Studieren und Barrierefreiheit

Stolpersteine auf dem Weg zur Barrierefreiheit und wie sie aus dem Weg geräumt werden könnten

Frank Hofman lässt durchaus kritische Töne anklingen, wenn er im vorherigen forum einen philosophischen Blick auf den neuen Campus der Universität Luxemburg in Esch-Belval richtet. Er hebt in Aufschlüsselung einer akademischen Bildungsstätte den gegenseitigen Austausch ohne Ansehen von Geschlecht, Rasse, Nationalität oder Religion als konstituierend hervor. Zudem spricht er politisch-ökonomische Interessen als potentielle Störfaktoren an, die es möglicherweise erschweren, diesen Ort zu einer Universität im wahrsten Sinne des Begriffs zu machen. Im vorliegenden Artikel wird der Fokus auf Fragen der Inklusion im akademischen Bildungsfeld gerichtet.

Erst Studierende wie auch Mitarbeiter/innen machen in all ihrer Verschiedenheit eine Universität zu einem Ort der sozialen und wissenschaftlichen Zusammenkunft, doch ist der Weg dorthin für jede und jeden auch wirklich barrierefrei? Es ist für viele Menschen ohne Behinderungen bisweilen schwierig, sich in die Situation des „Behindert-Werdens“ zu versetzen. Die offengelassene Schranktür auf dem Flur, der in kleiner Schrift ausgedruckte Raumbelegungsplan, die beiseitegelegte Mikrofonanlage oder das am Geländer einer Rampe angekettete Fahrrad, das Parken auf einem Parkplatz, der für Personen mit eingeschränkter Mobilität vorgesehen ist,…können ernste Hindernisse darstellen. Diesbezügliche Sensibilisierungen und Aufklärungen sowie progressive Baumaßnahmen könnten solche Situationen verringern oder gänzlich vermeiden helfen.

Leges sine moribus vanae

Auf dem Boden einer humanistischen Perspektive und menschenrechtlich durch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (VN-BRK, 2006) verankert, stellt der Einbezug von Menschen mit Behinderungen in die oben skizzierte akademische Gemeinschaft eine aktuelle Herausforderung dar. Ganz basal betrachtet geht es darum, den Campus Esch-Belval und seine Infrastrukturen möglichst barrierefrei und zugänglich für alle zu gestalten. Doch bereits wenn man sich an der Universität Luxemburg als neuankommende Studentin oder Student persönlich an den Service des études et de la vie étudiante – Studierendendienststelle wenden will, werden die architektonischen, infrastrukturellen und technischen Hindernisse offensichtlich: Beispielsweise rollstuhlfahrende Personen oder auch Menschen, die Blinden-Leitsysteme benötigen, erreichen das Büro nicht ohne fremde Hilfe. Der offizielle Weg führt über Treppen, welche längst nicht nur für die nun benannten Gruppen ein Problem darstellen können. Es gibt zwar einen Aufzug im Gebäude, dieser kann jedoch nur von Inhabern eines elektronischen Schlüssels zur gewünschten Etage befördert werden. Hinweise auf einen barrierefreien Weg sucht man vergebens.

Die Liste der Herausforderungen und Barrieren für Studierende mit Beeinträchtigungen lässt sich noch weiter fortsetzen: In den Auditorien können Personen, die Rollstuhl fahren, in der Regel nur aus der letzten Reihe an der Vorlesung teilhaben, da kein anderer Platz erreichbar ist, was mache solidarische Kommilitonen dazu verleitet, auch ganz hinten zu sitzen. Ähnliche Schwierigkeiten der Bewegung haben studierende Eltern, die den Hörsaal mit einem Kinderwagen betreten. Den Wegen auf dem Universitätsgelände zwischen den Gebäuden und Infrastrukturen, sowie zu den Anbindungen zum Nahverkehr mangelt es an Leitsystemen für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen. Automatisierte, barrierefreie Türen lassen sich kaum finden, wie auch bisweilen barrierefreie Toiletten die Funktion von Abstellkammern erfüllen und so den Zugang erschweren. Eine ausreichende Beschilderung, welche auf Parkplätze für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen hinweist, fehlt ebenfalls.

Barriere jenseits der Architektur

Neben der architektonischen Barrierefreiheit stellt sich die Frage der Zugänglichkeit aber auch über Assistenzangebote und spezifische Vorkehrungen für Studierende mit Behinderungen im Bereich des Lernens und Lehrens. Wir haben in Luxemburg seit 2011 ein Gesetz, das Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen (accommodations raisonnables) für Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen im postprimären Bildungssystem bereitstellt. Es gibt jedoch weder einen Automatismus dafür, dass diese Maßnahmen auch im tertiären Bildungssystem weitergeführt werden, noch existiert auf nationalem Niveau ein Gesetz, das betroffenen Studierenden ein Recht auf Nachteilsausgleich oder Anpassungen auf der Grundlage einer bestehenden Behinderung einklagbar zugesteht.

