Superkuh als Superjournalist?

Sensorjournalismus als neuer Datenjournalismus

Am 15. Oktober 2018 wurde einer Kuh der von den deutschen Industrie- und Handelskammern gestiftete Ernst-Schneider-Preis für Wirtschaftsjournalismus verliehen. Ja, Sie haben richtig gelesen – das Medienuniversum ist um einen neuen, tierischen, Akteur reicher geworden.

Ob die Kuh sich darüber gefreut hat, ist nicht bekannt, aber die Verantwortlichen beim WDR wahrscheinlich schon. Ausgehend von einer Umfrage, laut der drei von vier Befragten angeblich nicht wissen, dass eine Kuh erst ein Kalb zur Welt bringen muss, um Milch geben zu können, entstand im Herbst 2017 beim Sender die Idee, die Milchherstellung, und wie es den Tieren dabei ergeht, zu thematisieren.

‘Frag die Kuh doch selbst’, müssen sich dann die beauftragten Journalist*innen gedacht haben und gaben der Kuh die Instrumente, um ihr eigenes Tagebuch zu führen, gleich selbst in die Hand – oder besser gesagt ins Maul. Heraus kam eine Geschichte über das Leben einer Kuh aus einer neuen Perspektive – nämlich ihrer eigenen.

Sensoren und Chatbots machen’s möglich

Ein Pedometer und ein abgeschluckter Sensor ermittelten über einen Zeitraum von vier Wochen Daten aus dem Tagesablauf von insgesamt drei Kühen – Emma, die Kuh von einem Familienbetrieb, Uschi, die ‘Bio-Kuh’, und die Kuh Connie vom Großhof. Zu den erfassten Daten zählten Körper- und Stall-Temperatur, pH-Wert im Pansen, Trinkverhalten, Bewegungsmuster sowie die Milchleistung im Verhältnis zu dem jeweils aktuellen Milchpreis.

Ein Text-Algorithmus wandelte diese Daten in Textnachrichten um, welche mehrmals täglich per Facebook-Messenger versendet und in den sozialen Netzwerken veröffentlicht wurden. Diese Post von der Kuh kam sehr gut an und erzielte sehr hohe Interaktionsraten.

Hinzu kamen Berichte von dem täglichen Besuch eines WDR-Redakteurs sowohl online auf https://superkuehe.wdr.de als auch durch regelmäßige Beiträge im ARD-Morgenmagazin, in der WDR-Servicezeit und in Radiobeiträgen auf WDR 2 und WDR 5. Auch Spiegel Online begleitete das Projekt mit eigenen Recherchen zur Milchwirtschaft in Deutschland. Live-Bilder aus dem Stall ergänzten die Berichterstattung.

Gefördert wurde das Projekt durch das Medienboard Berlin-Brandenburg sowie die Schweizer Stiftung für Medienvielfalt und erreichte insgesamt rund 4 Millionen Nutzer.

„Innovativ sind sowohl Recherche als auch Darstellung des Themas. Eine spielerische Webseite lädt zum Ausprobieren ein. Sie offenbart statt Meinungen handfeste Daten. Diese werden in Videos, Grafiken und anderen Formaten präsentiert. Aber die Präsentation ist nicht nur faktenreich und informativ, sie macht auch einfach Spaß“, so Laudator Peter Esser, Vorstandsvorsitzender des Ernst-Schneider-Preises.

Hinter dieser ersten multimedialen ‘Sensorstory’ steht das Unternehmen Sensorreporter GbR. Die Sensorreporter*innen haben sich zum Ziel gesetzt, neue Formate im Bereich des so genannten ‘sensorgestützten Storytellings’ zu entwickeln. Das von ihnen entwickelte technische System ist jedem frei zugänglich. Die Hardware ist offen und die Software steht unter MIT Opensource-Lizenz.

Nach sprechenden Kühen: sprechende Fernseher

Das nächste Projekt von Sensorreporter war schrottfernseher.de. Dahinter stand die Frage, was mit den großen Mengen an Elektroschrott geschieht, die nicht im deutschen Recyclingsystem auftauchen. Und ob trotz des Exportverbots von ausgedienten Elektrogeräten in Nicht-OECD-Staaten, die Entwicklungsländer nicht doch zur Müllhalde für westlichen Abfall werden.

Die Journalist*innen versteckten so einen GPS-Sender in einem defekten Röhrenfernseher und überließen diesen einem Schrotthändler. Anschließend wurde während der darauffolgenden 77 Tagen seine Fährte aufgenommen, welche vom Hamburger Hafen am Ende bis nach Ghana führte. Dort haben die Journalist*innen ihr Gerät tatsächlich dann auch vorgefunden und es wieder zurückgekauft.

Gefördert wurde schrottfernseher.de von der Rudolf Augstein-Stiftung, von der Crowdfunding-Plattform krautreporter, in Kooperation mit ARTE und Die Zeit.

Aber selbst einfache Umweltdaten bieten sich zur journalistischen Bemessung und Aufarbeitung an. Bereits 2008 hat Associated Press (AP) mit dem Spatial Information Design Lab der Columbia University ein Messverfahren entwickelt, um die Luftqualität während der Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking zu messen und darüber zu berichten.

Abgrenzung zwischen Daten- und Sensorjournalismus

Anders als im Datenjournalismus (cf. forum Nr. 384) wird im Sensorjournalismus keine Story über bereits existierende Daten geschrieben, sondern die Datensammlung wird erst wegen der angestrebten Geschichte aufgenommen.

Unterstützt wird die Entwicklung des Sensorjournalismus durch die Demokratisierung der digitalen Automatisation. Die Sensoren schrumpfen sowohl hinsichtlich des Preises als auch ihrer Größe. Auch der Aufwand, der mit ihrer Inbetriebnahme und Vernetzung verbunden ist, wird kontinuierlich geringer. Das Maker Movement und die Open-Source-Bewegung begünstigen den Zugang zu Microcontroller-Plattformen wie Arduino, sowie den unzähligen technischen Möglichkeiten, die sie bieten. Diese neuen technischen Bedingungen werden mittelfristig so manch ethische und datenschutzrechtliche Fragen mit sich bringen, insbesondere was die sensorielle Überwachung des öffentlichen Raumes betrifft.

Und schlussendlich darf nicht vergessen werden, dass auch eine scheinbar neutrale Messung nicht automatisch ein objektives Gesamtbild ergibt. Die Auswahl der gemessenen Kriterien kann gar mehr über den Journalisten als über die studierte Situation aussagen, etwa dann, wenn die Lebensqualität einer Kuh anhand ihrer Milchleistung erfasst werden soll.

 

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