Streik in der „Untertanenfabrik“

Die luxemburgischen Schülerproteste vom April 1971

Eine Darstellung über die Schülerproteste vom April 1971 muss den Mai 68 zumindest einleitend erwähnen, stehen beide Ereignisse doch in einem engen Zusammenhang: Wo sich an der Wende zu den 1970er Jahren allmählich jene linksradikale Organisationslandschaft formierte, die das luxemburgische Schulsystem im April 1971 mit einer landesweiten Protestwelle überziehen sollte, war die „spontan[e] Revolte“1 vom 22. Mai 1968 als Erinnerungsort bereits allgegenwärtig. Zugleich dürfen entsprechende Beobachtungen keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass der luxemburgische 68er-Protest im internationalen Vergleich ein geordnetes, nahezu beherrschtes Bild ablieferte: Die Mobilisierung der luxemburgischen Studentenorganisationen – deren Mitglieder größtenteils an den Universitäten des benachbarten Auslands studierten – hatte sich auf bildungspolitische Sachfragen konzentriert und zu keiner Zeit den Bruch mit der politisch-sozialen Nachkriegsordnung gefordert. Auf der programmatischen Ebene war Luxemburgs „Mai 68“ somit erkennbar abgekoppelt von den Mobilisierungen in Frankreich und Westdeutschland: Das neomarxistische Gedankengut, welches die Proteste im Ausland ideologisch unterfütterte, spielte in Luxemburg zu diesem Zeitpunkt noch kaum eine Rolle.

Kritik an der Untertanenfabrik

Erst in den kommenden Monaten und Jahren formierte sich schließlich auch hierzulande ein Diskurs, der die Thesen der „Neuen Linken“ aufnahm, in Teilen der Schülerschaft popularisierte und zu einer radikalen Kritik an der luxemburgischen Nachkriegsgesellschaft entfaltete. Ein zentrales Element dieser Kritik artikulierte sich dabei schon früh in der nun regelmäßig vorgenommenen Deutung des luxemburgischen Schulwesens als einer „Untertanenfabrik“2, einer repressiven Apparatur zur Herstellung gehorsamer Staatsbürger. „Der Schüler“, hieß es etwa in der ersten Ausgabe der Rod Wullmaus vom Februar 1970, „hat kein Mitspracherecht, die Entscheidungen sollen diskussionslos von ihm hingenommen werden. So wird er zum braven passiven Bürger erzogen, der alles über sich ergehen lässt“.3 Die antiquierten, zum Teil im 19. Jahrhundert erlassenen Schulordnungen gerieten dabei besonders stark in die Kritik, eigneten sie sich doch bestens dazu, den vermeintlich autoritären Charakter des luxemburgischen Bildungswesens zu belegen.4 In den Rahmen eines weit ausgreifenden Befreiungsnarrativs eingeflochten, dienten sie den politisierten Schülern als Rechtfertigung ihres „Kampfs“ gegen die Unterdrücker in den Lehrerzimmern: „Wir werden jedoch dieses Schulsystem nicht annehmen“, verkündeten die jungen Aktivisten bereits im Februar 1970. „Gemeinsam mit den progressiven Professoren werden wir der bürgerlichen Schule das demokratische Feigenblatt abreißen und sie den unterdrückten Schülern in ihrer ganzen abstoßenden und reaktionären Nacktheit zeigen.“5

Vor dem Hintergrund dieser ideologischen Radikalisierung des linken Schülermilieus kam es während der Jahre 1968-1970 immer wieder zu kleineren Protestaktionen, doch vor allem zwei Ereignisse hoben den Konflikt ab Mitte der zweiten Jahreshälfte 1970 auf eine neue Ebene. Im Juni 1970 war die fünfte Ausgabe der Rod Wullmaus erschienen, versehen mit einer Reihe besonders vulgärer Karikaturen und Texte. Die Publikation erregte nationales Aufsehen und führte zu Anzeigen gegen die Herausgeber wegen der Verbreitung pornografischen Bildmaterials und der Verunglimpfung einer etablierten Religionsgemeinschaft.6 Aus Sicht der linksradikalen Schülergruppen wurde die staatliche „Repression“ nun immer evidenter; in ihren Bewegungszeitschriften mehrten sich die Zensurvorwürfe.