Bisher werden Anträge auf Nachteilsausgleich und spezifische Vorkehrungen an der Universität stets als Einzelfälle betrachtet und es wird nach adhoc-Lösungen gesucht. Die Anträge konnten, soweit diesbezügliche Rückmeldungen vorliegen, bisher stets in Übereinkunft mit den Studierenden und den Dozierenden zufriedenstellend gelöst werden. Es bleibt jedoch die Problematik, dass sich Studierende hier in einer „Bittsteller“-Position sehen und die so erhaltene Zugänglichkeit nicht als Rechtsposition, sondern als goodwill erleben.

Rein quantitativ betrachtet, studierten in den vergangenen Jahren im internationalen Vergleich nur wenige Personen mit Behinderungen an der Universität Luxemburg. Deren Zahl erhöht sich zwar stetig, verharrt jedoch meist um die 1%. Dies hat unter anderem auch mit den hoch selektiven Bildungssystemen insgesamt zu tun, aber ohne die Barrieren in Strukturen und Köpfen zu reduzieren, wird es kaum möglich sein, die Übergänge in die tertiäre Bildung in Luxemburg nachhaltig zu fördern. Auch die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung ist eine Dunkelziffer geblieben.
Nur guter Wille statt Design für alle?

Auf diese problematische Situation am Standort ist bereits in der lokalen Presse verwiesen worden, ohne dass sich grundlegend eine durchgehende Barrierefreiheit, eine Verwirklichung des „Design for All“ etabliert hätte. Dies ist umso unverständlicher, gibt es in unserem Land doch bereits das seit 1998 verhandelte und seit 2001 gültige Gesetz, wonach die Zugänglichkeit aller Gebäude vorgesehen ist, die für öffentlichen Publikumsverkehr zugelassen sind. In diesem Gesetz wird unter anderem bestimmt, dass kein dem öffentlichen Gebrauch gewidmeter Neubau genehmigt werden dürfe, wenn nicht die im zugeordneten großherzoglichen Reglement niedergeschriebenen Normen erfüllt werden. Dort findet man z.B. klare und eindeutige technische Ausführungsbestimmungen für Blindenleitsysteme, die man an zentralen Stellen des neuen Campus der Universität Luxemburg in Esch-Belval bisher vergebens sucht.

Im Nationalen Aktionsplan der Umsetzung der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen wies die damalige Ministerin für Familie und Integration, Marie-Josée Jacobs auf die Notwendigkeit der Gestaltung barrierefreier und der Philosophie des „Universal Design“ verpflichteten Bauweise hin. Es müsse vermieden werden, dass Menschen mit Behinderungen dem Wohlwollen anderer Menschen ausgesetzt sind, was ihre Möglichkeiten angeht, ein öffentlich zugängliches Gebäude zu nutzen. Die Bedeutung der Zugänglichkeit von öffentlichen Angeboten jedweder Natur dürfe nicht mehr in Frage gestellt werden. Das Prinzip des „Design for All – Universelles Design“ solle zum Standard werden. Barrierefreies Design müsse bei Auftragsvergaben vorausgesetzt werden; so werde innerhalb von kürzester Zeit „Universelles Design“ selbstverständlich. Leider hat sich diese Erwartung nicht nur für den Standort der Universität Luxemburg in Esch-Belval bisher noch nicht erfüllt, vielleicht auch, weil die im Nationalen Aktionsplan angekündigten schärferen Kontrollen und Sanktionen bei Verstößen gegen die Vorschriften noch nicht realisiert wurden.

Interessant ist insbesondere der Bezug, den der nationale Aktionsplan zwischen Barrierefreiheit und Inklusion herstellt: Inklusion, so heißt es im Aktionsplan, müsse als gesamtgesellschaftliches Projekt verstanden werden und setze Infrastrukturen voraus, die das Prinzip des „Design for All“ respektieren. Ziel sei es, langfristig Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen zum Standard zu machen. Dazu gehört ohne Zweifel auch das „universitäre Leben“, einschließlich Sport- und Freizeitmöglichkeiten, die für Studierende mit Beeinträchtigungen zugänglich zu gestalten sind, jedoch am Standort Belval bisher kaum bis gar nicht vorhanden sind.

Wo liegen die Lösungen?

