Stadt des Handel(n)s?

Zur aktuellen und zukünftigen Beziehung von Einzelhandel und (Innen)stadt

Bis heute ist die Beziehung von Stadt und Handel eine besondere, ist sie doch historisch gewachsen. Schon auf dem griechischen Marktplatz, der antiken Agora, spielte sich das öffentliche Leben ab. Die Attraktivität der Innenstadt ist eng verwoben mit der Attraktivität des örtlichen Einzelhandels. Daher verwundert es nicht, wenn die Abwanderung des Handels in die Peripherie, auf die grüne Wiese und ins Internet den städtischen Raum mancherorts hart trifft.

Es sind aber nicht die Abwanderungsbewegungen alleine, die ein intensives Nachdenken über die zukünftige Beziehung von Stadt und Handel notwendig machen, sondern die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Veränderungen und damit auch der Wandel im Konsumverhalten der Menschen.

Die Innenstädte leiden unter Frequenzverlusten, wie eine repräsentative Umfrage unter der Luxemburger Wohnbevölkerung zeigt: Ende 2015 gaben 38% der Befragten an, im Vergleich zu 2012 weniger oft in Innenstädten des Landes einzukaufen. 16% der Befragten kaufen ihren Angaben nach öfter ein, was demnach einem Netto-Frequenzverlust für Luxemburgs Innenstädte von durchschnittlich 22% gleichkommt. Diese Zahl entspricht ungefähr der Größenordnung ausländischer Untersuchungen für dortige Innenstädte. Gefragt nach den Gründen für den Frequenzrückgang gaben 50% der Befragten in freier Assoziation den Attraktivitätsmangel der Innenstädte an, gefolgt von unpassenden Öffnungszeiten der Einzelhändler und erhöhtem Onlineshopping.1

Etwas anders ist die Situation mit Blick auf die Bewohner der Großregion. Für sie ist Einkaufen der Hauptgrund für Besuche im Großherzogtum. Im Vergleich zu 2012 interessieren sich die nicht hier Ansässigen 2016 deutlich mehr für die luxemburgischen Städte. Die Stadt Luxemburg sticht dabei unabhängig von der Nationalität der Befragten heraus und entwickelt sich immer mehr zum Attraktivitätspol in Sachen Shopping. Dort, wo sich Frequenzverluste abzeichnen, sind die Hauptgründe aber ähnlich gelagert, wie in der Bewertung durch die Inländer: Internetangebot, Shoppingmöglichkeiten in Einkaufszentren sowie ein genereller Attraktivitätsmangel der Innenstädte.2

Um sich die Stadt der (näheren) Zukunft vorzustellen, braucht man keine Kristallkugel, denn sie sind im Konsumverhalten von heute angelegt, und da insbesondere in der Digitalisierung unserer Welt. Das Internet erzielt dabei Effekte in beide Richtungen: 27% der Befragten der Inlandsstudie gaben an, die Innenstädte aufgrund von Onlineshopping weniger oft zu frequentieren. Hoffnung macht allerdings, dass auch der umgekehrte Effekt zu beobachten ist: 7% der Befragten gehen aufgrund von Informationen, die sie im Netz über den lokalen Handel finden, häufiger in die Innenstädte. Und auch originär im Netz tätige Händler erkennen den Wert der physischen Fläche – mit Erfolg, wie beispielsweise Amazon mit seinen Offline-Geschäften, die mit den beliebtesten Artikeln punkten.

Die Entscheidungen über das Vorort-Sortiment werden auf Basis von Informationen getroffen, die die Geschäfte aus dem Onlinehandel bekommen. Dort kann verfolgt werden, welche Produkte sich Kunden ansehen, aber nicht kaufen, welche Produkte sie letztlich kaufen und wie oft. In der Praxis ist ein integriertes Warenwirtschaftssystem unumgänglich, sorgt es doch letztlich für jene „Livetransparenz“3 des verfügbaren Angebotes, welche sowohl Händlern wie Kunden nützt.

