel zu lösen.
Nach dieser Analyse könnte man gar zum Schluss kommen, dass Spielberg selbst bis zu einem gewissen Grad ein Kind geblieben ist. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der eigenen Verspieltheit des Filmemachers wieder, neben die sich eine gewisse Nostalgie für den unvoreingenommenen kindlichen Blick auf die kalte und unsichere Welt stellt. Es ist eben diese Eigenschaft der Verspieltheit, die ihn mit Regisseuren wie George Lucas und Peter Jackson verbindet. Vielleicht liegt in genau dieser Kombination von Spannung und Erzählkunst, die in den meisten Fällen durch die Inszenierung familiärer Geschichten und Kinderperspektiven identitätsstiftend wirken, die Stärke des Regisseurs und der Grund für den andauernden Erfolg seiner Filme.5
1 The BFG – Big Friendly Giant startet am 20. Juli in den luxemburgischen Kinos.
2 Spielberg war 17 Jahre alt, als seine Eltern sich scheiden ließen. Eigenen Aussagen zufolge hat ihn dieses Ereignis stark bewegt und sein späteres Schaffen beeinflusst.
3 Der Film ist zudem vor dem Hintergrund der Terroranschläge vom 11. September zu verstehen und propagiert amerikanische Werte. Die Schlussszene illustriert dies deutlich: Die Welt liegt in Trümmern, die Familie ist das Ideal und bildet das Fundament, auf dem man wieder etwas aufbauen kann.
4 Auch hier gelingen dem erwachsenen Ermittler Hanratty am Ende eine Vielzahl an Festnahmen, weil Frank ihn bei den Ermittlungen mit seinem Wissen als Scheckbetrüger unterstützt.
5 Genutzte Literatur: Georg Seeßlen: Steven Spielberg und seine Filme. Schüren 2001.
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