Inklusionsförderlich und positiv hervorzuheben ist die aktuelle Gesetzesinitiative, wonach Studierenden mit anerkannten Behinderungen zukünftig zwei zusätzliche Semester (kredit-)finanziert werden können.  Aber damit ist die Arbeit längst nicht getan. Ein aktuelles Beispiel, wie eine nach den Prinzipien der Barrierefreiheit errichtete Universität aussehen könnte, zeigt der Standort der Wirtschaftsuniversität Wien.  Jenseits von Best Practice-Beispielen kann die Universität Luxemburg jedoch auch folgenden Punkten besondere Beachtung schenken:

Aufnahme- und Zulassungsprozeduren

Barrierefreie Hochschule beginnt mit der Aufnahme und der Forderung, hier Quoten oder Bonus-Regelungen in den von der Universität zu gestaltenden Zulassungsprozeduren als Nachteilsausgleich bei Personen mit Behinderungen einzubauen. Angedacht sind Regelungen für die Universität Luxemburg in toto, spezifisch ausgestaltet in der Verantwortung der einzelnen Fachbereiche. Bei Berücksichtigung der Bologna-Festlegungen sollten Bonusregelungen oder Quoten auch für den Übergang von Bachelor zu Master-Studiengängen und PhD (Promotionsstudien) gelten. Auch sollten, soweit dem nicht zentrale Studieninhalte entgegenstehen, alternative Assessmentmodalitäten bei Bedarf ermöglicht werden können.

Barrierefreiheit als Thema in Forschung und Lehre

Ein wesentlicher Aspekt der Sicherstellung nachhaltiger Entwicklung im Sinne der Barrierefreiheit liegt in der Integration des Konzeptes in Forschung und Lehre. Nicht nur explizit in den Disability Studies und in den sozial-, erziehungs- und humanwissenschaftlichen Disziplinen sollten Barrierefreiheit und „behindert werden“ thematisiert werden, sondern gerade auch in der Architektur, den Ingenieurswissenschaften und Informations- wie Rechtswissenschaften ist eine Sensibilisierung für Belange von Menschen mit Behinderungen wünschenswert und hilfreich für eine weitest gehende Inklusion.

Die Universität hat neue Professuren in der Architektur und „Inclusion and Diversity“, die solche Innovationen befördern können. Die gesetzlich prioritär hervorgehobene Inklusion im Schulsystem erfordert Lehrkräfte, die der Inklusion offen gegenüberstehen und über fundierte Kompetenzen im Umgang mit Vielfalt verfügen. Das muss in der universitären Ausbildung sichergestellt werden. Die konkrete Umsetzung des „Universal Design“ im Bereich der Lehre diskutieren Orr und Bachman-Hammig (2009) und heben unter anderem die mehrdimensionale Darbietung des Lernstoffes und die Ansprechbarkeit (approachability and empathy) der Dozierenden hervor. Forschungsfelder stellen insbesondere die Zugänglichkeit zu Bildungsangeboten und die Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen dar.

Unterstützung der sozialen Integration

Von nicht zu vernachlässigender Bedeutung für den Studienerfolg ist die soziale Integration der Studierenden mit Behinderungen. Begegnungsmomente und Möglichkeiten des Zusammenkommens sollten angeregt und unterstützt werden, etwa durch die Organisation barrierefreier kultureller und sportlicher Aktivitäten. Wohnangebote der Universität sollten vorrangig keine speziellen Wohnheime bereitstellen, sondern vielmehr den grundsätzlich barrierefreien Zugang überall ermöglichen und innerhalb eines Gebäudes behindertengerechte Appartements vorhalten. Betreuungseinrichtungen der Universität für Kinder sollten ebenfalls grundsätzlich integrativ und inklusiv ausgelegt sein.

Studieren mit Behinderungen und Mobilität

Das an der Universität Luxemburg vielfach vorgeschriebene Auslandssemester sollte auch für Studierende mit Behinderungen realisiert werden können. Eine Dispensierung hiervon darf nicht automatisch auf Grund des Vorliegens einer Behinderung erfolgen, sondern nur in begründeten Ausnahmefällen genehmigt werden. Dies bedarf aber andererseits der Sicherstellung, dass im Aufnahmeland und der Gastuniversität ein barrierefreies Studieren ebenfalls möglich ist. Entsprechende Informationen und Forderungen an Kooperationspartner sollten integraler Bestandteil der Mobilitätskontrakte werden. Hierfür stellt die Charta Studieren mit Behinderungen in der Großregion  bereits einen international beachteten Meilenstein dar, dessen konsequente Umsetzung jedoch eines kontinuierlichen Monitoring bedarf.

Die zukünftigen Planungen der Universität sollten den Aspekt der Barrierefreiheit ebenso als selbstverständlich aufnehmen, wie rechtliche oder technische Bestimmungen. Vielleicht ist dies der Initialfunke für eine inklusivere und zugänglichere Universität, die ihr Leuchtfeuer weit über Luxemburg und die Großregion hinaus ausstrahlen möge.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code