Sternstunde der Demokratie?
Ein Rückblick auf die Referendumskampagne
Das dreifache Nein am 7. Juni macht eine Krise der politischen Repräsentation in Luxemburg offensichtlich. Parteimitglieder und Stammwähler folgten nur begrenzt der Position ihrer Partei — vor allem im Lager der Regierungsparteien (es wird interessant sein, die genauen Zahlen zu analysieren, die uns zu Redaktionsschluss noch nicht vorlagen) dürfte die Diskrepanz groß sein. Doch auch das katholisch geprägte Milieu (CSV einerseits, LCGB, CSJ, Luxemburger Wort und die Kirche andererseits) war in der Frage des Ausländerwahlrechts tief gespalten. Die Gewerkschaften von OGBL bis CGFP äußerten sich ihrerseits spät und zögerlich — vermutlich aus Angst, ihre Mitglieder in dieser Frage zu sehr vor den Kopf zu stoßen.
Damit sind nicht nur die 46% ausländische Bürger in diesem Land politisch nicht repräsentiert — auch ein Großteil der Luxemburger fühlt sich in grundsätzlichen Fragen nicht durch ihre politischen
Mandatsträger vertreten.
Das Misstrauen ist mittlerweile auf beiden Seiten mit beiden Händen zu greifen. Kein Vorwurf war öfter zu hören, als dass man sich als Bürger nicht bevormunden lassen möchte. Kaum eine Forderung, die öfter vorgetragen wurde, als dass Presse, Regierung, Chamber, Vereine usw. neutral und objektiv zu sein hätten — ein Missverständnis über die Rolle dieser Einrichtungen, welches sich niemand die Mühe machte zu entkräften. Wie ein schlechtgelaunter Teenager wandte sich ein Teil der Bürger gegen die „Autoritäten“ des Landes, die ihnen erklären wollten, was gut für sie ist. Das traf die Redaktionen von Tageblatt und Wort genauso schmerzhaft, wie alle Minister, Intellektuellen, Künstler und Wirtschaftsakteure, die sich zum Referendum äußerten.
Eine zweite Tendenz ist ebenfalls sichtbar geworden: Mit der Ablehnung eines fakultativen Wahlrechts für Jugendliche und Ausländer (um zu vereinfachen), zeigen 80% der Wähler, dass sie die Augen verschließen vor einer Entwicklung in der europäischen und Luxemburger Gesellschaft in Richtung wirtschaftliche Globalisierung und demographischen und kulturellen „melting pot“. Und die Parteien vermeiden es tunlichst, ihnen die Augen zu öffnen. Die Kluft zwischen „pays légal“ und „pays réel“ nimmt weiter zu, so dass mittlerweile die Frage erlaubt sein darf, wie verankert (integriert?) ein Großteil der Luxemburger noch in der Realität dieses Landes ist.
Nee 2015
Während es den etablierten „forces vives de la nation“ in diesem Umfeld nicht gelang, für eine notwendige Verbindung von Demokratie und Wirtschaftsentwicklung zu argumentieren, entstand mit „Nee 2015“ eine Initiative, die sich als Stimme der schweigenden Mehrheit (der Nein-Sager) inszenierte. Aufgrund der Zurückhaltung anderer Akteure (etwa der CGFP) und den lautstarken Rufen, das Nein-Lager müsse gleichberechtigt vertreten sein, bekamen Fred Keup und seine drei bis vier Mitstreiter (Genaueres weiß man nicht) eine immense Plattform geboten.
Der Geografielehrer Keup, dessen Kollege Steve Kodesch (der nie in Erscheinung trat), die Biologin Antoinette Welter und der Nationalist George Dessouroux (bekannt aus der rechten Szene der 80er) nutzten das Misstrauen gegenüber der veröffentlichten Meinung. Der Philosoph Paul Kremer gab der Gruppe den intellektuellen Ritterschlag. Es gelang ihnen, das Einwohnerwahlrecht als Elitenprojekt zu verunglimpfen, das dem gemeinen Luxemburger aufgedrängt werden solle. Sie warnten vor einem „Trick“ der Regierung, denn in Wirklichkeit wolle diese nicht nur das aktive Wahlrecht einführen, sondern plane auch das passive Wahlrecht für Nicht-Luxemburger.
Ein Graben in der Gesellschaft?
