Struwwelpeters Vermächtnis
Kinder- und Jugendliteratur Eine Annäherung an eine Erfolgsgeschichte
Kaum etwas ist so prägend, wie die Bücher unserer Kindheit. Sie sind eine eigenwillige Spielart der Literatur, vielfältig und verästelt wie das Wunderland. Oft belächelt und unterschätzt, manches Mal hinter ihren Möglichkeiten, manches Mal in ungekünstelter Weisheit weit voraus. Kinder- und Jugendliteratur: Sie erzählt von sich wandelnden Sitten, Erziehung und Moral, der Entdeckung der Kindheit, der Verklärung des nie Gewesenen und der Macht der Fantasie. Eine Spurensuche.
Wann hat es Sie zuletzt in die Kinderabteilung einer Buchhandlung oder Bibliothek verschlagen? Womöglich erachten Sie dies als tendenziell unangemessen. Sie sind schließlich deutlich größer, als die Durchschnittsbesucher, die mit ihren fest umklammerten Fundstücken auf Nimmerwiedersehen in die Höhle der Leseecke verschwinden. Nun, Sie sind halt erwachsen. Aber es ist dennoch nicht uninteressant, sich einmal zurück in die Bild- und Wortwelten der Kindheit katapultieren zu lassen. Viele der angebotenen Bücher werden für Sie alte Bekannte sein. Auch, wenn Ihre Kindergarten- und Schulzeit womöglich schon Jahrzehnte zurückliegt. Pippi bleibt an Bord. Die Fünf Freunde erleben immer noch pünktlich ab Ferienbeginn Abenteuer und auch die Unendliche Geschichte trägt ihren Titel durchaus zu Recht. Dazwischen mischen sich neue Helden. Sie heißen Grüffelo, Greg, Harry oder Katniss. Enchanté! Unter dem Schlagwort Kinder- und Jugendliteratur findet sich eine derart eindrucksvolle Reihe von Werken für unterschiedliche Altersstufen, dass eine gewisse Verwirrung kaum ausbleibt. Grob lassen sich drei Hauptgattungen festhalten: Bilderbücher, Kinderbücher, die bis zu 180 Seiten umfassen, und ab circa 12 Jahren das Jugendbuch. Dass es heute diese Bandbreite an Literatur für Heranwachsende überhaupt gibt, ist keineswegs selbstverständlich.
Ohne Kindheit, keine Kinderbücher
Kinderliteratur, die zum reinen Vergnügen kleiner Leser verfasst wurde, gab es in Europa erst ab dem späten 18. Jahrhundert. Die Wurzeln reichen allerdings Jahrtausende zurück und umspannen Kontinente. Lieder, Reime, Fabeln und Mythen wurden mündlich überliefert. Die Texte richteten sich nicht ausschließlich an Kinder, aber es ist anzunehmen, dass auch kleine Zuhörer ihnen gebannt lauschten: ob Äsops Fabeln, den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht oder Liedern über ritterliche Aventüren, in denen es von Drachen und kühnen Helden nur so wimmelte. Es wurden zu jeder Zeit Motive und Stoffe gewoben, die auch heute noch im großen Baukasten der Literatur ihren festen Platz haben.
Kindheit und Jugend als eigene Lebensabschnitte – als schützenswerter Raum des Wachsens und Ausprobierens? Dieses Bewusstsein kam erst im Zuge der Aufklärung auf. Kinder wurden zuvor in der Regel als kleine Ausgabe eines Erwachsenen betrachtet. Diskussion weitgehend beendet. In der Renaissance galten Kinder dagegen gar als dumm, schwach und unvollkommen. Mit einer strengen Erziehung bestand aber erfreulicherweise die realistische Chance auf Besserung. Als Entdecker der Kindheit gilt der Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau, der nebenbei bemerkt seine eigenen fünf Kinder ins Waisenhaus gab. Er veröffentlichte 1762 den Bildungsroman Émile oder über die Erziehung. Dort erzählt er die fiktive Geschichte des Knaben Émile. Fernab von gesellschaftlichen Zwängen verbringt er seine Kindheit. Dabei lässt man ihm vor allem eines: Freiheit zur Selbstentfaltung. Der Junge lernt nicht durch Belehrung oder Strafe, sondern durch Spielen und Toben. Erstmals wird hier Erziehung aus der Sicht des Kindes betrachtet. Auch Bücher bekommen im Zuge dieses radikalen Perspektivwechsels einen neuen Stellenwert. Die Kinderliteratur wird erfunden.