Die Affäre Zimmer führt zur Eskalation

Die Situation war also bereits angespannt, als ein Geschichtslehrer des Lycée Classique Diekirch am 24. März 1971 den Schüler Marcel Lang nach einem Streit tätlich angriff und vom Unterricht suspendierte.7 Mit diesem Ereignis, von den linksradikalen Schülergruppen in Anspielung auf den Namen des Lehrers als „Affäre Zimmer“ bezeichnet, begann eine Eskalationsspirale, welche schließlich Ende April zu den bis dato größten Jugendprotesten in der luxemburgischen Nachkriegsgeschichte führen sollte. Die „Schülerfront“ verstärkte zunächst ihre Agitation in Diekirch, um die Bevölkerung auf die „Affäre Zimmer“ aufmerksam zu machen. Eine weitere Flugblattaktion am 31. März endete daraufhin in einer regelrechten Schlägerei zwischen Zimmer und dem Schülerfront-Aktivisten John Denel.8 Als Ben Molitor, Direktor des Lycée Classique Diekirch, am 19. April 1971 vier weitere Schüler vom Unterricht beurlaubte, nachdem diese Flugblätter der „Schülerfront“ auf dem Schulgelände verteilt hatten, kam es zu ersten Protesten. Bereits am Folgetag versammelten sich 400 bis 500 Schüler in der Aula des klassischen Gymnasiums, um ihre Solidarität mit den suspendierten Schülern zum Ausdruck zu bringen; ein kurzfristig gegründetes Aktionskomitee rief zudem für den 21. April zum Unterrichtsboykott auf. Blieb dieser erste Streik mit etwa 300 Teilnehmern noch zahlenmäßig überschaubar, weitete sich die Bewegung in den nächsten Tagen schnell auf Esch und Luxemburg-Stadt aus.9 Auf dem Höhepunkt der Proteste demonstrierten am 27. April 1971 schätzungsweise 4.000 Schüler für die „politische Meinungsfreiheit“ in den Schulen, die Einstellung des Gerichtsverfahrens gegen die Wullmaus-Herausgeber und die Aufhebung der Disziplinarmaßnahmen gegen die Schülerfrontaktivisten.

Die Organisatoren der Proteste berichteten in den Tagen darauf euphorisch über den Erfolg ihrer Mobilisierung: „Die Gauche Socialiste et Révolutionnaire (GSR)“, hieß es etwa in einer Sonderausgabe der Rod Wullmaus von Ende April 1971, „begrüsst aufs nachdrücklichste den Streik der Luxemburger Schüler, den sie als wichtige Etappe im Kampf gegen die bürgerliche Schule ansieht, und der damit einen grossen Beitrag leistet in der allgemeinen Klassenauseinandersetzung zwischen Proletariat und Bourgeoisie“.10 Entsprechende Texte spiegeln die Zufriedenheit des linksradikalen Schülermilieus angesichts ihrer zahlenmäßig eindrucksvollen Mobilisierung, dürfen jedoch zugleich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Justiz und Verwaltung in den kommenden Wochen kaum einer der aufgestellten Forderungen nachkommen sollten. Die vom Großen Disziplinarrat des Diekircher Lyzeums verhängten Strafen gegen die Schülerfrontaktivisten traten unverändert in Kraft; die Schüler waren damit für die Dauer von zwei (Grün), vier (Denel) und zwölf Wochen (Stoos, Lang) vom Unterricht suspendiert.11 Drei Referendare, welche sich mit der Protestbewegung solidarisiert hatten, wurden im Herbst desselben Jahres strafversetzt; zuvor war bereits der linkspolitisch engagierte Lehrer Guy Rewenig vom Gemeinderat der Stadt Bettemburg entlassen worden.12 Vor allem jedoch die gerichtliche Verurteilung der Wullmaus-Autoren Heisbourg, Medernach und Goergen veranschaulicht das entschlossene Vorgehen der staatlichen Stellen gegen die Exponenten des linksradikalen Schülermilieus. Nach zwei Verhandlungstagen waren die Angeklagten am 26. Mai 1971 zur Zahlung einer Strafe von je 7000 Franken, Goergen und Heisbourg darüber hinaus zu einem Monat Haft auf Bewährung verurteilt worden. Ausschlaggebend waren die Artikel 11 und 12 des Pressegesetzes von 1869 gewesen,13 demzufolge sich die Wullmaus-Herausgeber des „outrage aux bonnes mœurs“ und der Verunglimpfung eines „culte établi“ schuldig gemacht hatten.14 Befunde wie diese sind es, welche das Forschungsnarrativ einer gesellschaftlichen „Fundamentalliberalisierung“15 im Gefolge der 68er-Bewegung für den luxemburgischen Fall zumindest punktuell relativieren.

