- Gesellschaft, Wissenschaft
Sprechend Sprache fördern
Eine Neuinterpretation von Sprachförderung in non-formalen Bildungseinrichtungen
Die Mehrsprachigkeit gehört zu den neun zentralen bildungspolitischen Arbeitsbereichen, um die Zukunftsfähigkeit des Nachwuchses in Luxemburg sicherzustellen. Sie ist stets präsent in Politik, Recht, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst. Zudem stellt sie eine alltägliche Herausforderung für alle Bildungs- und Lernwelten dar. Dazu gehören die informell-private Familie und Freizeit, die formale schulische Bildung und die non-formalen Bildungsangebote der „Services d’éducation et d’accueil pour enfants“ (Crèches, Maisons relais). Doch jede dieser Bildungs- und Lernwelten hat ihren eigenen Zugang, um mit Mehrsprachigkeit umzugehen. Wie gelingt dabei die Förderung von Sprache im Rahmen non-formaler Bildung? Durch lebendiges Sprechen mit echten Vorbildern und unter Gleichgesinnten über Dinge, die wichtig sind.
Lebendiges Sprechen…
Kinder lernen zunächst das lebendige Sprechen und nicht etwa die Sprache als sprachliches System. Kinder ‚plappern‘ Sprache nicht einfach nur nach, wenngleich sie Erwachsenen regelrecht an den Lippen hängen. In der Beziehung zu wichtigen Menschen erschließen sich Kinder eine Sprache selbsttätig, über Bedeutungen, kleinteilig Wort für Wort, im Modus von Versuch und Irrtum, nach und nach sprechend. Dieser „synthetische Spracherwerb“ überwiegt gegenüber dem analytischen Erwerb von Sprache. Kinder lernen bis an die Schwelle zur Pubertät kaum abstrakt-analytisch, sondern fast ausschließlich konkret-erfahrungsbezogen, vor allem spielerisch. Das gesprochene Wort braucht eine sinnlich greifbare Verbindung mit echten Erlebnissen.1 Ein Kind wird etwa unterschiedliche Gemüsesorten besser kennen, wenn es daran beteiligt war, sie anzupflanzen, zu pflegen und zu ernten.
Kinder besitzen von Geburt an die Neugier, Sprechen zu lernen und sich sprechend mit Dingen auseinanderzusetzen. Jedoch muss respektiert werden, dass der Zeitpunkt, wann ein Kind zu sprechen beginnt, und die Geschwindigkeit seiner Fortschritte individuell ganz verschieden sein können. Ein Kind, das spät beginnt zu sprechen, kann motorisch bereits weit voraus sein und umgekehrt. Darauf adäquat zu reagieren, ist die pädagogische Herausforderung: die Unterschiede anzuerkennen und sie nicht dem Regime von altersgebundenen Standards unterzuordnen. Kindern ist bei ihrer sprachlichen Entwicklung nicht damit geholfen, getrieben oder geschleppt zu werden. Sie bedürfen der achtsamen und verantwortungsbewussten Begleitung durch Erwachsene. Diese benötigen das allgemeine Wissen um das Wachstum kindlicher Fähigkeiten ebenso wie die Sensibilität, die individuellen Bedürfnisse eines Kindes zu erkennen, und es mit angemessenen Herausforderungen im nächsten Wachstumsschritt zu unterstützen.2
… mit echten Vorbildern…
Die Erst- und Familiensprache lernen Kinder nicht nur am besten, weil sie permanent im Familienalltag genutzt wird, sondern weil sie von den Menschen gesprochen wird, die im kindlichen Leben als Vorbild und sicherer Hafen am bedeutsamsten sind: Mutter, Vater, Geschwister oder andere Verwandte. Es ist wichtig, dass pädagogische Fachkräfte aus der Besonderheit der familiären Bindungsbeziehung die Konsequenz erkennen, dass die Qualität der Beziehung zum Kind maßgeblich für eine erfolgreiche Unterstützung der kindlichen (und der sprachlichen) Entwicklung ist. Demnach sollen Kinder ihre pädagogischen Bezugspersonen in Bildungseinrichtungen als authentisch und bedeutsam anerkennen können: als Vorbild, als Begleiter und Unterstützer. Sie vermitteln zwischen den kindlichen Bedürfnissen nach Sicherheit und Autonomie. Sie sind in der Lage, im beiderseitigen Dialog die Neugier von Kindern am Sprechen zu erkennen und ihr Interesse daran zu wecken. Diese professionelle Fähigkeit erhöht die Chance erfolgreichen Lernens um ein Vielfaches. Dazu gehören eine gefestigte Persönlichkeit sowie eine entsprechende aufgeklärte pädagogische Grundhaltung.