Die zahlreichen ausländerfeindlichen Kommentare in den Sozialen Medien ließen den Eindruck aufkommen, dass die Kampagne in dumpfe Ressentiments abgeglitten sei und die dunkle Seite der luxem-
burgischen Gesellschaft offenbare. Ein Graben gehe durch die Gesellschaft, war zu hören. Alle Befürchtungen, die vor der Kampagne geäußert wurden, schienen sich zu bestätigen.
Doch lediglich auf die Schreihälse zu achten, wäre falsch. Absolut niemand stellte in der Debatte etwa die doppelte Nationalität in Frage, die im Gegenteil von allen als eine gute Lösung gepriesen wurde. Vergleicht man die Äußerungen dieser Kampagne mit jenen von 1994 in Folge des Maastrichtvertrags, dann relativieren sich die heutigen Sorgen.
Offenbar wurde durch die Debatte jedoch einmal mehr, dass das Zusammenleben eher in einem Nebeneinanderherleben besteht. Viele der ausländischen Einwohner, die in der Presse porträtiert wurden, bedauerten, dass sie keine Luxemburger in ihrem Bekannten- bzw. Freundeskreis hätten. Zum Teil ist die Entfremdung jedoch abstrakter: Auffällig ist, dass in jenen Teilen des Landes, wo verhältnismäßig wenig Nicht-Luxemburger leben, die Ablehnung des Einwohnerwahlrechts noch stärker war. In der Hauptstadt und ihrem Speckgürtel leben dagegen mehr Ausländer, aber die Ablehnung war etwas geringer.
Der soziale Zusammenhalt hat unter dem rapiden Bevölkerungswachstum der letzten Jahre gelitten. Viele erkennen offenbar das Land, in dem sie aufgewachsen sind, nicht mehr wieder. Möglicherweise haben viele Luxemburger aus dem gleichen Grund gegen die Liberalisierung des Wahlrechts gestimmt, aus dem viele ausländische Mitbewohner nicht bereit sind, ihre Nationalität einzutauschen: Sie wollen nicht nationale Identität und Demokratie gegeneinander abwägen. Auch das Misstrauen gegenüber der „Elite“ ist vielleicht das Resultat des parteiübergreifenden Konsenses, die negativen Folgen der Wachstumspolitik gegenüber der Bevölkerung nicht zu thematisieren. Das naive Wording von Toleranz und Offenheit kann die sozialen Ausgrenzungen nicht überwinden. Und diese werden durch das Schul-
system weiter verfestigt.
Was tun?
Als allererstes sollte die Regierung die CSV beim Wort nehmen und das Nationalitätengesetz schnells-tens anpassen: Lockerung der Sprachbedingungen, Wiedereinführung der Naturalisierungsmöglichkeit durch Heirat, automatische Zuerkennung der
Luxemburger Nationalität für hierzulande Geborene. Zwar wird auf diese Weise das demokratische Defizit nicht behoben, denn die Zahl der Neuankömmlinge liegt weit über jener der Anträge auf doppelte Staatsbürgerschaft, aber es ist trotzdem eine große und wichtige Reform.
Man darf hoffen, dass politische Bildung in unserer Schule endlich und konsistent zum Tragen kommen wird. Schön wäre es, wenn die politischen Parteien sich einen „aufklärerischen“, proaktiven Diskurs über den Beitrag der Ausländer zu Wirtschaft und Gesellschaft zu eigen machen würden. Glaubwürdig wären die Parteien damit aber nur, wenn es ihnen gelänge, Ausländer in ihre Reihen und Gremien zu integrieren. Nicht so sehr um den Neen-Leuten Wasser von der Mühle zu nehmen, sondern um des Zusammenhalts und der Kommunikation wegen muss bedeutend mehr in Sprachenpolitik und Sprachenlernen investiert werden. Luxemburgisch ist dabei nur eine der in Luxemburg notwendigen Sprachen. Denn die Abwendung gerade der jungen Luxemburger vom Französischen entwickelt sich zu einem langfristigen Problem für die Gesellschaft.
Schließlich: Die Debatte um die Gesamtrevision der Verfassung muss ohne Aufschub lanciert werden. Teil dieser Debatte muss auch das Wahlsystem sein, dessen übertriebene Personalisierung (Wahlbezirke, Panachage und Ämterhäufung) während der Kampagne in Frage gestellt wurde. Das Nein zur Begrenzung der Ministermandate (das wir begrüßen) kann man in diese Richtung interpretieren. Die neue Diskussionskultur, die mit dem Referendum zweifellos in Gang kam, sollte jetzt schnell und konstruktiv genutzt werden.
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