„Schreiben Sie in Ihrer Zeitung, dass die Drogenabhängigen uns hier das Geschäft kaputt machen!“, ermahnt mich eine Bénéficiaire, die wir während eines Rundgangs mit den Streetworkerinnen des dropIn im Bahnhofsviertel antreffen. Die Toxicos würden die Preise drücken, um schneller an Stoff zu kommen. Sogar das Betrügen von Kunden nehme rezent zu. Früher hätte man hier, unweit des neuen Hauptquartiers der Sécurité Sociale, am Abend schon zwischen 3 000 und 4 000 Euro verdient. Zudem seien die Kunden wesentlich freundlicher gewesen. „Einige würde ich sogar als wahre Gentlemen bezeichnen“, ergänzt sie. Heute könne man sich glücklich schätzen, wenn nur ein Klient Interesse zeige. Mit der Konkurrenz der Internet-Angebote drängt sich derweil die Frage auf, ob sich das Geschäft auf der Straße noch lohne. Dazu käme vermehrt die Nachfrage nach ungeschütztem Sex. Eine Nachfrage, der scheinbar die besagten Drogenabhängigen nachkämen und somit Geschlechtskrankheiten verbreiteten. Dass der Abwärtstrend des Straßen-Business von zunehmender Gewalt seitens der Klienten begleitet wird, lässt die sehr offene und freundliche, aber sichtlich bedrückte Sexworkerin an einer Verlängerung ihres Aufenthalts in der Hauptstadt zweifeln.
Während eines Termins mit dem dropIn zwei Wochen zuvor wirkten die Straßen Richtung Hollerich wie leergefegt. Sogar die Drogendealer hätten sich verzogen, stellte die spezialisierte Erzieherin Eve damals fest. Möglicherweise sei dies auf Polizeieinsätze gegen Drogendealerbanden zurückzuführen. Dennoch trafen wir auf eine Sexworkerin. Als sie feststellte, dass an dem Abend ein Fotograf das Team des dropIn begleitete, überlegte sie zuerst, wegzulaufen. „Meine Familie bringt mich um, wenn sie erfährt, wie ich mein Geld verdiene“, höre ich sie sagen, nachdem Eve sie überzeugen konnte, dass ohne ihr Einverständnis nicht fotografiert wird. Überhaupt wird einem Außenstehenden schnell klar, wie die Streetworker des dropIn arbeiten. Sie kennen die Menschen, gehen auf sie zu, fragen, wie es ihnen geht und erkundigen sich nach Neuigkeiten aus dem Milieu. Auf ihren Rundgängen verteilt das dropIn-Team Kondome, Gleitmittel und Soft-Tampons, die bei Geschlechtsverkehr während der Regel benötigt werden. Zwei Sorten Kondome stehen zur Auswahl: weiße und schwarze, die als äußerst reißfest gelten. Für letztere ist die Nachfrage besonders hoch.

So auch bei einer Dame, die wir vor einem Hauseingang treffen. Sie nimmt gleich zwei Packungen davon, wie die meisten der Sexarbeiterinnen, mit denen wir ins Gespräch kommen. Sie stammt aus Osteuropa und arbeitet auf eigene Faust in Luxemburg. Auch sie will auf kein Foto aus Angst, ihr Bruder könne von ihrer Tätigkeit erfahren. Was laut ihr in dem Fall passieren würde, zeigt sie anhand einer horizontalen Fingerbewegung entlang ihrer Kehle. Nur ihr Sohn wüsste Bescheid, könne ihr aber seither nicht mehr in die Augen blicken. Dennoch freue sie sich auf den geplanten Urlaub in ihrer Heimat.
In einer Seitenstraße neben der Einfahrt eines unterirdischen Parkhauses treffen wir auf eine weitere Sexworkerin, der die Sozialarbeiterin Maud vom dropIn noch nie begegnet ist. Sie erhält die üblichen Utensilien und alle erdenklichen Informationen über die Anlaufstelle des Roten Kreuzes. Sie wirkt abwesend, hat sichtlich mit der Kälte zu kämpfen und ihre Artikulation im Gespräch scheint beeinträchtigt.


Wir ziehen weiter. Maud erklärt, wie sie mit der Trennung zwischen ihrem Job als Sozialarbeiterin und ihrem privaten Leben klarkommt. Musik hören würde ihr beim Abschalten helfen. Diese Trennung sei keine einfache Angelegenheit und mitunter auch ein Grund, wieso nicht jeder dauerhaft in dem Job bleiben kann. Zumal die Streetworker des dropIn stets mit einer positiven Grundhaltung auf ihre Bénéficiaire zugehen. Insbesondere die Begegnungen mit bekannten Personen erwecken den Eindruck, zwei Freundinnen würden sich unverhofft wiedersehen. Es wird laut gelacht, sich in die Arme genommen und Witze gerissen. Es ist auch die Gelegenheit, mit jemandem über das Erlebte zu reden oder „sich auszukotzen“. Vun der Long op d’Zong eben. Dies legt nicht nur eine offensichtliche und gelebte Menschlichkeit aller Beteiligten offen, sondern stellt anhand der vertrauensbildenden Maßnahmen auch eine Grundlage des Streetwork dar. Dass wir schließlich zwei Personen finden, die unter Bewahrung ihrer Anonymität einwilligen, sich fotografieren zu lassen, verwundert deshalb nur bedingt. Ohne jenes gegenseitige Vertrauen wären weder Einblicke in die ohnehin für Außenstehende schwer zugängliche Szene möglich noch deren Evolution beobachtbar.
Gegen Ende des zweiten Rundgangs treffen wir auf zwei weitere Personen. Die eine hat zwar Hausverbot im dropIn, bis die Sache mit der Morddrohung gegenüber einer Angestellten geklärt ist, doch scheint sie dies in keiner Weise davon abzuhalten, Maud sehr herzlich zu grüßen. Die andere Frau fragt nach der Telefonnummer der Anlaufstelle. Sie hatte mit einem gewalttätigen Freier zu tun und denkt über rechtliche Schritte nach. Der blaue Fleck unter dem Auge – ein stummer Zeuge ihrer Realität.
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