…und unter Gleichgesinnten…
Die besten Vorbilder sind jedoch die Gleichaltrigen. Im Alltag inner- und außerhalb von Bildungseinrichtungen kommunizieren Kinder ständig mit ihren Gleichgesinnten und handeln unter sich das Zusammenleben aus. Kinder bilden unter ihresgleichen eine eigene Gemeinschaft mit Ritualen und Regeln. Altersgemischte Lerngruppen sind zudem weitaus konstruktiver und weniger konkurrenz-
betont als altershomogene Gruppen. Kinder lernen nicht nur miteinander, sondern vor allem auch voneinander. In altersgemischten Gruppen kann es in diesem Sinne nur Gewinner geben: diejenigen, die von anderen lernen wie auch diejenigen, die dadurch lernen, dass sie ihr Wissen teilen und mitteilen.3 So sind auch die Unterschiede in den sprachlichen Fähigkeiten ein konkreter Anlass, um das Sprechen weiter zu entwickeln.
…über Dinge, die wichtig sind.
Beziehungen sind nicht selbstgenügsam. Sie bedürfen eines Gegenstandes geteilter Aufmerksamkeit. Kinder und Erwachsene sprechen nicht nur miteinander, sondern auch über Dinge und Phänomene, die sie berühren, die ihnen Freude bereiten, die ihnen wichtig sind. Nachhaltiges Lernen erfolgt ausschließlich über die emotionalen Zentren im Gehirn, in denen Informationen und Wissen dann gespeichert werden, wenn sie mit einer – vorzüglich positiven – Emotion verbunden sind.4 Es ist einleuchtend, dass schlechte Erfahrungen und unangenehme Erlebnisse mit dem Erlernen einer Sprache zwangsläufig dazu führen, generell solche Situationen zu meiden.
Außerdem sollte jede Lernerfahrung an die bereits gemachten Erfahrungen anschlussfähig sein, im Grunde ist es unmöglich, etwas völlig Neues zu lernen.5 Dieses hirnphysiologische Phänomen hat eine große zwischenmenschliche Bedeutung. Die Bereitschaft, das Sprechen anderer Sprachen zu lernen ist umso größer, desto stärker die eigene Herkunft, Identität und Sprache zunächst einmal Anerkennung und Wertschätzung erfahren. Ein dadurch vermitteltes Gefühl der Zugehörigkeit ist die notwendige Voraussetzung für die Offenheit von Kindern gegenüber neuen Sprachen. Bei der Erstsprache bedarf es ausreichend Raum und Zeit, damit sie gesprochen werden kann. Hier soll sich das Kind in einem wertschätzenden und positiven Lernumfeld wiederfinden und sich auf neue Sprachen einlassen können. So liegt es nahe, die Eingewöhnung eines Kindes in einer Einrichtung nach Möglichkeit in der Erstsprache des Kindes zu machen und dabei schon die Eltern zu einer Erziehungspartnerschaft zu gewinnen.
Sprach(en)förderung konsequent vom Kind her denken
In der aktuellen non-formalen Bildung der „Services d’éducation et d’accueil pour enfants“ ist eine Neudefinition der Rolle der pädagogischen Fachkraft als Unterstützer und Begleiter kindlicher Lern-
prozesse notwendig. An die Stelle des Bildes vom Lehrmeister sollte demnach das Bild des „Lerncoaches“ treten, der die individuellen Potentiale von Kindern erkennt und ihnen dabei behilflich ist, ihr Wissen und Können selbst zu entwi-ckeln. Der Ausgangspunkt der Förderung des Sprechens bei Kindern ist dementsprechend nicht ein Defizit gemessen an Normwerten der Altersgruppe, das durch didaktisiertes Fördern rasch zu beheben versucht wird. Am Anfang stehen stattdessen die Wahrnehmung der individuellen Lernbedürfnisse und -interessen sowie eine adäquate Reaktion darauf mit reichhaltigen und alltagsnahen Erfahrungsangeboten und Herausforderungen. So kann das Kind von seinem Entwicklungsstand aus selbst den nächsten Schritt tun.