Die Folgen von 71

Dennoch wäre es falsch, den Protesten vom April 1971 ihren zentralen Ort in der Geschichte der luxemburgischen Nachkriegsdemokratie abzusprechen. Die Mobilisierung selbst mochte in den kommenden Wochen rasch zum Erliegen kommen, ihr dogmatischer Marxismus bald bloß noch ein Schattendasein im Milieu der luxemburgischen K-Gruppen fristen (bevor sich auch diese gegen Ende der 1970er Jahre auflösten). Was hingegen weiterlebte, war das fundamentale, im Selbstbestimmungsethos der 68er-Generation wurzelnde Unbehagen an einem Demokratiemodell, welches für den einfachen Bürger in letzter Instanz darauf hinauslief, „dass er die Politik den Berufspolitikern überlässt“.16 Wo luxemburgische Umweltaktivisten in den kommenden Jahren den Widerstand gegen das AKW Remerschen organisierten und die Akteurinnen der Neuen Frauenbewegung für eine Reform des veralteten Eherechts mobilisierten, war das Streben nach einer politischen Ordnung, in der die Bürger weniger delegierten und mehr selbst bestimmten, längst in die Diskurse der bürgerlichen Mittelschicht vorgedrungen. Die historische Bedeutung der Bewegung vom April 1971 – so ließe sich an dieser Stelle bilanzieren – liegt demnach weniger in kurzfristigen Erfolgen begründet, als vielmehr in ihrer Wegbereiterfunktion für die „neuen“ sozialen Bewegungen der späteren 1970er Jahre.

  1. „Die Schule und die bürgerliche Gesellschaft“, in: d‘Rod Wullmaus, 1, Februar 1970, S. 11.
  2. Generalversammlung des CLAN-KSB, „Politisches Grundsatzprogramm des CLAN – Kommunistischer Schülerbund“, in: d‘Rod Wullmaus, 12, März 1971, S. 7-8.
  3. „Die Schule und die bürgerliche Gesellschaft“, in: d‘Rod Wullmaus, 1, Februar 1970, S. 12.
  4. „Über die Funktion unseres Schulreglements“, in: ebd., S. 14.
  5. „Die Schule und die bürgerliche Gesellschaft“, a.a.O.
  6. Ronald Pierre, „Chronologie der Jugendradikalisierung in Luxemburg 1968-1973“, in: forum 103, Mai 1988, S. 32-35.
  7. „Tribune Libre“, in: Lëtzebuerger Journal, 27. April 1971, S. 6-7.
  8. Ebd.
  9. „Die Streikbewegung in Esch. Mit Zeittafeln“, in: d‘Rod Wullmaus, Sondernummer „Streik“, April 1971, S. 10.
  10. Politisches Büro der Gauche Socialiste et Révolutionnaire, „Adresse des Politbüros der GSR an das Streikkomitee“, in: ebd., S. 2.
  11. Pierre, „Chronologie der Jugendradikalisierung“, a.a.O., S. 34.
  12. Jean-Marie Meyer, „Der Fall Rewenig. Die Massregelung eines progressiven Schullehrers“, in: d‘Lëtzebuerger Land, 23. Juli 1971, S. 5.
  13. „Loi du 20 juillet 1869 sur la presse et les délits commis par les divers moyens de publication“, in: Mémorial A, Journal Officiel du Grand Duché de Luxemburg, 26, 1869, S. 361.
  14. Die Rod Wullmaus druckte die Urteilsbegründung in ihrer Sonderausgabe vom Juni 1971 im Volltext ab, vgl. „Das Urteil im RWM-Prozess und seine ‚Begründung‘“, in: d‘Rod Wullmaus, Sondernummer „DRW-Prozess“, Juni 1971, S. 23-29.
  15. Hubert Kleinert, „Mythos 1968“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 14/15, 2008, S. 8–15, hier: S. 15.
  16. „Über die Funktion unseres Schulreglements“, in: d‘Rod Wullmaus, 1, Februar 1970, S. 14.

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