Protagonisten:
Paul Eyschen: Staatsminister und Regierungspräsident von 1988-1915 (* 9. September 1841, †11. Oktober 1915)
Marie-Adelheid von Nassau-Weilburg: Großherzogin von Luxemburg von 1912-1919 (* 4. Juni 1894; †24. Januar 1924)
„Enthüller“: Henri Koch-Kent, Denis Scuto
Zeitraum: Erster Weltkrieg
Verschwörungsziel: Dem Image des Landes nicht schaden
Attraktivität: 4,5 von 5
Die Story: Staatsminister Paul Eyschen nimmt sich das Leben, als er erkennen muss, dass seine deutsch-freundliche Politik während des Ersten Weltkriegs die Monarchie und die Unabhängigkeit Luxemburgs in Gefahr bringt. Aus Imagegründen vertuscht die Obrigkeit die wahre Todesursache.
Der Kontext: Unvorbereitet und wehrlos schlitterte das neutrale Großherzogtum Luxemburg in den Großen Krieg. Staatsminister Paul Eyschen hielt bis zum Schluss an seiner Appeasement-Strategie
fest und ging davon aus, dass Frankreich und Deutschland im Falle eines europäischen Konfliktes, wie bereits im Deutsch-
Französischen Krieg von 1870, die Luxemburger Neutralität respektieren würden. Doch dem war nicht so, Eyschen irrte. Zu den ersten Kriegshandlungen in ganz Europa zählte der Öberfall auf Luxemburg am 2. August 1914, als deutsche Truppen strategisch wichtige Transportpunkte besetzten. Eyschen war wie die meisten Zeitgenossen der Öberzeugung, dass der Krieg eine Angelegenheit von wenigen Monaten sei, an dessen Ende das Deutsche Kaiserreich über Frankreich triumphieren würde. Dementsprechend zuvorkommend begegneten Eyschen und die Großherzogin den deutschen Besatzern. Man arrangierte sich mit der Situation und setzte auf die Deutschlandkarte.
Doch Eyschen irrte erneut. Der Krieg entwickelte sich wider Erwarten zu einem Stellungskrieg und entfesselte eine neuartige Dimension der Gewalt. Und je länger der Krieg andauerte, desto klarer stellte sich eine Niederlage der Achsenmächte heraus. Als die Lebensmittel auch in Luxemburg knapp wurden, versuchte Eyschen internationale Hilfsmittel über die Hoover-Kommission zu erlangen. Die Alliierten lehnten ab mit dem Verweis, Luxemburg sei kein neutraler Staat. Eyschen hatte sich mit der Großherzogin durch die besatzer-freundliche Politik in die Ecke manövriert. Zu diesem außenpolitischen Fiasko kamen innenpolitische Streitigkeiten hinzu. Die Großherzogin wollte im Konflikt mit den Liberalen nicht einlenken und mischte sich zum Unmut von Eyschen zunehmend in bildungspolitische Angelegenheiten ein.
Als Eyschen am 11. Oktober 1915 von einer diplomatischen Reise aus der Schweiz mit leeren Händen zurückkam, soll es zu einem heftigen Streit über die Besetzung eines Staatspostens zwischen Eyschen und der Großherzogin gekommen sein. In der gleichen Nacht starb Paul Eyschen im Alter von 74 Jahren.
In der offiziellen Sterbeurkunde, von den Notabeln Theodor Risch, Joseph Wurth, Léandre Lacroix und den beiden Ministern Victor Thorn und Mathias Mongenast unterzeichnet, wurde ein Herzinfarkt als Todesurasche vermerkt. Doch bereits früh kursierten Gerüchte über einen Suizid des alten Staatsministers. Er soll sich in seiner aussichtslosen Situation selbst vergiftet haben. Doch um dem Ansehen des Landes nicht noch weiter zu schaden, hätte die Obrigkeit entschieden, den Deckmantel des Schweigens über die wahren Todesumstände zu legen.
Die Enthüllung: In den Achtzigerjahren brachte der Journalist Henri Koch-Kent die Gerüchte um den mysteriösen Tod während des Ersten Weltkriegs wieder hervor.1 Er spekulierte, dass Eyschen aus den genannten Gründen den Tod suchte. Der Historiker Denis Scuto versuchte die Umstände des Todes von Eyschen in einem kürzlich erschienen Essay zu rekonstruieren und plädiert unter Berücksichtigung neuer Quellen für die Version des Selbstmordes.2 Spätere staatstragende Historiker wie August Collard hätten die Version des natürlichen Todes bewusst in ihren Nationalgeschichten verankert, um der Luxemburger Meistererzählung nicht zu schaden.
Angesichts der widrigen Umstände der damaligen Zeit wirkt die These durchaus plausibel. Doch konkrete Beweise fehlen und es ist gewagt, allein von den Umständen auf die Tat zu schließen. Denn in den unruhigen Zeiten des Ersten Weltkriegs ist es ebenso denkbar, dass die Notabeln um Thorn, Lacroix und Co. sich zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenschlossen, wie dass revolutionäre Kräfte, die eine Republik befördern wollen, das Gerücht bewusst streuten. Auch soll es tatsächlich schon vorgekommen sein, dass ein 74-Jähriger eines natürlichen Todes gestorben ist…
Muster und Plausibilität: Die Verschwörungstheorie um den vertuschten Freitod eines gescheiterten elder statesman, der erkennen muss, dass er durch sein Handeln Vaterland und Monarchie in Gefahr brachte, könnte ästhetischer kaum sein. Die tragische Figur sucht den Tod — die Obrigkeit versucht ihrerseits das Ansehen des Staates zu wahren. Entgegen der meisten anderen Verschwörungstheorien beruht hier das Handeln der Protagonisten nicht auf niederen Trieben (persönliche Bereicherung, Rache etc.), sondern auf ehrenvollen, „staatstragenden“ Motiven. Trotzdem ist auch das klassische Moment der Lüge der Obrigkeit vorhanden.
Koch-Kent, Henri: Souvenirs d’une époque controversée 1912-1940, Luxembourg 1983.
Scuto, Denis: „Il subside un certain flou concernant les événements de l’époque…“. Paul Eyschen et la Première Guerre mondiale, in: Benoît Majerus, Gianna Thommes, Charles Roemer (Hrsg.): Guerre(s) au Luxembourg 1914-1918, Luxemburg 2014, S. 17-31.
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