Das Alter, in dem Kinder mit dem Sprechen beginnen, fällt ganz unterschiedlich aus. Gerade für mehrsprachige Kontexte ist bekannt, dass Kinder problemlos mehr als eine Sprache korrekt erlernen können. Die Sprachentwicklung kann jedoch am Anfang längere Zeit in Anspruch nehmen und die Entwicklung der einzelnen Sprachen unterschiedlich verlaufen.6 Darum brauchen Kinder vor allem eine positive Lernkultur mit geduldigen Erwachsenen, die ihnen Zeit zum intensiven Verarbeiten einer Sprache zugestehen. Sie sollen Fehler machen dürfen, die nicht rigoros korrigiert, sondern durch das Vorbild korrekten Sprechens sanft behoben werden. Eine gesunde Beziehung zwischen Erwachsenen und Kind führt zu einem Dialog, selbst wenn ein Kind noch gar nicht oder noch nicht vollständig sprechen kann (etwa in Crèches). Es hat mit den ihm zur Verfügung stehenden Kommunikationskanälen (Körper, Gestik, Laute) von Anfang an die Möglichkeit, ein aktiver Teil in der Kommunikation zu sein. Bereits auf dem Wickel-
tisch entwickelt das Kind ein Gespür für Sprache, wo Erwachsene unterstützt durch Gestik oder Tonalität ihm sensibel mitteilen, was sie als nächstes tun werden. Es empfindet von Grund auf Anerkennung und Wertschätzung: ein Garant für gelingendes Sprechenlernen.
Zudem sind lernförderliche Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen nicht selbstbezüglich, sondern bedürfen lebendiger Gegenstände in ansprechenden Räumen mit sinnlich anregenden Materialien. So bietet sich aus der Beziehung heraus die Möglichkeit zum Austausch mit Kindern und zwischen Kindern über etwas Drittes. Das ermöglicht die Beobachtung, was Kindern bedeutsam ist, und die Wahrnehmung ihrer Fragen an die Welt. Zudem können Kinder wiederum durch Fragen der Erwachsenen unterstützt werden, ihre Erfahrungen zu versprachlichen.
Bereits ein Neugeborenes ist darauf angewiesen, dass mit ihm in seinen Belangen einfühlsam und sensibel sowie normal und korrekt gesprochen wird, auch wenn es von dort an noch einige Zeit dauert, bis es das erste Wort selbst ausspricht: sei es bei den Mahlzeiten, bei der Pflege, beim Zubettlegen oder beim Reichen von natur-nahen, alle Sinne ansprechende Spielgaben. Bei Kindern im Schulalter sind es mit echtem, vielfältigem und reichhaltigem Material ausgestattete Bildungsräume: Räume für Rollenspiele, Bewegung, zum Bauen oder kindgerechte Werkstätten für Kunst, Handwerk, Schreiben sowie nicht zuletzt der Naturraum. Bildungsräume können folglich durch die bewusste Gestaltung und die achtsame alltägliche Begleitung zahllose Gelegenheiten bieten, um über persönlich wichtige Dinge und Erfahrungen zu sprechen und sich sprechend weiter zu entwickeln.
Die Sprachenvielfalt im Großherzogtum und seinen einzelnen Regionen sollte sich in der Sprachenvielfalt der Einrichtung widerspiegeln. Je nach Population der Bildungseinrichtung wären auch die Mehrheit der Erstsprachen der Kinder im Personal vertreten – das kann sich je nach Region unterscheiden und durch die große Zahl der Sprachen an Grenzen stoßen. Ausgehend von der Anerkennung und Wertschätzung der Erstsprache, kann das gesamte Team mit seiner vielseitigen Sprachkompetenz und durch gesunde und stabile Beziehungen zu den Kindern eine Brücke zu den neuen Sprachen schlagen. Um eine neue Sprache erfolgreich lernen zu können, brauchen Kinder die Möglichkeit, sich darin intensiv und langfristig zu vertiefen.
Die Herausforderung für die Bildungseinrichtungen ist es, sich den Kindern und ihrer Lernentwicklung anzupassen, um das Sprechenlernen zu beleben. Das gelingt nur durch eine konsequente Weiterqualifizierung des pädagogischen Personals. Leitend sollte dabei ein modernes, aufgeklärtes und universell gültiges Bild des „kompetenten Kindes“ sein, wie es das verabschiedete Projekt zum Kinder- und Jugendgesetz und der daran geknüpfte Bildungsrahmenplan vorsehen. So ist die Förderung von Sprachen viel näher an dem, wie Kinder lernen – ganz konkret, ganz praktisch, durch und durch sprechend.
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