„Traditioneller“ Einzelhandel unter Druck

In Luxemburg hat Amazon noch keinen physischen Shop eröffnet, gut organisierte Filialisten prägen dennoch zunehmend das Bild unserer Städte. Der traditionelle Facheinzelhandel hat verstärkt Probleme, sich in einem äußerst schnelllebigen Konkurrenzumfeld zu behaupten. „(…) diese Handelsformen waren und sind die großen Verlierer, die in jeder Phase des Umbruchs im Handel Anteile am Umsatz und auch an der Fläche einbüßten.“4 Das aktuelle Verständnis der attraktiven Innenstadt setzt aber eben auf jenen inhabergeführten Einzelhandel, der für Individualität und Originalität steht. Auch im modernen „Gewand des Pop-up-Stores“ soll der einzelkämpfende Händler oft genug für die Attraktivität der Innenstadt geradestehen. Naheliegend wäre daher die Frage, „ob das ideelle und konzeptionelle Festhalten an dieser traditionellen Form des Handels eher als romantische Verklärung wirtschaftlich kaum mehr tragfähiger Strukturen bewertet werden sollte.“5

Diese „romantische Verklärung“, wie es in der zitierten Publikation heißt, greift allerdings genau das auf, was die Stadt der Zukunft vermitteln muss, wenn sie sich als leistungsstarker Standort positionieren möchte: Romantik, oder sagen wir besser ‚emotionales Erleben‘. Erlebnisorientiertes Shopping ist integraler Bestandteil des Zukunftsstandortes Innenstadt. Wenn Kunden in die Innenstadt kommen, dann rückt der gewöhnliche Versorgungskauf immer mehr in den Hintergrund. Der soziale Kontakt ist dagegen wichtig: Einzelhändler verbringen bis zu 4,5 Stunden pro Tag mit Kundengesprächen. So ist die Vision des städtischen Handels trotz leistungsstarkem Warenwirtschaftssystem und perfekter Kundenkenntnis letztlich eben nicht von Self-Check-out und sons-
tiger Prozessautomation geprägt, sondern von der sozialen Komponente des Einkaufens, die der Handel wiederentdecken muss. „Nicht mehr die Funktion dominiert die Planung; der Mensch und seine Bedürfnisse rücken ins Zentrum der Konzeptionen. Daraus erwächst ein immenser Veränderungsbedarf, sowohl den öffentlichen Raum als auch die einzelne Handelsimmobilie betreffend.“6

Veränderungen im Flächenbedarf des Handels

Dieser Veränderungsbedarf äußert sich auch in der engen Verknüpfung von Onlinehandel und Flächenbedarf. Mit zunehmendem Erfolg der e-Shops stagniert die Quadratmeterzahl der Gesamtverkaufsfläche beispielsweise in Deutschland und lag zuletzt 2014 bei 123 Millionen m². Branchenübergreifend geht man mehrheitlich davon aus, dass die Flächennachfrage in unserem Nachbarland konstant bleibt oder sogar zurückgeht.7 Seit 2010 ist zumindest auf dem deutschen Markt zudem ein Paradigmenwechsel im Handel festzustellen: Fläche wird durch Information substituiert. Betriebe wie Saturn und Decathlon belegen Flächen von teils weit unter 1000 m², was zuvor absolut nicht interessant war. Im Nachbarland Frankreich tobt der Kampf zwischen Stadt und Peripherie. Der Anteil des innerstädtischen Umsatzes am Gesamtumsatz des Einzelhandels in Frankreich ist inzwischen auf bemerkenswerte 15% gesunken.8

Und in Luxemburg? Der Konkurrenzdruck wächst auch hierzulande nicht nur digital, sondern auch physisch – und das mehrheitlich auf der grünen Wiese: Zu den aktuell landesweit rund 1000000 m² Einzelhandelsfläche kommen nach clc-Schätzungen bis 2021 etwa 220000 m² hinzu. Nur ein geringfügiger Flächenanteil wird dabei den Innenstädten zugutekommen, der Großteil entsteht abseits der Stadtzentren und wird diese weiter unter Druck setzen. In der Hauptstadt sorgen das Projekt Royal Hamilius und Cloche d’Or für massiven Flächenzuwachs, den es mit Blick auf den Gesamtmarkt erfolgreich zu integrieren gilt.

Hier ist der Blick über den Tellerrand auch von städtischer Seite unerlässlich: Welche Entwicklungsprojekte verfolgen die Nachbarkommunen; was passiert im benachbarten Ausland? Bringt eine Abstimmung, ein koordiniertes Vorgehen alle weiter? Die Überwindung des puren Konkurrenzdenkens mag eine Illusion bleiben, aber in Zeiten, in denen Einzugsgebiete aufgrund der vielfältigen digitalen Versorgungsmöglichkeiten ihre Rolle als zentrale Kennziffer der Handelsprojektentwicklung mehr und mehr einbüßen9, führt die zügellose Flächenentwicklung zu negativen Effekten für die gesamte Einzelhandelslandschaft. Der Begriff „Distanzhandel“ beschreibt es wohl am besten: für den bloßen Kaufakt braucht man heute keine direkte Nähe von Kunden und Händlern mehr.