Haarsträubend bis heiter: Der Struwwelpeter (1845)
Das erste erzählende Buch für Kleinkinder war dann auch gleich ein derart ansprechender Schocker, dass es weltweit erfolgreich wurde. Wir schreiben das Jahr 1844. Der Kinder- und Nervenarzt Dr. Heinrich Hoffmann sucht nach einem Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn. Ein Buch sollte her, was sich allerdings als verzwicktes Unterfangen herausstellte. So schreibt der geplagte Vater: „Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen“. Da half nur eines: Handarbeit made by Papa. Die Entzückung, die seine skurrilen Zeichnungen und Verse im Bekanntenkreis auslösten, ermutigten Hoffmann, das Werk zu veröffentlichen. Allerdings zunächst unter dem Pseudonym Reimerich Kinderlieb und dem Namen Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3-6 Jahren. Gut, ob die Geschichten „lustig“ und die Bilder „drollig“ sind, war schon zu Hoffmanns Lebzeiten heiß umstritten.
Sicher, die jungen Leser sollten vor den Folgen kindlichen Leichtsinns und Ungehorsams gewarnt werden. Doch die grotesken Erzählungen sind so überzogen, dass auch Kinder irgendwann ahnen, dass hier nicht immer alles ganz so ernst gemeint ist. Manche düstere Moral erscheint dann auf einmal augenzwinkernd parodierend.
Und ewig grüßt das Urmeltier
Sie haben keine Krumuluspillen im Haus, nehme ich an? Wenn man der Rebellin in Ringelstrümpfen Pippi Langstrumpf Glauben schenken kann, sorgen sie zuverlässig dafür, dass man ewig Kind bleibt. Das hat zwar Vorteile, kann aber auch dazu führen, dass unter Ihrem Bett mit großer Wahrscheinlichkeit wieder ein Monster haust und dass Sie nie so genau wissen, wer oder was Sie eigentlich sind. Sie würden sich vielleicht daran erinnern, dass Erwachsenwerden kein Kinderspiel ist. Kindheit soll möglichst unbeschwert sein, was nicht heißt, dass sie es immer ist. Wo wir bei einer der heikelsten Fragen sind: Was ist gute Kinderliteratur? Welche Geschichten kann, soll oder muss man Kindern an die Hand geben, die sie durch das Labyrinth des Erwachsenwerdens begleiten? Was ist womöglich (un-)pädagogisch wertvoll? Was fördert die Fantasie, was Alpträume? Und wer hat darüber die Deutungshoheit?
Fangen wir im zarten Frühbuchalter an. Die Einstiegsdroge in die Welt der Bücher heißt in der Regel „Objektbuch“. Ein Genre, das übrigens der luxemburgische Fotograf Edward Steichen mit seinem Werk Das erste Bilderbuch – Alltägliche Dinge für Kleinkinder im Jahr 1930 revolutionierte. Sie bilden die kindliche Umgebung ab und sind im Idealfall möglichst bissfest. Bis erste Geschichten ihren Zauber versprühen. Wie sehr Bücher Halt vermitteln können, zeigt sich jetzt am Phänomen Vorlesen. „Bitte nochmal vorlesen, Mami!“: Kindern macht es in einem gewissen Alter große Freude zu wissen, was in einer Erzählung als nächstes passiert. So sehr, dass sie denselben Text immer wieder hören möchten. Immer wieder. Und wehe ein Wort wird im Zuge eines allzu sorglosen Vortrags geändert. Da verstehen kleine Zuhörer in den seltensten Fällen Spaß. Lieblingsgeschichten müssen korrekt sein. Nur so vermitteln sie Sicherheit – und sind ein Anker für nächste Entwicklungsschritte. Der Vorteil von Bilderbüchern gegenüber anderen Medien liegt dabei klar auf und in der Hand: Der Rezeptionsrhythmus kann beim Blättern selbst gewählt und somit individualisiert werden. Er wird nicht von außen diktiert. Das eröffnet Räume. Räume zum Wirken lassen, Räume zum Weglassen und Räume zum Reden.