Handel als Leitsektor und Frequenzbringer der Zukunft?

Eines ist klar: Luxemburg ist ein äußerst dynamischer Markt, der auch in Zukunft stark wachsen wird. Sowohl die Einwohnerzahl wie auch die Zahl der Grenzgänger steigen stetig und sorgen für Nachfragepotential. Dies auszuschöpfen erfordert allerdings ein Umdenken in zwei zentralen Bereichen: Der Handel muss die Verknüpfung von digitaler und physischer Welt weiter vorantreiben, und die Städte und Gemeinden sollten hier eine aktive Rolle spielen – nicht zuletzt aus der Motivation heraus, die Stadt der Zukunft als Lebens- und Arbeitsraum für alle Generationen zu gestalten. Als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens werden unsere Städte ihrer traditionellen Rollen damit sicher auch in Zukunft gerecht. Inwieweit der Handel dabei weiterhin Leitsektor und Frequenzbringer sein wird, entscheidet sich schon bald: Die zukunftsfähige Stadt muss dazu effizientes Einkaufen möglich machen (Stichwort Nahversorgung), muss ihre Kunden kennen (Big Data), muss Lieferkonzepte entwickeln (zur Integration des digitalen Handels), muss das Erlebnis beim Einkaufen möglich machen (Offenheit für verschiedene Shoppingformate) und für eine hohe Aufenthaltsqualität sorgen.

Der urbane Raum ist letztlich keine reine Funktionswelt. Insbesondere die Komponente Handel ist mehr und mehr beeinflusst von der Sehnsucht des Menschen nach Atmosphäre und Identität. Nehmen wir das Beispiel „Wochenmarkt“: Märkte waren immer schon wichtige Nahversorgungspunkte und sind echte Touchpoints. Aber der Markt kann mehr: Erfolgreiche Marktkonzepte werden wieder bewusst als Element städtischer Identität, auch Stadtteilidentität konzipiert, entwickeln sich zum sozialen Treffpunkt auch jüngerer Zielgruppen und zur kulinarischen Institution. So paradox es klingt, aber je mehr wir als Konsumenten in die digitale Welt eingebunden sind, umso mehr wächst die Sehnsucht nach physischer Nähe, nach Erleben, Riechen, Spüren. Städte sind Identitätsorte, sind kommunikative Räume. Die Stadt der Zukunft fördert das Zusammenfließen von Handel, Freizeit, Arbeit und Wohnen und wird der Ort der hybriden Lebenskonzepte.

Damit Städte von heute auch in Zukunft bestmöglich aufgestellt sind, sollten sie die Entwicklungen in der Gesellschaft sowie der Lebens- und Konsumwelt im Blick haben – und das am besten koordiniert und professionell. Die Zusammenarbeit von Stadt und Handel sowie den Akteuren der Stadtgesellschaft muss auf Dauer selbstverständlicher Teil des Selbstreflexionsprozesses der Stadt sein – hin zu einer neuen, zeitgemäßen Form der Urbanität. Dabei steht letztlich nicht der Handel im Mittelpunkt der Stadtentwicklung, sondern der Kunde – mit seinen Bedürfnissen und Wünschen.

 

1 TNS-Ilres/MECO/clc 2015: Umfrage Konsumver- halten Bewohner Luxemburgs, n=1057.

2 TNS-Ilres/MECO/clc 2016: Umfrage Konsumver- halten Bewohner GR, n=1.500.

3 Mattauch, Christine, „Stationär ist nicht tot. Aber stationär wird anders.“, in: handelsjournal, 02, 2017, S. 21.

4 Deutsches Institut für Urbanistik, Online-Handel – Mögliche räumliche Auswirkungen auf Innenstädte, Stadtteil- und Ortszentren, Nr. 8, 2017, S. 73.

5 ebd, S. 73.

6 Hackmann, Mirko, „Verweile bei uns – auch wenn du nichts kaufen möchtest.“, in: handelsjournal, 02, 2017, S. 11.

7 Michael Reink vom Handelsverband Deutschland auf der Erfa-Tagung „Stadtmarketing“ in Ettelbrück März 2017.

8 Pascal Madry, Institut pour la ville et le commerce, Paris.

9 Michael Reink hierzu auf der Erfa-Tagung: „Von prognostizierten Umsatzzahlen kann man 10 % direkt abziehen, die sind heute bereits im Internet gelandet. Die Definition von Kaufkraftpotentialen muss über- dacht werden.“

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