Monster, Hexen und andere beste Feinde
Neben der langen Reihe der Kinderbücher rund um angemessenes Sozialverhalten, Hygiene und Umsichtigkeit, gibt es dazwischen immer wieder Werke, die anders sind. Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak ist so ein Bilderbuch. Der Klassiker aus dem Jahr 1963 galt bei seinem Erscheinen als gruselig bis allgemein befremdlich. Dass ein Kind auf eine Horde Monster trifft, sie zähmt und ihr König wird, entzückte weder Rezensenten, Eltern noch Lehrer. Etwa zwei Jahre dauerte es, bis die Faszination erkannt wurde, die das Buch auf Kinder ausübte. So schrieb ein Achtjähriger an den Autor: „Wie teuer ist die Reise dahin, wo die wilden Kerle wohnen? Wenn es nicht zu teuer ist, wollen meine Schwester und ich dort den Sommer verbringen.“ Mittlerweile wird das Werk zu den besten Bilderbüchern aller Zeiten gezählt.
Es ist kein Geheimnis: Kinder gruseln sich in einem gewissen Rahmen durchaus gerne. Im Prinzip gilt die gleiche Regel wie auch für Erwachsenenliteratur: Eine Geschichte ohne Spannung und Tiefen hat selten Höhen. Das betrifft auch die im Kindesalter unumgehbaren Märchen. Besonders die Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen werden in der Originalfassung gelegentlich als zu grausam angesehen. Gut gemeinte entschärfte Fassungen triefen dagegen oft vor jener banalen Niedlichkeit, die manche schon Ausschlag bekommen lässt, wenn sie den Namen „Dornröschen“ nur hören. Dabei können Märchen ziemlich viel, wenn man sie lässt. „Märchen sind ein kollektiver Traum“, schreibt der Literaturwissenschaftler Max Lüthi. Mitunter auch ein kollektiver Alptraum, denn sie vereinen die Kernessenzen der menschlichen Erfahrung und schürfen tief im Unterbewusstsein. Dabei ist wahrscheinlich Hänsel und Gretel jene Geschichte, die den Prozess des Erwachsenwerdens am intensivsten beleuchtet: Angst vor Trennung, Angst vor Dunkelheit, Vernichtungsangst. Sie werden durch eigene Kraft überwunden, durch Ablegung der Unmündigkeit, Cleverness und Zusammenarbeit unter Gleichaltrigen. Märchen wohnt ein Versprechen inne. Bei aller Schmerzhaftigkeit bleibt stets die Gewissheit, dass am Ende die erlösende Katharsis einsetzt. Nach dem Märchenprinzip funktionieren zahlreiche bekannte Werke der Kinder- und Jugendliteratur wie Momo, Krabat oder Die Brüder Löwenherz. Sie vereinen im Fantastischen immer auch eine gewisse Tiefgründigkeit, die auch viele Erwachsene noch anspricht.
Bücher gehen in Serie
Redet man über Kinder- und Jugendbücher, kommt man um das Phänomen Buchserie nicht herum. Geschichten rund um Freundschaft, Clubs oder Schule erfreuen sich zeitloser Beliebtheit. Von den Fünf Freunden bis Hanni und Nanni: Die englische Schriftstellerin Enid Blyton ist sicherlich eines der prominentesten Beispiele für Erfolg in Serie. Sie verfasste an die 800 Kinderbücher, die sich allein bis zu ihrem Tod 600 Millionen Mal verkauften.
Neben Klassikern, die immer noch ihre Faszination ausüben, erobern heute Buchreihen wie die Comicromane Greg’s Tagebuch die Jugendzimmer, die sich auf ganz eigene Art den Wirren des Erwachsenwerdens widmen. Manche sehen darin mit professioneller Besorgnis den Trend, dass die Generation Smartphone über Comics und „Häppchenlesen“ möglicherweise bald nicht mehr herauskommt. Andere loben, dass die Bände die Leser ernst nehmen und aus der Sicht eines jugendlichen Protagonisten verfasst sind. Ein erzählerischer Kniff, den es in der Geschichte der Kinderliteratur noch gar nicht so lange gibt. Dass Kinder und junge Erwachsene auch dicke Schmöker keineswegs scheuen, zeigte sich wohl am eindrucksvollsten an der Harry Potter-Reihe. 500 Seiten? Kein Ding, wenn die Story stimmt. So ziemlich alle bewährten Erfolgsbausteine wurden hier unter den Zauberhut gebracht: Magie, Mystik, Internat- und Detektivgeschichte.
Und was ist nun ein gutes Kinderbuch? Halten wir es wie Astrid Lindgren, nicht selten als Grande Dame der Kinderliteratur bezeichnet. Für sie ist der Fall so einfach wie klar: „Wenn mich jemand fragt, was fordert man von einem guten Kinderbuch, dann antworte ich:
Dass es gut ist.“
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